#09 Einen Tag ohne elektrische Geräte
Mittwoch, 01. November – 08:24 Uhr
"Was ist passiert?", ist das erste, das ich meine Freundin sagen hörte, nachdem ich ihr die Haustür geöffnet hatte. Hannah drückte mir die frischen Brötchen, die sie eben beim Bäcker geholt hatte, in die Hand und nahm mich in den Arm.
Nachdem Anton mir gestern verkündet hatte, dass Jay und er sich nicht nur schon länger kannten, sondern dass Jay anscheinend auch noch an Antons und meiner Trennung schuld war, habe ich die beiden ohne ein Wort stehen lassen und bin aus dem Five Stars gestürmt. Für einen Moment hatte ich die Hoffnung, dass Jay mir folgen und erklären würde, dass das alles ein Missverständnis sei. Aber es kam niemand. Ich war sauer und enttäuscht gleichermaßen. In einem Moment war noch alles gut und im nächsten Moment war mir, als ob mir jemand ein Messer in den Rücken gerammt hatte. Konnte ich mich so in Jay täuschen? Und wieso konnte Anton mich nicht einfach in Ruhe lassen? Ich wollte so dringend Antworten auf diese Fragen, aber gleichermaßen wollte ich mich den Antworten gestern Abend nicht mehr stellen. Dass es nicht gerade reif war, vor herausfordernden Situationen davonzulaufen und dass ich mich irgendwann damit auseinandersetzen musste, war mir klar, aber gestern war ich dazu einfach nicht in der Lage. Also schrieb ich Hannah eine knappe Nachricht und rief kurzerhand ein Taxi.
"Komm erstmal rein. Ich erzähl dir alles beim Frühstück!" Den Küchentisch hatte ich bereits gedeckt und alles für unseren Brunch parat gestellt. Was noch gefehlt hatte, waren die frischen Brötchen und meine beste Freundin, die sich nun mir gegenüber setzte.
"Kaffee?"
Hannah nickte und ich machte mich daran, eine Kanne Kaffee aufzusetzen.
"Für nachher habe ich alles dabei." Sie hob ihre Stofftasche demonstrativ an. "Verschiedene Peelings, Hand-, Fuß- und Gesichtsmasken, Haarmasken und das Wichtigste: Schokolade. Eine Menge Schokolade sogar. Ach ja und ein paar Klatschzeitschriften, aus denen wir uns unser Horoskop vorlesen und Rätsel ausfüllen können." Hannah wirkte ehrlich begeistert. "Zugegeben, ich war gestern schon etwas überrascht, als du plötzlich nicht mehr da warst und deine Nachricht klang auch nicht sonderlich beruhigend. Naja, bis auf den Spa Day, damit kriegst du mich immer." Sie lachte auf. "Du wirst sehen, das wird dir gefallen!", versicherte mir meine Freundin, die mich schon seit einer Weile zu einem Wellnesstag überreden wollte.
"Hauptsache ich bin abgelenkt!", ich zog meine Mundwinkel nach oben und stellte die Kaffeekanne mit dem frisch gebrühten Kaffee in die Mitte des Tisches. Bevor ich mich setzte, fischte ich noch den Zucker aus der Schublade und stellte ihn vor Hannah ab. Mittlerweile wusste ich, dass Zucker die Grundlage von Hannahs Kaffee bildete.
"Okay, jetzt erzähl! Ich MUSS wissen, was da gestern vorgefallen ist!"
Ich beäugte ihre Tasse, als Hannah zweieinhalb Teelöffel Zucker in ihre Tasse schöpfte und ihn mit Kaffee ertränkte. Mir war es bis heute ein Rätsel, dass jemand mit so einem Kaffeegeschmack in einer Bar arbeiten und anderen Leuten ihren Kaffee zubereiten durfte. Vielleicht sollten Barbetreiber alle Mitarbeiter beim Vorstellungsgespräch zu einem Kaffee einladen...
"Tim!"
"Was?"
"Spann mich doch nicht so lange auf die Folter!"
"Sorry, war kurz... abgelenkt!" Ich schielte auf ihre Tasse, aber sie schien die Anspielung nicht zu bemerken. Ich seufzte. "Was soll ich groß sagen? Ich glaube, das Meiste hast du sowieso schon mitbekommen."
"Nein, bitte erzähl von vorne, ich habe nämlich gefühlt NICHTS mitbekommen. Die blöde Schlange vor der Mädchentoilette hat mir den halben Abend vermiest. Kannst du mir erklären, wieso bei der Mädchentoilette immer - und ich meine wirklich IMMER - anzustehen ist? Ist ja nicht so, als ob wir länger für den Toilettengang brauchen. Zumindest kann ich mir nicht vorstellen, dass das zu so einer langen Schlange führt, wo doch bei der Männertoilette fast nie jemand warten muss."
"Ich habe mal gelesen, dass es daran liegt, dass sich die meisten Männer nach dem Toilettengang nicht die Hände waschen."
Hannah verzog das Gesicht und ihr Blick wanderte auf meine Hände. Schnell hob ich sie abwehrend.
"Ich wasche mir IMMER meine Hände, nur um das klarzustellen." Aber wenn ich so darüber nachdachte, konnte das tatsächlich stimmen. Manche Männer sahen das mit der Hygiene anscheinend nicht ganz so eng. "Vielleicht solltest du Leo etwas im Auge behalten", neckte ich sie.
Wieder zog sie eine Grimasse. "Hör auf! Ich mag mir das gar nicht vorstellen. Und außerdem sind wir beim Essen, dann sollten wir nicht über sowas sprechen!"
"Wer hat denn mit dem Thema angefangen?", lachte ich.
"Ich wollte eigentlich nur sagen, zuerst habe ich dein Duett mit Jay verpasst und auf einmal stand dann Anton an unserem Tisch. Und dann warst du plötzlich weg und Jay hat sich beinahe mit Anton geprügelt. Leo und ich konnten uns nicht mehr erklären, was da eigentlich genau los war. Ich kann verstehen, dass du vor Anton flüchten wolltest, aber was war denn mit Jay?"
"Jay hat sich mit Anton geprügelt?"
"BEINAHE!", betonte sie. "Er schien sehr aufgebracht und hatte eine hitzige Diskussion mit Anton, bevor dann auch er gegangen ist. Ich glaube deine plötzliche Flucht und die Auseinandersetzung mit Anton hat ihn schwer beschäftigt. Überhaupt, wie geht es dir eigentlich? Ach Mensch, Tim! Ich...", sie hielt inne. "Sorry, ich bin die ganze Zeit am Quatschen und eigentlich wollte ich vor allem hören, wie es dir geht und wie ich dir helfen kann." Hannah zog ihre Lippen zusammen und fuhr mit Zeigefinger und Daumen darüber, als ob sie mit einem Reißverschluss ihre Lippen versiegeln wollte. "So, ich bin jetzt still und lass dich erzählen!"
Ich umklammerte mit beiden Händen meine Tasse und nahm einen Schluck meines Milchkaffees.
"Naja, alles war perfekt. Jay und ich sind uns vor unserem gemeinsamen Auftritt irgendwie näher gekommen. Als er mir die Tattoos aufgeklebt hat, hatte ich das Gefühl... als ob... naja, ich weiß nicht... als ob da was zwischen uns ist. Ich war so glücklich und energiegeladen, dass der Karaoke-Auftritt auf einmal gar nicht mehr so herausfordernd wirkte, solange Jay an meiner Seite war. Und dann kam plötzlich Anton zur Tür herein. Ich versuchte ihn zu ignorieren, was mir erstaunlich gut gelang. Doch dann ging Anton schnurstracks auf unseren Tisch zu. Wie sich herausstellte, war er Leos Freund - du weißt schon, der Freund, der sich gestern von seiner Freundin getrennt hatte. Und während sich diese Puzzleteile in meinem Kopf zusammensetzten, erfuhr ich, dass Jay und Anton sich anscheinend bereits seit Langem kennen."
"Im Ernst?" Jetzt umklammerte auch Hannah ihre Tasse.
"Ich habe mich gefragt, wieso er nichts gesagt hat, immerhin hatte er oft genug die Möglichkeit dazu. Ich habe ihm von Anton erzählt - von unserer Geschichte und unserer Trennung. Aber von Jay kam kein einziges Wort dazu. Also habe ich gestern dann Jay gefragt, ob das stimmt, dass sich die beiden bereits kannten. Er ist daraufhin meinem Blick ausgewichen und hat mir keine Antwort darauf gegeben."
"Okay, dann kann es vielleicht auch sein, dass es sich um ein Missverständnis handelt, oder?"
"Leider nein! Die Antwort auf meine Frage erhielt ich dann von Anton. Und jetzt kommt's: Jay ist anscheinend Schuld, dass Anton sich von mir getrennt hat!"
"Bitte was?!" Meine Freundin stellte geräuschvoll ihre Tasse auf dem Tisch ab. Empört schimpfte sie: "Das kann nicht sein. Das ergibt doch keinen Sinn!"
Ich zuckte mit den Achseln. "Jays Blick hat verraten, dass Anton wohl die Wahrheit gesagt hat. Zumindest dieses Mal! Und er hat es auch nicht abgestritten, also..."
"Aber wieso hat er das nicht einfach erzählt?"
"Keine Ahnung! Vielleicht weil er nicht wollte, dass ich ihn schon von Beginn an durchschaue. Wie konnte ich so dumm sein und nicht erkennen, dass ich schon wieder verarscht werde?"
"Ich denke nicht, dass Jay dich verarscht. Ich kenne ihn, sowas würde er nicht machen."
"Ich dachte auch, dass ich ihn kennen würde." Diese Erkenntnis versetzte mir einen Stich. Nach all dem Mist, den ich die letzten Monate erlebt hatte, hatte ich gelernt, einen Schutzwall um mich aufzubauen. Ich habe alles, was mich verletzen könnte, bewusst gemieden und gelernt, vorsichtiger zu sein. Und dann trat plötzlich Jay in mein Leben. Er zeigte mir, wie schön das Leben außerhalb meiner Schutzmauern sein konnte und mir war, als ob ich endlich wieder Vertrauen zu einem Menschen fassen konnte. Verdammt, ich war sogar dabei mich in Jay zu verlieben. Doch dann schlug gestern Abend diese Bombe ein und stellte alles, was wir in den letzten Wochen gemeinsam erlebt hatten, in Frage.
"Weißt du, ich habe letzte Nacht viel nachgedacht. Ich denke nicht, dass Jay mich mit Absicht verarscht hat", überlegte ich laut. "Vielleicht war er so nett zu mir, weil er ein schlechtes Gewissen hatte. Vielleicht habe ich etwas gesehen, das gar nicht da war. Ich dachte echt, dass es zwischen Jay und mir gefunkt hat und dass er es ernst meint, aber wie es aussieht, habe ich mich erneut in einem Menschen getäuscht. Hätte ich meine Schutzmauer doch bloß nicht eingerissen. Hätte ich doch bloß diese blöde Liste zerrissen. Dann..." Ich konnte und wollte den Satz nicht beenden. Ich merkte, dass ich mich wieder in einer Abwärtsspirale befand. Doch diesmal würde ich nicht warten, bis ich am Boden angekommen war. Diesmal zog ich rechtzeitig die Handbremse.
Hannah sah mich mitfühlend an. Schuldbewusst fragte sie: "Bereust du, dass du die Liste geschrieben hast?"
Ich überlegte kurz und schüttelte den Kopf. Wenn ich daran dachte, was ich in den letzten Wochen alles geschafft habe, war ich stolz auf mich. "Nein! Es war gut, dass ich meine Komfortzone verlassen habe. Das vorher war ein Leben mit ständiger Angst. Und jetzt bin ich endlich wieder glücklich. Also vielleicht nicht jetzt in diesem Moment, aber so allgemein. Ich verstecke mich nicht mehr, sondern ich lebe wieder. Leben bedeutet leider aber auch, das Risiko einzugehen, verletzt zu werden. Ich habe so viel erreicht und Jay hat mich dabei unterstützt, wofür ich ihm ehrlich dankbar bin. Bloß hätte ich gerne vorher gewusst, warum er mir geholfen hat. Bevor ich mich in ihn verliebte." Jetzt hatte ich ausgesprochen, was mir spätestens seit gestern klar war. Ich hatte mich in Jay verliebt.
"Oh Tim!", Hannah griff nach meiner Hand. "Das tut mir so leid. Wenn ich gewusst hätte, dass Leo von Anton gesprochen hatte, dann..."
"Dann hätte das auch nichts geändert. Jetzt ist es zumindest raus." Ich presste die Lippen zusammen und zuckte erneut mit den Achseln. Ich tat, als ob mir das Ganze nicht viel ausmachte, obwohl der Gedanke, dass das mit Jay alles nicht echt war, unglaublich schmerzte.
Mein Handy gab einen Ton von sich und ich schielte kurz darauf. Seit gestern Abend erreichten mich mehrere Nachrichten, sowohl von Anton als auch von Jay. Beide wollten sich mit mir treffen und mit mir sprechen. Beiden hatte ich bislang nicht geantwortet. Ich raufte mir die Haare und vergrub mein Gesicht in meinen Händen.
"Weißt du, was zu einem richtig entspannten Spa Day dazugehört?" Hannah wartete, bis ich hinter meinen Fingern hervor lugte. "Einmal nicht erreichbar zu sein! Überhaupt, steht dieser Punkt nicht auf deiner Liste?"
Ich nickte: "Punkt 9"
"Perfekt! Dann schalten wir jetzt unsere Handys aus und legen sie..." Sie sah sich kurz in meiner Küche um. Flink schnappte sie sich die braune Tüte, die vor kurzem noch die frischen Brötchen und Croissants beherbergte. "... hier hinein. Und wir schalten es erst wieder am Abend ein! Deal?"
Ich nickte erschöpft und überreichte ihr mein Handy.
"So und jetzt lass uns Brunchen, damit wir genug Energie haben, um uns danach zu entspannen!"
Ich musste lachen. "Das macht überhaupt keinen Sinn!"
"Und wie das Sinn macht. Entspannen ist anstrengend, das wirst du schon sehen!"
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