20

Alexis wachte mit Halsschmerzen auf. Ihre Glieder schmerzten und sie fühlte sich wie überfahren.

War ja klar, dass ich krank werde.

Nach ihrer Flucht war ihr schnell klar geworden, dass sie ihre Jacke hatte hängen lassen. Fluchend und wütend über sich selbst war sie zurück zum Campus getrabt und hatte inständig gehofft, dass ihre Jacke im Raum sein würde. Und dass der Raum offen sein würde. Und dass das Verwaltungsgebäude noch nicht geschlossen sein würde. Und dass sie um Himmels Willen nicht Nathan über den Weg laufen würde! Aber bis auf den letzten Punkt war sie enttäuscht worden, denn die Verwaltung hatte bereits dicht gehabt.

Mit Tränen in den Augen und bitterlich frierend hatte sie vor der verschlossenen Tür gestanden, immer wieder daran geruckt in der Hoffnung, sie würde doch noch auf magische Art und Weise ins Gebäude gelangen.

Das darf nicht wahr sein! Bitte nicht!

Sie wollte ihre Jacke wieder haben. Sie musste die Jacke wieder haben! Es war ihre einzige materielle Sache von Monica. Das einzige, was sie anfassen und anziehen konnte und sich sicher und geborgen fühlte.

Scheiße! Was ist, wenn sie jemand geklaut hat? Oder noch schlimmer: was, wenn Nathan sie mitgenommen hat?

Bei dem Gedanken war ihr schwindelig geworden. Sie hatte nicht gewusst, was ihr mehr zusetzte: die Vorstellung, die Jacke nie wieder zu bekommen oder aber, dass sie zu Nathan musste, um sie sich zurück zu holen.

Das steh ich nicht durch. Schon gar nicht, nachdem ich ihm in meinem Ausrastermodus in die Eier getreten habe. Ich bin so eine verdammte Idiotin! Ich weiß nichtmal, was da eigentlich los war. Ich habe völlig überreagiert. Bei mir ist alles durchgebrannt, als er mich angefasst hat. Himmel, ich kann ihm nie wieder unter die Augen treten! Schon gar nicht unter diese Augen...

Sie hatte sich vorgestellt, wie es wäre, diesen Augen näher zu kommen. Wie es wohl aussehen würde, wenn sich Lust und Verlangen darin spiegeln würden. Wie es wohl wäre, seine Hände auf ihrem Körper zu spüren, seine Lippen an ihrem Hals...

Uaaaaaaah, Lexi!!

Missmutig hatte sie den Heimweg angetreten. Es war mittlerweile stockdunkel gewesen und ein kühler Wind hatte um die Häuser gepfiffen. Ihre Hände hatten sich rot gefärbt und sich wie Eiszapfen angefühlt. Ihr war klar gewesen, dass dies nur mit einer Erkältung würde enden können.
Und genau so war es auch gekommen.

Schöne Scheiße.

Grummelnd schlurfte sie ins Bad, um sich unter eine heiße Dusche zu stellen. Während das Wasser über ihre Schultern und ihren Rücken prasselte, dachte sie darüber, was sie nun tun sollte. Sie hatte überlegt, Josh darum zu bitten, Nathan nach der Jacke zu fragen. Aber als sie gestern nach Hause gekommen war, war die Wohnung leer gewesen. Keine Becca, kein Josh, kein Miles. Und auch heute Morgen war es mucksmäuschenstill, die Zimmer waren leer gewesen, als sie sie leise abgegangen war. Sie war allein in der WG. Nun blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als Josh anzutexten und ihn unpersönlich via Nachricht um den Gefallen zu bitten.

Ob das so klug ist? Vor allem, nachdem ich ihm so eine Abfuhr erteilt habe?

Sie stieg aus der Dusche, wickelte sich in das Handtuch, das sie zuvor extra über die warme Heizung gehängt hatte und begann, sich die schwarzbraunen Locken trocken zu rubbeln und auszubürsten.

Vielleicht kann ich Josh auch einfach nach Nathans Nummer fragen.

Damit er denkt, dass ich was mit ihm anfangen will?

Will ich ja gar nicht.

Oh doch, willst du.

Ich kann ihm auch einfach sagen, dass er meine Jacke hat.

Und die hat er, weil du bei ihm warst?

Ich kann Josh vom Tutoring erzählen!

Und auch, wieso du es brauchst? Und wieso du abgehauen bist? Und wieso du Nathan in die Eier getreten hast?

Alexis biss sich auf die Unterlippe. Vielleicht würde das Ganze doch etwas komplizierter werden als sie gedacht hatte. Aber sie wollte einfach nur ihre Jacke zurück und so schwierig könnte das jawohl nicht sein! Vielleicht machte sie das Ganze auch viel komplizierter als es eigentlich war!

Und wenn ich einfach zu Nathan gehe?

Du weißt nicht einmal, wo er wohnt.

Doch klar, im Wohnheim.

In welchem Zimmer? Welche Etage?

Ich kann bestimmt jemanden fragen.

Und wenn er nicht da ist?

Dann warte ich.

Wie lange denn bitte?! Das ist Schwachsinn!

Während Alexis sich anzog, - sie entschied sich für eine dunkle Jeans und einen lockeren grauen Pullover über dem schwarzen Tanktop - überlegte sie weiter, wie sie ihr Problem lösen könnte. Sie zweifelte ja selbst daran, dass sie sich trauen würde einfach zum Wohnheim zu spazieren, Nathans Zimmer herauszufinden und dort anzuklopfen oder sogar vor der Tür zu campieren, falls er nicht da sein würde. Andererseits wollte sie die Jacke wirklich, wirklich, wirklich wieder haben. Natürlich vor allem wegen Monica, aber auch weil sie keine andere Jacke besaß, nur Hoodies oder Strickjacken. Und bei Regen würde ihr beides nicht helfen, die Lederjacke schon.

Sie atmete tief durch.

Hilft alles nichts, ich muss Josh fragen.

Sie tippte eine Nachricht an Joshua.

Hey Josh,
Hey auf jeden Fall nur mit einem y, bevor er auf dumme Gedanken kommt.

kannst du mir die Nummer von Nathan geben? Er hat vielleicht meine Jacke, die ich beim Tutoring liegen gelassen habe. Danke.
Kein Smiley. Besser nicht.

Nervös stand sie da und kaute auf der Unterlippe. Die Nachricht sah gar nicht so schlecht aus.

Was, wenn Nathan die Jacke gar nicht hat? Und auch nicht weiß, wo sie ist? Was, wenn er sie mir nicht wiedergibt? Was, wenn sie weg ist?

Schweiß brach ihr aus und ihre Atmung wurde schneller.
Alexis wusste, dass das nicht auf ihre Erkältung zurückzuführen war, sondern sie war im Begriff, eine Panikattacke zu bekommen. Sie kannte die Vorzeichen zu gut. Während ihrer Zeit mit Adam hatte sie oft Panikattacken gehabt, eine Nebenwirkung des Drogencocktails, den ihr ach so guter Freund ihr ständig eingeflößt hatte. Dann, auf ihrer Flucht mit Monica, war sie ständig von diesen Anfällen wach geworden. Es war immer das gleiche Spiel: schwitzen, schneller Atem, Zittern, Eiseskälte, Taubheit, Dunkelheit, Schmerzen, rasender Puls.

Atme, Lexi...

Sie schloss die Augen, atmete tief durch die Nase ein und durch den Mund aus. Auch das hatte ihr Monica beigebracht.
„Süße, du musst atmen. Komm schon, ganz tief einatmen durch die Nase. So tief, dass du spürst, wie deine Lunge sich ausbreitet... genau so... und durch den Mund ausatmen bist du platt wirst wie eine Flunder! Ja, genau, sehr gut!" Dabei hatte Monica ihr beruhigend über den Rücken gerieben.
Auch am Busbahnhof, als Alexis wieder drohte, in die Dunkelheit hinab zu stürzen, hatte Monica sie beruhigt und ihr geholfen. Nun jedoch war sie allein. Keine Monica.

Wäre sie bloß hier...
Alexis begann leicht zu zittern.

Nein, nein... atme!

Es half nichts. Die Kälte kroch ihr die Beine hinauf, sammelte sich in ihrem Magen und strich ihr ums Herz; bereit sie einzufrieren und zerspringen zu lassen.

Nein, nein, nein.... atme...

Ihre Hände wurden taub.

Scheiße!

Sie schluchzte auf. Dann kam ihr eine einzige Idee.

30... 29... 28... 27... 26... 25... 24...
Sie bewegte die Finger mit beim Zählen.
23... 22... 21... 20... 19... 18... 17... 16... 15...
Sie spürte das Pochen ihres Herzens in der Brust.
14... 13... 12... 11... 10... 9... 8... 7...
Sie atmete im Takt der Sekunden, die sie abzählte.
6... 5... 4... 3... 2... 1...

Als ihr Handy den Nachrichtenton von sich gab, öffnete sie die Augen wieder.

Deine Jacke ist bei den Jungs im Wohnheim. Du kannst sie ab drei holen, vorher ist keiner da. Oder soll ich sie dir heute Abend mitbringen? J

Alexis legte das Handy beiseite und ließ sich auf ihr Bett plumpsen.

Geschafft. Ich hab's geschafft.

Ungläubig blickte sie auf ihre Hände, bewegte die Finger hin und her, atmete tief ein und aus und kicherte dann sogar ein wenig. Das war das erste Mal, dass es ihr gelungen war, der Attacke zu entkommen.

Und die Jacke ist da!

Sie langte nach ihrem Telefon. Was sollte sie schreiben?

Eigentlich wäre es mir lieber, er würde sie mitbringen. Ich will... ich kann Nathan nicht sehen. Aber Ich will Josh keine Umstände machen.

Blödsinn.

Hmm?

Du hast nur Angst, ihm zu  begegnen. Weil du dich auf ihn stürzen würdest.

Nein, würde ich nicht! Ich hab das schon mal geschafft und ich schaffe das wieder.

Pffffff... klar.

Konnte sie das riskieren? Joshua hatte mehr als geknickt gewirkt, als sie ihn abgewiesen hatte. Würde er überhaupt noch Interesse an ihr haben? Oder wäre sie „sicher" in seiner Nähe? Vielleicht könnte sie ja Becca bitten, dabei zu sein?

Sie tippte eine Nachricht an Rebecca.

Beccaaaaaaaaa! :) Wo steckst du denn? Hast du morgen Zeit für mich?

Sie richtete sich auf und stapfte Richtung Küche. Nach so einem beschissenen Morgen hatte sie dringend einen Kaffee nötig. Während sie darauf wartete, dass das Wasser durch die Filtermaschine brubbelte, holte sie sich einen Joghurt aus dem Kühlschrank und löffelte diesen munter leer.
Als es auch nach ihrer Tasse Kaffee noch keine Antwort von Rebecca gab, machte sie sich auf den Weg zur Uni. Über den grauen Pullover zog sie eine warme, himbeerrote Strickjacke aus Wolle und legte sich ein Tuch um den Hals. Sie schnappte sich ihre braune Tasche und ihren Schlüssel, schlüpfte in ihre ausgetretenen Turnschuhe und wollte gerade zur Tür hinaus, als sie in jemanden hineinstolperte.

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