30 Jahre-Tschernobyl

Als ich etwa 16 Jahre alt war, lebte ich noch in unserem Haus in Prypjat, einer Stadt in der Ukraine. Am 27. April 1986 wurden wir aus unseren Häusern gezerrt und evakuiert. Meine Familie war eine der ersten, zum Glück, denn sonst hätten wir die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl, die fast genau vor unserer Tür geschah, nicht überlebt. Meine damalige Freundin Natalia wurde sogar erst eine Woche danach evakuiert. Am Anfang wussten wir gar nicht, was denn jetzt geschehen war, weder im Radio noch in den Zeitungen der umliegenden Städte wurde darüber berichtet. Erst vier Tage später kam darüber etwas im Fernsehen, es gab erste Unfallfotos, aber genauso auch schon Bilder von Toten. Noch heute habe ich den Satz des Moderators im Gedächtnis: „Bei einer durchgeführten Simulation eines vollständigen Stromausfalls kam es auf Grund schwerwiegender Verstöße gegen die geltenden Sicherheitsvorschriften zu einem unkontrollierten Leistungsanstieg, der zur Explosion des Reaktors führte." Ich habe versucht den Satz zu vergessen, aber er verfolgt mich sogar in meinen Träumen.

Überall war nun also radioaktives Cäsium und Jod. Familien versuchten den radioaktiven Wolken selbst zu entkommen, aber die meisten starben einige Monate später an den gewaltigen Folgen. Unsere Familien überlebten die Katastrophe, wir wurden etwa 150 Kilometer von unserem Haus entfernt in einer Turnhalle untergebracht, aber bald merkten wir, dass dies kein Dauerzustand sein konnte, und weil meine Familie sich nicht noch ein eigenes Haus leisten konnte, zogen Natalias Familie und meine zusammen.

Fünf Monate nach dem Einzug erlitt meine Mutter einen schweren Autounfall und starb an dessen Folgen. Acht Jahre später starb mein Vater an einer Leukämieerkrankung. Die Ärzte waren sich aber nicht ganz sicher, ob es an der radioaktiven Strahlung lag. Vier Jahre darauf erging es meinem Bruder ebenso.

30 Jahre nach der Katastrophe stand ich schwarz gekleidet bei düsterem Wetter auf einem Friedhof vor dem Sarg von Natalia. Sie wurde nur 48 Jahre alt und ist an Schilddrüsenkrebs gestorben, eine weit verbreitete Strahlenkrankheit, unter der vor allem Menschen, die in jungen Jahren radioaktiver Strahlung ausgesetzt waren, leiden. Ich warf eine weiße Rose auf ihren Sarg, der gerade in das Erdloch heruntergelassen wurde und ging. Ich konnte den Anblick des Sarges einfach nicht ertragen, aber am meisten bedrückte mich der Gedanke jetzt ganz alleine zu sein. All meine Verwandten waren verstorben und jetzt hatte ich einfach gar niemanden mehr.

Am Mittwoch nach der Beerdigung von Natalia war die Testamentseröffnung, ich ging hin auch wenn ich genau wusste, dass ich nichts erben würde, obwohl sie mir in ihrem Testament alles vermacht hatte. Doch ich hatte ihr letztes Geld für Medikamente ausgegeben, in der Hoffnung, dass sich ihr Zustand bessern würde. Drei Wochen später erfuhr ich von meinem Arzt, dass ich genauso an Schilddrüsenkrebs litt.

Ich wusste, dass sich etwas in meinem Leben ändern sollte, denn ich wollte auf keinem Fall, so wie der Rest meiner Familie hier sterben, vor allem nicht in diesem Haus, in dem schon so viele gestorben waren. Also beschloss ich das Haus zu verkaufen und heimlich in die Sperrzone des radioaktivverseuchten Gebiets zu ziehen. Ich wusste, dass ich damit mein eigenes Todesurteil unterschrieb, aber genauso wusste ich, dass ich sonst ganz allein mein Leben in einem Haus, in dem meine gesamte Familie gestorben war, hätte leben und wahrscheinlich nach langer qualvoller Krankheit hätte sterben müssen.

Ich machte mich also auf den Weg zurück nach Prypjat. Einen Teil der Strecke legte ich mit dem Zug zurück, dann hörten die Gleise auf und die Straßen, die früher nach Prypjat führten, waren mehr und mehr mit Sträuchern und Dornen überwuchert. Also ging ich die letzten Kilometer bis zum Sperrgebiet zu Fuß. Es war mit einem unüberschaubar langen Zaun umgeben worden, aber nach fast 30 Jahren ist der Zaun alt und an manchen Stellen brüchig geworden. Ohne mich von ihm beeindrucken zu lassen, kroch ich unter einer großen Bruchstelle hindurch und ging weiter. Ich hatte mir ein klares Ziel gesetzt und das wollte ich auch unbedingt erreichen. Man glaubt es kaum, aber die Natur hat sich die Landschaft zurückerobert und so blühen die Blumen trotz radioaktivverseuchtem Boden und auch Wildschweine und Wölfe haben sich nach diesen drei Jahrzehnten wieder angesiedelt. Ich lief an meiner alten, verfallenen Schule und vielen anderen verwahrlosten älteren Häusern vorbei.

Aber manche waren auch noch in einem guten Zustand erhalten, genauso auch unser ehemaliges Haus. Ein paar Fensterscheiben waren eingeschlagen, aber das störte mich nicht, denn einen Schlüssel hatte ich ja auch nicht mehr. Also stieg ich kurzerhand durch das Fenster ein, es war alles genau so, wie wir es verlassen hatten. Ich ging in mein altes Kinderzimmer, und selbst meine alte Barbie war noch auf dem Regal, wo ich sie früher immer sitzen hatte. Alles war mit einer dicken Staubschicht bedeckt, deshalb beschloss ich auch erstmal meine Bettdecke auszuschütteln, aber anstatt die Luft anzuhalten, um dem giftigen Staub zu entkommen, atmete ich tief ein. Schließlich wollte ich nicht noch Jahre hier verbringen. Ich setzte mich auf mein Bett und schaute aus dem kleinen Fenster mit der verdreckten Scheibe und dachte nur daran, was passiert wäre, wenn es keine Nuklearkatastrophe in Tschernobyl gegeben hätte. Ob meine Eltern jetzt noch leben würden? Und ob ich noch hier wohnen würde oder ob ich nicht doch eine eigene Familie gegründet hätte? Ob die Natur, die hier entstanden ist, auch noch so schön wäre wie jetzt?

Ich lebte noch ein paar Tage lang, aber bereits mit 46 Jahren war die Zeit für mich gekommen, mich von dieser Welt zu verabschieden und Prypjat, meine Heimat, den Wölfen zu überlassen. Ich hatte mein Leben gelebt.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top