#15 Alleine ins Café gehen
Mittwoch, 27. September - 17:21 Uhr
"Eine große, heiße Schokolade, bitte", sagte ich lächelnd und senkte dann den Blick auf meine Hände. Was sich die Bedienung wohl denken wird? Ich fühlte mich unwohl und kurz war ich versucht einfach aufzustehen und das Café zu verlassen, erinnerte mich dann aber an die Absicht, mit der ich hier saß.
Jeder Tag vergeht zurzeit viel zu schnell und ohne, dass wir überhaupt realisieren, wie wir ihn verbringen. Wir leben viel zu häufig in den Tag hinein, anstatt diesen bewusst wahrzunehmen und zu leben. Das liegt daran, dass wir in eine gewisse Routine verfallen sind - da wir tagtäglich immer dasselbe tun und nichts Neues mehr erleben. Deshalb wurde eine neue Challenge ins Leben gerufen: die 30-Tage-Challenge. Sinn ist es, einen Monat lang jeden Tag irgendetwas zu machen oder zu erleben, was man noch nie (oder nur selten) zuvor gemacht hat. So oder so ähnlich stand es in dem Blog, den meine beste Freundin Hannah mir mit den Worten "Komm, lass uns das doch beide Mal versuchen", empfohlen hat.
Die 30 Dinge waren bald gefunden, da ich generell eher jemand bin, der viele Dinge machen möchte, aber leider die wenigsten davon auch tatsächlich macht. Ich gehe eben gern auf Nummer sicher. Deshalb habe ich bislang von den 30 Dingen, die ich gelistet habe, genau zwei gemacht:
#03 Mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren.
Als ich komplett aus der Puste, mit Seitenstechen - ja, vom Fahrradfahren - und völlig verschwitzt dort angekommen bin, beschloss ich: Nie wieder!
#21 Einen Instagram-Account erstellen.
Dazu hat mich Hannah angestiftet. Sie meinte, ich wäre bestimmt der einzige 19-Jährige auf der ganzen Welt, der nicht auf Instagram ist. Deshalb war dieser Punkt laut ihr ein Muss auf meiner Liste. Direkt nachdem ich es auf die Liste gesetzt habe, hat sich meine Freundin mein Handy geschnappt und einen Insta-Account für mich eingerichtet. Als Profilbild hat sie das einzige einigermaßen passable Foto von mir - mit meinem Labrador-Golden Retriever Mischling - gesetzt.
Natürlich hat sie sich auch sofort selbst eine Follower-Anfrage geschickt, bevor sie mir mein Handy zurückgegeben hat. Wie man sein Profil auf Privat stellt, habe ich zum Glück schnell herausgefunden und da das Ziel ja nur war, ein Konto zu besitzen, ist Hannah auch bis heute meine einzige Followerin - und sie die Einzige, der ich folge... gezwungenermaßen sozusagen. Aber zugegeben, die Memes und Videos, die sie mir tagtäglich schickt, sind recht unterhaltsam.
Und nun konnte ich einen weiteren Punkt auf der Liste abhaken:
#15 Alleine ins Café gehen.
Deshalb saß ich nun also alleine in unserem Stammcafé und wartete auf meine heiße Schokolade, da es mir für Kaffee jetzt, nach Feierabend, einfach zu spät war.
Den Fakt, dass ich jeden Tag etwas von dieser Liste machen sollte, ignorierte ich heute, am 27. Tag der Challenge, gekonnt. Ich habe mir mittlerweile vorgenommen, die Liste bis Ende des Jahres abzuarbeiten.
An dieser Stelle sollte ich vielleicht erwähnen, dass ich mich nur dazu bereit erklärt hatte, diese "30-Tage-Challenge" zu versuchen, da ich die Hoffnung habe, dadurch meine soziale Angst etwas in den Griff zu bekommen. Diese 30 Punkte auf der Liste sind also so eine Art Konfrontationstherapie, zumindest die meisten Punkte auf dieser Liste. Deshalb ist es auch völlig okay, wenn ich mir dafür so viel Zeit nehme, wie ich eben brauche, finde ich.
Die Bedienung, etwa Mitte Zwanzig, stellte die Tasse vor mir ab.
"Danke!", entgegnete ich freundlich und nahm gleich einen Schluck. Dabei verbrannte ich mir natürlich sofort meine Zunge. Das ist ja Mal wieder typisch ich - als hätte ich vergessen, dass es "heiße" Schokolade heißt. Vorsichtig stellte ich die Tasse wieder ab und griff nun doch nach meinem Handy. Ich machte ein Selfie von mir und meinem dampfenden Heißgetränk und sendete es an Hannah. Ich fügte hinzu: #30TageChallenge - Wieder einen Punkt abgehakt.
Ihre Antwort, die nur so vor Sarkasmus triefte, ließ nicht lange auf sich warten. "Du bist aber schnell unterwegs. Wenn du so weiter machst, schaffst du es doch glatt innerhalb dieses Jahres damit fertig zu werden." Und direkt im Anschluss folgte auch schon eine zweite Nachricht meiner Freundin: "Aber jetzt, wo du diesen Punkt schon mal abhaken kannst, kann ich ja vorbei kommen. Ich muss nämlich was Wichtiges mit dir besprechen."
Auch wenn ich wusste, dass das eigentlich nicht ganz dem Reglement entspricht, war ich froh darüber, dass meine Freundin mich aus dieser ungewohnten und unbehaglichen Situation rettete. Ich schickte ihr ein Emoji und holte anschließend rasch meine Liste aus meinem Portemonnaie, um den Punkt abzuhaken. Ja, die Liste ist doch tatsächlich ganz altmodisch mit Stift auf Papier geschrieben und nicht als digitale Liste auf meinem Handy gespeichert. Hannah meinte, das muss so. Eine Notiz auf dem Handy könnte man nämlich einfach so löschen, aber wenn extra ein Baum im Regenwald gefällt wird, um das Stück Papier herzustellen, auf dem diese Liste niedergeschrieben ist, dann muss man sich einfach daran halten, ansonsten wäre es absolute Papierverschwendung. Mit diesem Argument hatte sie mich natürlich sofort überzeugt.
Ich faltete das Blatt auseinander und holte einen Stift aus meiner Tasche. Ich strich Punkt 15 sorgfältig durch und schrieb das Datum daneben, als kleiner Reminder, sozusagen. Drei Dinge habe ich schon geschafft, bleiben noch 27. Ich griff nach meiner Tasse, pustete zwei, drei Mal und nahm noch ein paar Schlucke, während ich einen Blick auf meine bunt zusammengewürfelte 30 Tage To-Do-Liste warf:
30 Things to do
#01 Schokolade essen, bis ich Bauchweh habe
#02 Meinen Chef überzeugen, auf Recyclingpapier umzusteigen
✓ #03 Mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren - (erledigt am: 18. September)
#04 Etwas Neues lernen
#05 Die Sterne zählen
#06 Ein Buch lesen
#07 Im Park Enten füttern
#08 Ein Picknick machen
#09 Einen Tag ohne elektrische Geräte
#10 Spa-Day
#11 Eine Wandertour machen
#12 Sushi essen
#13 Einen neuen Cocktail testen
#14 Ein edles Restaurant besuchen
✓ #15 Alleine ins Café gehen - (erledigt am: 27. September)
#16 Mein Zimmer umdekorieren
#17 Verreisen
#18 Etwas Verrücktes machen
#19 Motorrad fahren
#20 Jemand Neues kennenlernen
✓ #21 Einen Instagram-Account erstellen - (erledigt am: 01. September)
#22 Auf eine Party gehen
#23 Eine neue Haarfarbe
#24 Anton meine Meinung sagen
#25 Über Anton hinwegkommen
#26 Tattoo
#27 Karaoke singen
#28 Einen Fremden küssen
#29 Auf ein Date gehen
#30 Hannah auf eine Pizza einladen
Den letzten Punkt hat Hannah ergänzt, als mir die Ideen ausgingen - war natürlich nicht ganz uneigennützig.
Jetzt, wo ich mir die Liste nochmal so anschaute, fiel mir auf, dass einige Punkte schon etwas übertrieben waren. Da war ich doch etwas übermütig - vor allem was die Punkte 23, 26, 27 und 28 betrifft. So radikal muss ich nun auch wieder nicht aus meiner Komfortzone ausbrechen.
"Vielleicht sollte ich die doch löschen und durch etwas Einfacheres ersetzen..."
"Das kommt gar nicht in Frage, Tim!" Ich zuckte erschrocken zusammen. Hannah fischte sich im Vorbeigehen meine Liste vom Tisch und schwang sich lässig auf den Stuhl mir gegenüber.
"He, Hannah! Gib mir das zurück!" Instinktiv griff ich nach dem Blatt, aber Hannah lehnte sich schnell im Stuhl zurück, sodass meine Hand am Blatt vorbei griff. "Zu langsam, Timmy", neckte mich meine Freundin. Timmy ist der Spitzname, den sie mir verpasst hat, weil ich laut ihr anscheinend so aussehe, als wäre ich der Zwillingsbruder von Timothée Chalamet. Ich finde aber, sie übertreibt... und außerdem sind meine Augen nicht grün, sondern blau. Also übertreibt sie nicht nur, sondern sie liegt sogar total daneben.
"Hannah!", schimpfte ich mit strenger Stimme. Aber anstatt mich anzuschauen, überflog sie meine Liste. "Wolltest du nicht etwas mit mir besprechen?", versuchte ich erneut, ihre Aufmerksamkeit von der Liste abzulenken.
"Ha!" Sie zeigte auf das Blatt. "Hatte ich es also noch richtig in Erinnerung. Ich habe eine gute Nachricht für dich. Du kannst gleich einen weiteren Punkt von deiner Liste streichen. Wir sind am Wochenende nämlich auf eine Party eingeladen!"
Ich schnappte nach Luft. Wie konnte Hannah nur "eine gute Nachricht" und "Party" in ein und demselben Atemzug aussprechen. Sie wusste genau, dass die meisten Punkte auf dieser Liste eine echte Herausforderung für mich darstellten und eine Party war da ganz weit vorne mit dabei.
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