#20 Jemand Neues kennenlernen [Teil 2]


Freitag, 13. Oktober - 20:03 Uhr

Wieso ich nicht nach Hause gegangen bin, als Hannah zu ihrem Date mit Leo gestartet ist, kann ich mir selbst nicht so genau erklären. Ich hatte das Gefühl, dass durch die Aussprache mit Anton ein Teil von mir wieder erweckt wurde. Ich habe es früher nämlich geliebt, das Wochenende mit einem Cocktail und in netter Gesellschaft einzuläuten und heute hatte ich das erste Mal seit Langem das Gefühl, dass es ein netter Abend werden könnte - obwohl Hannah früher ging, als erhofft.

Jay hatte sich an meine Ecke des Tresens verschanzt, um hier die eingehenden Cocktail-Bestellungen abzuarbeiten. Ich hatte mir inzwischen ein paar Pommes bestellt und eine Cola gegen den Durst.

Jay und ich haben uns in der letzten Stunde über viele verschiedene Dinge unterhalten. Unsere Gesprächsthemen waren zwar allesamt belanglos, doch erschien mir unser Gespräch sehr bedeutsam. Seit einer Ewigkeit konnte ich endlich wieder ungezwungen mit jemandem über alles und nichts sprechen, ohne Angst zu haben, ich könnte langweilig wirken.

"Jay, das Bier ist alle! Könntest du aus dem großen Lager ein neues Fass holen?" Jay drehte sich zu seinem Arbeitskollegen um und nickte ihm knapp zu. "Kannst du Tim inzwischen noch eine Cola machen?" Dann wandte er sich an mich: "Bin gleich wieder da."

Kurz später stand Jays Arbeitskollege mit meiner Cola vor mir und stellte sie mit einem Lächeln ab. "Ich bin übrigens Jesse."

Im ersten Moment war ich etwas überrascht, als Jesse mir seine Hand über den Tresen entgegen streckte. Jesse war etwa Ende 20 und ich vermutete südländische Wurzeln. Seine langen, dunkelbraunen Haare hatte er zu einem Dutt gebunden. Mir war vorhin gar nicht aufgefallen, wie gut er aussah. Mit einem freundlichen Zahnpastalächeln wartete er geduldig, bis ich mich gefangen hatte und seine Hand zur Begrüßung ergriff.

"Hi... Ich bin Tim!"

"Freut mich, Tim! Bist du ein Freund von Jay?"

"Ja... naja, eigentlich von Hannah, um genau zu sein."

"Bist du heute das erste Mal hier?"

"Hier...", ich sah mich demonstrativ um, "schon, ja. Meistens war ich im Café."
"Deswegen habe ich dich hier noch nie gesehen." Wieder lächelte er mir zu und ich hatte das Gefühl, als ob Jesse mit mir flirtete. Aber da ich schon etwas aus der Übung war, konnte ich das nicht mit absoluter Sicherheit sagen.

Jay kam mit einem Bierfass auf der Schulter hinter den Tresen und ging mit einem Blick in unsere Richtung, den ich nicht ganz deuten konnte, an uns vorbei. Er stellte das Bierfass vor der Zapfsäule ab und begann es anzuschließen.

"Schade!"

Fragend wandte ich mich wieder Jesse zu.

"Na, dass wir uns erst jetzt kennenlernen." Er krempelte sich die Ärmel seines weißen Hemdes hoch. Darunter kamen zahlreiche Tattoos auf seinen muskulösen und braun gebrannten Armen zum Vorschein. Mein Blick blieb etwas länger darauf hängen, als beabsichtigt.

Jesse schmunzelte. "Gefallen sie dir?"

"Oh, sorry! Ich wollte nicht starren." Ich spürte, wie mir Hitze ins Gesicht schoss und wandte meinen Blick beschämt ab. Dabei bemerkte ich, wie auch Jay in unsere Richtung schielte, was den Moment noch peinlicher machte, als ohnehin schon.
Jetzt lachte Jesse laut auf. "Kein Ding, das bin ich mittlerweile gewohnt." Er kam näher und legte seine Arme auf dem Tresen ab. "Das hier ist mein Neustes. Das habe ich mir erst letzten Monat stechen lassen." Mit dem Finger deutete er auf das Schlangen-Tattoo. Eine Cobra schlängelte sich einmal um den Unterarm herum und blickte direkt auf den Betrachter.
"Da es noch nicht ganz verheilt ist, spürt man sogar noch die Stiche. Willst du Mal fühlen?"

"Hey, Jesse?", Jay stand plötzlich neben seinem Kollegen. "Das Bierfass ist angeschlossen. Ich gehe jetzt in die Pause, das passt doch, oder?" Seine Stimme klang schroff und leicht genervt. Ich war etwas überrascht, dass der sonst so freundliche Jay anscheinend einen plötzlichen Stimmungswechsel hatte.

"Alles klar!", nickte Jesse ihm zu, doch Jays Blick war auf mich gerichtet.
"Tim, kommst du mit?"

Jays Miene hellte sich etwas auf, als ich nickte und langsam von meinem Hocker aufstand. "Bis später, Jesse!"


***

"Und du warst noch nie hier?" Jay stützte seine Arme auf das Geländer der Dachterrasse des Lokals.

Ich schüttelte den Kopf und machte es ihm gleich. Über den Dächer der Stadt blickten wir auf diese herab. Die Landschaft vor uns wurde in ein dunkles Blau getaucht. Es war beinahe Neumond. Nur als Strich zeigte sich der Himmelskörper heute zwischen den hellen Sternen. Wie friedlich doch alles wirkte. Einzelne erhellte Räume fügten sich in das Gesamtbild ein und zeugten von Leben in dieser beinahe lautlosen Nacht. Ich atmete die kalte Herbstluft ein und schloss dabei für ein paar Sekunden meine Augen. Ich genoss die Stille. Für einen Augenblick vergaß ich alle Ereignisse des heutigen Tages. Ich wünschte, ich könnte die Zeit anhalten - nur für ein paar Minuten - um meine aktuelle innere Ruhe noch eine Weile länger genießen zu können. Noch einmal atmete ich tief durch, bevor ich meine Augen wieder öffnete. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Jays Blick auf mich gerichtet war. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Ein Lächeln, das ich nicht so recht deuten konnte.

"An was denkst du gerade?", fragte er.

Ohne den Blick von der Kulisse abzuwenden, antwortete ich ihm: "An nichts! An absolut gar nichts!" Und du hast gar keine Ahnung, wie schön sich das anfühlt, fügte ich in Gedanken hinzu. "Und du?" Ich drehte meinen Kopf in Jays Richtung und sah, dass er mich noch immer anschaute.

Er zuckte mit den Schultern. "Ich weiß nicht, ob ich dir das verraten sollte..."

"Vertraust du mir etwa nicht?", witzelte ich und runzelte meine Stirn, was Jay erneut ein Lächeln entlockte.

Dann wandte er seinen Blick ab. "Doch, das ist es nicht... Aber du scheinst mir nicht zu vertrauen..."

"Wie kommst du denn darauf?" Verwirrt musterte ich ihn. Ich hatte ihm bereits so viel von meinem Leben erzählt, wie kam er also darauf, dass ich ihm nicht vertraute?

"Na, du besitzt eine geheime Liste, von der ich nichts wissen darf." Gespielt beleidigt setzte er einen Schmollmund auf - was bei Jay, zugegebenermaßen, sehr lustig aussah.

Ich lachte auf. "Dich interessiert echt, was auf meiner langweiligen Liste steht?"
"Ja!" Er drehte sich um und lehnte nun mit dem Rücken ans Geländer.

"Warum?", fragte ich ehrlich interessiert. Ich war mir zwar immer noch unsicher, ob es eine gute Idee war Jay die Liste zu zeigen, dennoch war ich verwundert, dass Jay überhaupt aufrichtiges Interesse daran hatte.

Er steckte seine Hände in die Hosentaschen und zuckte wieder mit den Schultern, ehe er antwortete: "Ich finde die Idee cool, dass du dich selbst herausforderst und dich motivierst deine Komfortzone zu verlassen. Ich habe mir gedacht, vielleicht hast du Lust auf Unterstützung... oder anders gesagt... auf Gesellschaft?" Noch bevor ich antworten konnte, setzte Jay nach: "Da wäre die Motivation wahrscheinlich größer, wenn du das alles nicht alleine bewältigen musst. Aber das war nur so eine Idee..."

Ich überlegte kurz. Jay hatte mich überzeugt. "Weißt du was, du hast Recht, aber..." Vorsichtig zog ich die Liste aus meinem Portemonnaie.

"Aber was?"

"Aber es ist wirklich keine besonders spannende Liste. Versprich mir nicht zu lachen!"

"Würde ich nie tun!", antwortete er amüsiert.

"Wehe...", warnte ich ihn, bevor ich ihm zögerlich meine Liste überreichte.

Vorsichtig faltete er den Zettel auseinander und las sich die Challenges darauf gründlich durch. Ein paar Punkte, las er dabei laut vor. "Punkt 18: Etwas Verrücktes machen:.. Was verstehst du unter verrückt?" Er senkte den Zettel, sodass er mir in die Augen schauen konnte. Diesmal zuckte ich mit den Schultern. "Weiß ich noch nicht. Etwas Verrücktes eben. Etwas, das ich unter normalen Umständen nicht machen würde..."
"... wie Bungee-Jumping?"

"Ja, sowas in der Art - aber etwas, das ohne Höhe und Springen zu tun hat!", lachte ich.

Jay nickte und las weiter. "Punkt 19: Motorrad fahren, sollte nicht so schwierig sein. Punkt 20: Jemand Neues kennenlernen... Wieso ist das noch nicht durchgestrichen? Ich meine..." Er räusperte sich, zeigte mit dem Zeigefinger auf sich und grinste.
"Das ist eine gute Frage, du hast recht. Das könnte ich eigentlich abhaken." Während ich in meiner Geldtasche nach dem Mini-Bleistift kramte, den ich extra für die Liste dort deponiert habe, zog Jay sein Handy aus der Hosentasche und fotografierte meine Liste ab.

"Hey!", versuchte ich zu protestieren, aber da war es schon zu spät.

"Für den Fall, dass sie verloren geht!", zwinkerte Jay mir zu und gab mir die Liste zurück. "Lass uns doch gleich an Punkt 13 arbeiten! Ich zaubere dir einen Cocktail, der dich vom Hocker hauen wird."

Schnell strich ich Punkt 20 von der Liste. "Klingt nach einer Idee!"

"Na dann los!" Jay drückte sich vom Geländer ab und setzte sich langsam in Bewegung. Als wir die Eingangstür erreichten, blieb er kurz stehen. Bevor wir wieder eintraten, drehte er sich noch einmal zu mir: 

"Lass mich wissen, wenn du Punkt 25 von der Liste streichst!"

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