#04 Etwas Neues lernen [Teil 2]


Samstag, 21. Oktober - 15:52 Uhr

Um Punkt 15:52 Uhr stand ich vor dem Five Stars. Der Himmel war wolkenverhangen und es regnete wie aus Kübeln. Eine kalte Herbstbrise ließ mich erschauern. Mit beiden Händen umklammerte ich meinen Regenschirm. Ich stellte mich unter das Vordach und schloss ihn. Durch die großen Glastüren trat ich ein und ging direkt die Treppen nach oben ins Pub.

Der große Raum wirkte heute sehr dunkel. Aufgrund des Gewitters drang wenig Tageslicht durch die Fenster. Lediglich der Tresen war beleuchtet. Im ersten Moment war ich mir unsicher, ob ich mich nicht in der Uhrzeit vertan hatte, da ich Jay nirgends entdecken konnte. Doch dann vernahm ich aus der Küche ein Klappern.

Ich zog meine Jacke und meinen Schal aus und hing beides an die große Garderobe links vom Eingang. Dann ging ich durch den Raum direkt auf den Tresen zu.

"Jay?", rief ich vorsichtig Richtung Küche.

Ein erneutes Klappern verriet mir, dass ich ihn wohl erschreckt hatte.
"Bin gleich da!", klang es aus der Küche. Kurz darauf kam Jay vollgepackt hinter den Tresen und stellte diverse Gläser und Mixbecher vorsichtig ab.

"Du bist zu früh!"

"Ja... ähm sorry!", entschuldigte ich mich. "Ich wollte dich nicht stressen, ich kann auch draußen warten."

"Ach quatsch! So war das nicht gemeint", erklärte Jay schnell. "Ich wollte bloß alles schon hergerichtet haben. Normalerweise ist es nämlich nicht so unordentlich."

Ich lachte auf. "Kein Stress! Kann ich was helfen?"
"Du kannst nicht, du musst! Schon vergessen?", zwinkerte er mir zu. "Komm hinter den Tresen, dann zeig ich dir alles!"

Vorsichtig ging ich um den Tresen herum und schaute mich um.

"Zuerst kannst du dir hier deine Hände waschen, ich suche dir inzwischen eine Schürze." Jay deutete Richtung Waschbecken und kramte anschließend im Wandschrank, der im Eck stand.

Ich krempelte meine Ärmel hoch und wusch mir sorgfältig meine Hände. Nachdem ich sie mir abgetrocknet hatte, drehte ich mich zu Jay, der bereits mit der Schürze in der Hand hinter mir stand.

"Hier, ich helf dir!" Er legte mir die Schlaufe über den Kopf. Wie automatisch drehte ich mich um, sodass er mir hinten eine Schleife binden konnte. "Passt es so?"

"Mhm!", nickte ich.

"Super, dann kann es ja losgehen. Ich zeige dir zuerst die wichtigsten Werkzeuge."

Jay führte mich zum anderen Ende des Tresens, wo er bereits alles hergerichtet hatte. Nach und nach erklärte er mir, wie die Utensilien heißen und wozu man sie verwendet.
"Den Cocktail Shaker kennst du wahrscheinlich schon. Das ist eigentlich das Wichtigste und vermutlich auch das spannendste Werkzeug zum Cocktail mixen. Hier gibt es verschiedene Modelle, einmal mit eingebautem Sieb, oder aber, du kannst zum Shaken direkt ein Glas oder einen anderen kleinen Becher dazu nehmen. Wir bleiben heute aber bei dem einfachen Shaker, mit Schraubverschluss. Den kleinen Messbecher hier, bezeichnet man als 'Jigger', damit lassen sich die Mengen der verschiedenen Zutaten messen. Die kleine Seite umfasst 2cl, die größere Seite 4cl. So das war eigentlich schon das Wichtigste. Je nachdem, ob der Cocktail geschüttelt oder gerührt wird, braucht man noch diesen Mischlöffel oder eben nur den Shaker. Und zu guter letzt, die Eiswürfelzange." Nacheinander zeigte mir Jay die verschiedenen Barwerkzeuge, während er sie mir geduldig erklärte. "Alles verstanden bis hierher?"

Ich nickte. Zwar war ich mir nicht mehr sicher, wie die einzelnen Fachausdrücke für die Gegenstände lauten, aber ich hatte im Wesentlichen ihre Funktion verstanden.

"Perfekt! Je nach Cocktail braucht es dann natürlich noch das passende Glas, aber das zeige ich dir dann nachher. Dann lass uns gleich mit deinem ersten Cocktail starten. Gibt es einen speziellen Cocktail, den du machen möchtest?"

"Was ist denn dein Lieblingscocktail?"

"Ich persönlich mixe sehr gerne einen Piña Colada, oder auch einen Virgin Colada."

"Klingt gut!"

Jay reichte mir einen durchsichtigen Behälter mit Eiswürfeln. "Bei einem Shake-Cocktail starten wir immer mit Eiswürfel. Dadurch vermischen sich die verschiedenen Säfte beim Shaken noch besser und vor allem beim Piña Colada wird das Getränk schaumig. Oder ich würde in unserem Fall mit einem Virgin Colada starten. Macht vielleicht Sinn zuerst mit was Alkoholfreiem zu beginnen, wir haben nämlich noch ein paar Cocktails vor uns."

Ich greife nach der Eiswürfelzange und befördere damit ein paar Eiswürfel vom Behälter in den Aluminiumbecher. Es dauerte meines Erachtens zwar unnötig lange, bis ich die Eiswürfel mit der Zange zu greifen bekam und normalerweise hätte ich dafür meine Finger benutzt, aber ich wollte Jay zeigen, dass ich das Ganze ernst nehme. "Genug?"

"Ja, drei bis vier Eiswürfel reichen hier völlig aus. Jetzt brauchen wir 12cl Ananassaft. Hier...", er reichte mir den frischen Saft. Für einen Moment überlegte ich, wie ich die 12cl am Besten abmessen sollte. Unsicher blickte ich mich um. Jay wartete geduldig und ließ mich in meinem Tempo selbst darauf kommen. Dann erinnerte ich mich an den Messbecher, der richtige Name dafür war mir entfallen, aber ich konnte mich noch an die Hohlmaße erinnern. Also füllte ich die größere Seite mit Ananassaft und schüttete ihn in den Becher. Das ganze wiederholte ich noch zweimal.

"Super! Jetzt nochmal die gleiche Menge an Kokosmilch!" Jay stellte die Kokosmilch vor mir ab und ich machte mich sofort daran, sie abzumessen.

"Und jetzt noch 2 cl Sahne und einen Schuss Zitrone."

Abschließend reichte er mir den Deckel und ich begann das ganze kräftig zu schütteln. Bei Jay sah es immer so mühelos aus, jedoch war es anstrengender als gedacht.

"Ein Piña Colada wird immer in so einem großen Glas serviert", erklärte er mir, als er das Glas vor mir abstellte. "Zuerst füllst du das Glas bis etwa zur Hälfte mit Eiswürfel, oder auch Crushed Ice, wie du magst."

Ich entschied mich für Crushed Ice und füllte es mit dem Schöpfer in das Glas um. Das klappte viel unkomplizierter, als die Eiswürfel mit der Zange umzustapeln.
"Jetzt kannst du den Deckel vom Shaker abmachen und durch das Sieb das Glas etwa zu drei Viertel füllen. Sehr gut! Und jetzt drehst du den Verschluss komplett auf und schüttest den Schaum ins Glas!"

Nachdem ich das Glas mit Hilfe des Mischlöffels bis zum Rand gefüllt hatte, stellte ich den Shaker zufrieden auf die Arbeitsfläche zurück.

"Und jetzt noch etwas Deko! Dafür habe ich dir hier inzwischen eine Ananasscheibe zurechtgeschnitten. Einmal kurz unten einschneiden, dann kannst du sie auf das Glas stecken. Und dann fehlt eigentlich nur noch..." Jay öffnete die Schublade und zog ein buntes Cocktailschirmchen hervor. "Voilá!"

Lächelnd nahm ich ihm das Schirmchen ab und steckte es vorsichtig in die Ananasscheibe. Jay fischte inzwischen einen Strohhalm aus dem Gefäß mit Strohhalmen heraus und steckte ihn in das Glas.

"Lass uns an den Tresen setzen!"

Ich stellte das Glas auf die Tischplatte und wusch mir kurz meine Hände. Dann ging ich um den Tresen herum und setzte mich auf den Barhocker.

"So und jetzt darfst du ihn testen!", Jay nickte mir lächelnd zu.

Kurz schaute ich auf mein Virgin Colada, dann zu Jay. Ich langte über den Tresen, fischte noch einen zweiten Strohhalm heraus und platzierte ihn so in meinem Cocktail, dass er in Jays Richtung zeigte. Ich nahm das Glas in die Hand und hielt es zwischen uns. Dann hob ich meine Augenbrauen.

"Zugleich?", fragte ich auffordernd.

Unsere Blicke trafen sich und für eine Sekunde war alles still um uns herum. Dann nickte Jay und griff nach dem Strohhalm. Ich tat es ihm gleich und ohne meinen Blick von ihm abzuwenden, näherten sich unsere Gesichter und wir nahmen einen großen Schluck.

"Wow! Also ich will mich jetzt ja nicht selbst loben," scherzte ich, "aber der schmeckt echt gut. Liegt bestimmt an deinem Rezept!"
"Du darfst dich ruhig loben, der ist echt lecker geworden. Er schmeckt schön fruchtig und cremig, genau so wie er sein sollte. Und dazu hast du dich auch echt geschickt angestellt."

Das Kompliment von Jay ließ mich verlegen grinsen. Ich nahm noch einen Schluck und stellte das Glas dann auf den Tresen.

"Wie lange machst du das eigentlich schon?", fragte ich interessiert.

"Ich bin jetzt etwa ein Jahr hier als Barkeeper angestellt. Habe aber vorher während der Schule immer mal wieder in verschiedenen Bars ausgeholfen. Fand es immer spannend, den Barkeepern beim Mixen der Cocktails zuzusehen. Habe dann nach meinem Schulabschluss eine Ausbildung gemacht und hier bin ich."

"Also ich muss zugeben, das Cocktailmixen macht echt Spaß, aber ich kann mir vorstellen, dass es nicht immer ganz so einfach ist. Vor allem, je später der Abend wird."

"Das Schöne hier beim 'Five Stars' ist, dass ich viel Abwechslung habe. Bei unseren monatlichen Treffen mit den Chefs können wir uns austauschen und auch zurückmelden, wenn es Probleme gibt. Zudem sind die Schichtpläne so aufgeteilt, dass wir immer Mal wieder auch in den anderen Lokalen aushelfen, wie zum Beispiel in der Pizzeria oder auch im Café. Dadurch wachsen wir als Team enger zusammen."

"Klingt nach einem tollen Konzept."

"Ja, mir passt es echt gut hier. Und meine Chefs sind auch super und sie unterstützen es, wenn wir uns kreativ einbringen wollen. Deswegen haben sie mir auch das Lokal heute bis 18 Uhr zur Verfügung gestellt, 'damit ich neue Cocktails ausprobieren kann'." Jay zwinkerte mir zu.

Ich lachte. "Das ist aber nett!"

Auch er lachte und trank dann noch einen Schluck unseres Cocktails. "Und was machst du eigentlich?"

"Ich arbeite zurzeit als Editor bei der Lokalzeitung."

Erstaunt schaute mich Jay an. "Okay wow, das hätte ich jetzt nicht erwartet."

"Aber ich bin erst seit ein paar Monaten dort. Ich würde später gerne als Online-Journalist arbeiten. Bevor ich aber ein Studium beginne, wollte ich zuerst ein bisschen in den Job reinschnuppern."

"Das ist eine gute Überlegung. Und wie gefällts dir bis jetzt?"

Ich überlegte kurz. "Hmm... Zurzeit schreibe ich nur kurze Texte, die ich von unserer Chefredakteurin zugewiesen bekomme. Mir macht es sehr viel Spaß, aber ich wünschte, ich könnte meine Ideen mehr einbringen. Ich finde zum Beispiel, dass wir zur heutigen Zeit umweltbewusster leben sollten und deshalb habe ich bereits recherchiert, was die Vor- und Nachteile von einem Umstieg auf recyceltem Papier wären. Aber ich arbeite dort erst seit ein paar Monaten, weshalb ich nicht denke, dass ich viel Mitspracherecht habe."

"Punkt 2 auf deiner Liste, richtig? Hast du das Thema Mal angesprochen?"

Ich seufzte. "Nein, das ist nicht so einfach."

Jay wirkte nachdenklich. "Ich denke, du solltest diesen Punkt dann gleich als nächstes in Angriff nehmen. Lass uns jetzt noch ein paar Cocktails mixen und dabei überlegen wir uns gemeinsam, was dir helfen könnte, dass du dich traust, mit deinem Chef zu sprechen." Ich nickte zustimmend und mein Gegenüber griff nach meinem ersten selbst gemixten Cocktail. "Komm, wir trinken noch zusammen aus und dann machen wir weiter. Das heißt, wenn du noch Lust hast."

"Klar habe ich noch Lust!"

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