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Alexis war auf dem Weg in den Hörsaal zu ihrer Linken gewesen, als sie plötzlich ihren Namen gehört hatte.
Es war das sogenannte Cocktailparty-Phänomen: man kann die eigene Wahrnehmung selektiv einsetzen - also nur das mitbekommen, oder in ihrem Fall mithören, was man hören möchte. Bei vielen Hintergrundgeräuschen, wie beispielsweise auf einer Cocktailparty, musste das Gehirn so nicht sämtliche Informationen filtern, sortieren und bewerten, sondern eben nur die für einen selbst relevanten. Dieser Prozess läuft natürlich völlig unbewusst ab. Wenn dann aber in der rauschenden Summe der Geräusche der eigene Name fällt, wird die Aufmerksamkeit auf die Quelle gelenkt.
In Alexis' Fall war diese Quelle Joshua gewesen.
Sie war nach der Dusche heute morgen zurück auf ihr Zimmer gegangen. In dem Moment hatte sich Joshs Zimmertür geöffnet und ein verstrubbelter, nur in Boxershorts bekleideter, gähnender Joshua war erschienen. Die Augen hatte er noch halb geschlossen gehabt, war aber erschrocken stehen geblieben, als er Alexis gesehen hatte.
„Lexi... hey... guten Morgen.... was machst du denn schon so früh auf?", hatte er gemurmelt. Er hatte eine leichte Bierfahne gehabt und ziemlich fertig ausgesehen. Als er einen Schritt auf sie zugemacht hatte, war Alexis ausgewichen.
Oh nein. Auf gar keinen Fall. 1... 2... 3... 4...
„Nicht, Josh. Fass mich nicht an.", hatte sie mit fester Stimme gesagt.
5... 6... 7...
Joshua hatte sie verwundert angesehen. „Lexi, alles okay?... Bin ich vorhin zu weit gegangen? Ich meine, du wolltest doch auch... oder nicht?"
8... 9... 10... 11...
„Ja. Also nein. Nein, Josh, eigentlich wollte ich nicht. Aber das ist nicht deine Schuld."
12... 13... 14...
Sie hatte sehen können, wie erst Freude, dann Unglaube und letztlich Enttäuschung in Joshuas Gesicht gestanden hatten. Sie hatte gewusst, dass er nicht verstehen würde oder könnte, was in ihr vorging. Also hatte sie es gar nicht erst mit großen Erklärungen versucht.
„Josh, pass auf: das mit uns war echt nett, aber das geht nicht. Ich will nichts von dir. Bitte lass mich in Ruhe, okay?", hatte sie mit fester Stimme gesagt.
Yeeees! Go Lexi, go Lexi! Es klappt!
Joshua hatte forschend ihren Blick aufgefangen. „Du meinst das ernst, ja?"
„Ja."
„...okay.", hatte er knapp geantwortet und war dann ohne ein weiteres Wort an ihr vorbei ins Bad gegangen.
Fast schon hüpfend war Lexi in ihr Zimmer geeilt und hatte innerlich gejubelt.
Ja! Wie geil! Es klappt, es klappt, es klappt! Die 30 Sekunden Regel klappt.
Statt Joshua anzustarren oder sich etwas unanständiges vorzustellen, hatte sie sich brav aufs Zählen konzentriert und war nicht in Versuchung geraten, ihn anzufassen.
Das kann nur ein gelungener Tag werden!
~~~
Was für ein beschissener Tag.
Alexis saß im Hörsaal, den Kopf zwischen den Händen aufgestützt, die Stirn in Falten gelegt und wäre am liebsten in ihrem Bett gewesen, um sich die Decke über den Kopf zu ziehen und zu verschwinden.
Und so peinlich...
Sie war heute Morgen, beschwingt von ihrem Mut, zum Campus gelaufen und hatte das herbstlichenWetter genossen. Viele Straßen hier in der Stadt waren Alleen und es hatte überall buntes Laub an den Bäumen gehangen. Gelegentlich war es von einem Windstoß gelöst worden und zu Boden gesegelt. Es hatte wunderschön ausgesehen. Die Luft war klar und kühl gewesen und es waren kaum Autos unterwegs gewesen.
Sie hatte sich bei der Campusbäckerei ein frisches Brötchen und einen Milchkaffee besorgt und sich auf den Weg zu ihrer Vorlesung gemacht. Zum Hörsaalgebäude musste sie zwei Steintreppen hinunter, die reichlich rutschig gewesen waren wegen des vielen Laubs.
Bloß nicht langlegen. Schööööön vorsichtig...
Im Gebäude hatte sie sich dann auf der untersten Etage befunden. Dort gab es eigentlich nur die Kellerräume mit den Heizungen und diesem ganzen Kram, also war sie direkt auf die Treppe zugegangen, die nach oben zu dem langen Flur mit den Hörsälen geführt hatte. Sie hatte einen Schluck Kaffee genommen, war die Treppe nach oben gestiefelt und hatte überlegt, ob sie heute in der Cafeteria oder der Mensa Mittag essen wollte. In der Cafeteria gab es eher Snacks, aber auch durchaus warme Speisen wie Suppen oder Blechpizza. Nichts gesundes wie zum Beispiel die riesige Salatbar in der Mensa, aber dafür war der Kaffee in den Cafeten so viel besser.
„... Lexi, da drüben."
Erschrocken über ihren Namen und aus ihren Gedanken gerissen, war Alexis' Kopf herumgeschnellt. Ihr schräg gegenüber, etwa zehn Meter entfernt, hatte Joshua gestanden und gerade auf sie gedeutet. Neben ihm zwei andere Kerle; zum einen sein Kumpel Kyle, der letztenWoche auch schonmal zum Zocken da gewesen war, der jedoch mit seinen hellblonden, etwas längeren Haaren - ein Surfertyp in Kanada - zum Glück so gar nicht Lexis Typ war; zum anderen...
Oh. Mein. Gott.
Sie hatte ihm direkt in die Augen gesehen. Helle Augen in einem düsteren Gesicht. Blau wie der Himmel an einem wolkenlosen Tag. Eisblau.
Alexis hatte Halt am Treppengeländer gesucht, da ihre Beine gedroht hatten nachzugeben. Alles in ihr hatte sich zusammengezogen. Der Typ hatte seinen Blick nicht von ihr gelassen und sie beobachtet. Seine eisblauen Augen, die aus dem dunklen Gesicht hervorstachen wie Neonjacken bei einem Metalkonzert, hatten sie durchdringend angesehen. Ihr Mund war trocken geworden. Ihr Herz hatte wild gepocht und sie war sich sicher gewesen, dass es ein oder zwei Schläge lang einfach ausgesetzt hatte.
Wer ist das?
Im nächsten Moment war sie von hinten angerempelt worden. Völlig unvorbereitet auf diesen Stoß war ihre Hand vom Geländer gerutscht und ihre immernoch butterweichen Knie hatten es nicht geschafft, einen Ausfallschritt nach vorn zu meistern. Stattdessen war sie nach vorn gekippt und war erst gebremst worden, als sie mit der Stirn unsanft gegen die Säule des Treppenhauses geknallt war.
„Oh shit, sorry! Alles okay? Es tut mir so leid, ich hab dich nicht gesehen!", war eine Stimme neben ihr erklungen. Doch noch bevor die helfenden Arme sie erreicht hatten, war Alexis hochgeschossen. Hatte auf dem Absatz kehrt gemacht und war die Treppe hinunter geflüchtet.
Nun saß sie mit pochendem Kopf im Hörsaal und ging die Szene wieder und wieder und wieder in Gedanken durch.
Da schaffst du es allen Ernstes, Joshua stillzulegen und kippst aus den Latschen wegen... wegen...
...wegen des wohl heißesten Typen, der dir je unter die Augen gekommen ist?
Blödsinn. Ich hab ja eigentlich nur seine Augen gesehen.
Ha! Ja klar, red dir das nur ein, Schätzchen. Natürlich hast du sein markantes Gesicht, die vollen Lippen, seine Größe, die breiten Schultern, die gestylten dunkelbraunen Haare und seinen verlockenden dunklen Teint nicht wahrgenommen.
Alexis seufzte.
Und diese Augen...
„Ach du kacke, was ist denn mit dir passiert?" Becca ließ sich neben ihr auf den Stuhl fallen und betrachtete erschrocken Alexis' Stirn.
„Ich bereite mich auf Halloween vor und gehe als Einhorn.", murmelte Alexis mit einem schiefen Grinsen.
Becca starrte sie einen Moment verdutzt an, dann lachte sie schallend.
„Scheinbar eins mit Gehirnerschütterung, ja? An deinem Kostüm musst du aber noch arbeiten.", zwinkerte sie und zupfte an Alexis' Jacke. „Bisschen düster, meinst du nicht?"
„Noch nie was von Goth-Einhörnern gehört?", hatte Alexis gekichert. Dann bemerkte sie den Knutschfleck an Beccas Hals.
„Becca!!", zischte sie, denn in diesem Moment hatte der Professor den Raum betreten und begann, seine Unterlagen zu sortieren und den Computer einzuschalten.
„Was ist denn das da?? Wo warst du gestern Abend?!"
Becca grinste. „Ich hatte ein Date."
„Ein Date? Mit wem?" Alexis rutschte näher an ihre Freundin heran. „Erzähl mir alles! Sofort!"
„Später.", flüsterte Becca und deutete nach vorn. Ihre Vorlesung begann.
Wirklich konzentrieren konnte Alexis sich allerdings nicht, obwohl die Antike Geschichte eins ihrer Lieblingsthemen war.
Ihre Erinnerungen machten ihr einen Strich durch die Rechnung. Und zwar nicht nur die der letzten Tage, sondern speziell die der letzten Jahre.
Alexis war das gewesen, was man wohl frühreif nannte. Schon mit 11 hatte sie Jungs interessant gefunden und mit 12 hatte sie auf der Geburtstagsfeier ihrer älteren Cousine einen Jungen geküsst. Dieser war ziemlich überrascht, aber auch sehr erfreut gewesen. Noch im selben Jahr hatte sie mit ihm ihr erstes Mal gehabt, eine ziemlich enttäuschende und kurzweilige Aktion. Danach war ihr Interesse zunächst abgeflaut, sie hatte den ganzen Hype um Sex und Jungs nicht mehr nachvollziehen können. Bis ihr Adam begegnet war. Adam war im zweiten Jahr der High School auf ihre Schule gekommen und hatte ihr sofort den Kopf verdreht. Sie hatten fast alle Kurse zusammen gehabt und sein Interesse an Alexis war nicht geringer gewesen als ihres an ihm. Zunächst hatten sie sich im Unterricht fast nonstop angestarrt, dann hatte er sich in der Mensa einen Tisch gesucht, von dem er sie im Blick hatte und noch in der ersten Woche hatte er sich neben sie gesetzt. Sie hatten kein Wort miteinander gewechselt und dann plötzlich, an einem Dienstag im Oktober, hatte er sie angesprochen.
„Geh auf ein Date mit mir, Stevens."
Alexis hatte Adam ungläubig angestarrt und war nicht imstande gewesen zu antworten.
„Komm schon. Lass uns ins Kino gehen." Er hatte sie angelächelt.
„Ich... Äh... ja... ehm... ja, gerne.", hatte sie gestammelt.
Adam hatte gelacht, ihre Hand gefasst und ihr einen flüchtigen Kuss auf den Handrücken gehaucht. Dann hatte er sich umgedreht, über seine Schulter hatte er „Ich hol dich Freitag um sechs ab!" gerufen und war gegangen.
Alexis war wie versteinert stehengeblieben, hatte seine Lippen noch auf der Hand gespürt und hatte dann ein leises Quietschen von sich gelassen. Sie hatte ein Date gehabt! Bis Freitag war sie wie auf Wolken durch die Gegend gelaufen und hätte vor Glück platzen können. Sie hatte zig Outfits durchprobiert, ihre langen lockigen Haare frisiert und Makeup aufgetragen. Ihr Herz hatte ihr bis zum Hals geklopft als sie am Freitag darauf gewartet hatte, dass Adam sie abholte.
Er war der pure Gentleman gewesen. Er hatte ihr eine Rose mitgebracht, ihr die Beifahrertür offen gehalten, ihr Popcorn und Cola gekauft und ihr aus der Jacke geholfen. Während des Films hatte er ihre Hand gehalten und sie dann vorsichtig seinen Arm um sie gelegt. Alexis war im siebten Himmel gewesen. Alles war perfekt gelaufen. Nach dem Kino hatte er gefragt, ob sie noch Lust hätte, mit ihm essen zu gehen und begeistert hatte sie zugestimmt. Sie waren ganz klassisch Pizza essen gewesen, er hatte die Rechnung übernommen und auf dem Rückweg hatte er dann am Seitenstreifen gehalten um sie - endlich! - zu küssen. Sie hatten ein wenig herumgeknutscht, dann hatte er sie nach Hause gebracht und ihr gesagt, dass er sich auf das nächste Date freuen würde.
Alexis hatte niemanden gehabt, mit dem sie darüber hätte reden können. Ihr Vater war gestorben, als Alexis vier Jahre alt gewesen war; ein plötzlicher Schlaganfall mit Todesfolge. Ihre Mutter hatte im selben Jahr angefangen zu trinken und seitdem nicht wieder damit aufgehört. Sie hatten zwar zusammen gelebt, sich aber eigentlich nie gesehen und das war Alexis auch ganz recht so gewesen. Geschwister hatte sie keine und ihre Cousinen waren das gewesen, was einer Freundschaft am nahesten gekommen wäre. Aber auch diese hatte Alexis vielleicht zwei oder drei mal im Jahr gesehen und nur unregelmäßig mit ihnen getextet.
Er musste gewusst haben, wie alleine ich eigentlich war. Das perfekte Opfer.
Fast acht Monate war sie schon mit Adam zusammen gewesen, hatte sogar Weihnachten bei ihm und seiner Familie verbracht gehabt, war mit ihnen im Urlaub gewesen, als irgendwann das ganzen Chaos begonnen hatte.
Sie und Adam hatten mittlerweile schon regelmäßig Sex gehabt - guten; nein, fantastischen Sex. Er hatte ihr gezeigt, dass das Ganze definitiv anders laufen können als ihr erstes Mal. Auch mit ihm hatte sie erste Male gehabt: das erste Mal Fingern, das erste Mal geleckt werden, den ersten Blowjob. Adam hatte ihr beigebracht, zu erkennen was ihr gefiel und was nicht. Und er hatte dafür gesorgt, dass sie abhängig wurde. Nach nur wenigen Wochen fühlte sie sich schlecht, wenn es einen Tag ohne Sex gegeben hatte.
Irgendwann hatten sie angefangen, zusammen auf Parties zu gehen. Oft waren sie dort in einem Zimmer verschwunden und hatten eine schnelle Nummer geschoben. Und immer öfter war sie betrunken gewesen. An einem Abend war es dann plötzlich nicht mehr Adam gewesen, der sich zwischen ihren Beinen an ihr zu schaffen gemacht hatte, sondern ein fremder Kerl.
„Baby, alles in Ordnung, ich bin hier.", hatte Adam ihr zugeflüstert und seine Lippen auf ihre gelegt, während der andere Typ in sie eingedrungen war. In diesem Moment hatte ihr Körper sie betrogen. Es hatte ihr gefallen und sie hatte zu stöhnen begonnen. Adam hatte sie gestreichelt und geküsst, hatte ihre Brüste geknetet und ihr kurz vor ihrem Orgasmus „Komm für mich, Lexi." zugehaucht.
Von da an war es immer schlimmer geworden. Jedes Wochenende war Adam mit ihr in andere Städte, in andere Clubs, zu anderen Parties gefahren. Jedes Wochenende hatte er andere Kerle an sie rangelassen. Irgendwann war er nicht mehr dabei geblieben. Irgendwann hatte Alexis die Kontrolle verloren. Irgendwann war sie eine Nutte geworden und Adam ihr Zuhälter.
„Lexi, kommst du?", riss Beccas Stimme sie aus ihren Gedanken.
Alexis zuckte erschrocken zusammen. Die Vorlesung war vorbei, alle um sie herum packten ihre Taschen und Becca stand wartend neben ihr. Als sie in Alexis' Gesicht blickte, setzte sie sich wieder neben sie.
„Hey, Lexi, was ist los? Warum weinst du?"
Verwundert fuhr sich Alexis mit der Hand über die Wange. Tatsächlich liefen ihr Tränen übers Gesicht.
Shit.
„Oh, schon gut.", schniefte sie und wischte die Tränen davon. „Muss wohl an der Lüftung liegen."
Echt jetzt? Die Lüftung? Super Ausrede, Lexi.
Sie stand auf und zwang sich zu einem Lächeln. „Komm, du musst mir noch von deinem Date erzählen!"
Rebeccas gerunzelte Stirn glättete sich und ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Nagut, ich kauf dir das jetzt mal ab. Also, pass auf: ..."
Die Arme ineinander verhakt verließen die beiden den Hörsaal.
Ich hasse mein Leben.
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