3 - Adrien

Ich hasse Regenwetter. Nicht, weil es mir zu kalt oder zu ungemütlich ist, sondern wegen meinen Haaren. Wenn sie nass sind, kräuseln sie sich noch mehr als sonst, mit dem unschönen Ergebnis, dass ich innerhalb von Sekunden aussehe wie ein begossener Pudel. Das alleine ist für mich Grund genug, nur mit einer Mütze draußen rumzulaufen. Praktisch, denn unter dem Ding lassen sich meine Kopfhörer gut verstecken, die mir ansonsten ständig aus den Ohren rutschen.

Begleitet von französischem Hip Hop laufe ich am River Avon entlang, dessen Oberfläche rau und aufgewühlt ist. Der Wind treibt niedrige Wellen über den dunklen Fluss, der normalerweise sehr zu einer entspannten Bootsfahrt oder einem Picknick am Ufer einlädt. Heute zieht es wenig überraschend niemanden aufs Wasser. Ausnahmsweise sehe ich weder Menschen, noch Tiere, die dort unterwegs sind. Es ist einfach zu stürmisch.

Zum Glück habe ich es nicht so weit bis nach Hause. Von der Green Hill High bis nach Southville sind es zu Fuß gerade einmal fünfzehn Minuten. Die ruhige Wohngegend befindet sich südlich des River Avon und ist geprägt von viktorianischen Reihenhäusern, Feinkostläden und Steakhäusern. Außerdem befindet sich hier der Friseursalon meiner Mutter. Einen neuen Haarschnitt bekommt allerdings nur, wer vier Beine hat und bellen kann. Sie und ihr Team frisieren nämlich ausschließlich Hunde.

Mamans Obsession für diese Tiere bekomme auch ich regelmäßig zu spüren. Vor ein paar Jahren hat sie sich einen Mops angeschafft, eine kleine Hündin, die sie Coco nennt. Unter der Woche nimmt sie sie mit zur Arbeit, aber an den Wochenenden zwingt sie mich manchmal, mit ihr Gassi zu gehen, obwohl sie genau weiß, dass ich mit Hunden eigentlich nichts anfangen kann. Ein Grund mehr, wieso ich gerne auf unser Haustier verzichten würde, doch davon will Maman natürlich kein Wort hören.

Kurz bevor ich mein Zuhause erreiche, checke ich meine jüngsten WhatsApp-Nachrichten. Wie so oft steht Theodores Name ganz oben. Da wir praktisch jeden Nachmittag etwas zusammen machen, kann ich mir schon ungefähr denken, was er geschrieben hat. Meistens beinhalten seine Nachrichten lediglich einen Ort und eine Uhrzeit. Weil ich weiß, dass er ziemlich wasserscheu ist, gehe ich von einem Treffpunkt im Trockenen aus.

Theo (14:20 Uhr): Um vier bei mir?

Ich antworte schlicht mit einem Daumen nach oben. Danach scrolle ich weiter durch meine Chats. Auch Noel hat mir geschrieben, mein Cousin aus Frankreich. Soweit ich informiert bin, hatte er gestern Abend ein Date mit irgendeinem Mädchen. Wie ich ihn kenne, ist seine dreiminütige Sprachnachricht eine ausführliche Beschreibung dessen, was er mit ihr erlebt hat. Spontan beschließe ich, die Message erst später abzuhören, wenn ich mir wirklich sicher sein kann, dass niemand zuhört.

In der Vergangenheit habe ich von Noel schon unzählige Nachrichten dieser Art bekommen. Er lässt keine Details aus und mögen sie noch so schmutzig sein. Mein Cousin nimmt nie ein Blatt vor den Mund, egal ob es um seine Sexabenteuer geht oder um irgendwelche anderen Dinge. Manchmal ist mir seine Offenheit etwas zu viel des Guten, aber dieser Junge wird sich sowieso nicht ändern, weswegen ich gar nicht erst versuche, ihm etwas mehr Diskretion nahezulegen.

Die letzte ungelesene Nachricht ist von Maman. In ihrem kurzen Text lässt sie mich wissen, dass ich heute bei Mrs. Chambers zum Essen eingeladen bin. Dabei haben wir erst heute Morgen darüber gesprochen. Stirnrunzelnd frage ich mich, warum sie mir jedes Mal extra eine schriftliche Erinnerung schickt. Als ob ich mir das nicht selber merken könnte. Wieder einmal beschleicht mich das ungute Gefühl, dass meine Mutter mir zu wenig zutraut.

Ich möchte nicht schlecht gelaunt bei Mrs. Chambers aufkreuzen, weswegen ich diesen Gedanken beiseiteschiebe und mich stattdessen auf ein leckeres Mittagessen freue. Inzwischen bin ich fast zuhause, denn soeben biege ich in die Vicarage Road ein. Maman und ich leben in dem kleinen Haus mit der Nummer 83, unsere Nachbarin Mrs. Chambers wohnt direkt nebenan. Ich ziehe mir die klamme Mütze vom Kopf und die Stöpsel aus den Ohren.

„Adrien!" Prompt vernehme ich eine dünne, aber klare Stimme, die meinen Namen ruft. Auf dem Balkon des Nachbarhauses entdecke ich eine zierliche Gestalt mit schlohweißen Haaren und einem Regenschirm, die mir freundlich zuwinkt.

„Hallo, Mrs. Chambers!" Mit großen Schritten gehe ich zu ihr rüber und habe fast ein schlechtes Gewissen, weil sie meinetwegen hier draußen im Regen steht. „Warten Sie schon lange?"

„Ach, nicht der Rede wert." Ihre wässrig blauen Augen strahlen mich an und sind plötzlich voller Leben. „Warte einen Moment, ich lasse dich sofort rein!"

Für ihre stolzen neunundsiebzig Jahre eilt sie erstaunlich flink zurück in ihre Wohnung und das ganz ohne Rollator. Drinnen benutzt sie ihn nie, weil sie sich sonst noch älter fühlt, als sie ohnehin schon ist. Maman macht sich deshalb oft Sorgen, dass sie stürzen könnte oder so, aber bisher ist zum Glück nichts dergleichen passiert. Gemächlich gehe ich zur Haustür und stelle mich unter das gläserne Vordach. Einen Augenblick später steht die alte Dame vor mir.

Blaine Chambers ist seit jeher unsere Nachbarin. Als Maman und ich vor dreizehn Jahren aus Frankreich hierher gezogen sind, hat sie uns von Anfang an tatkräftig unterstützt. Ich war damals ein kleines Kind und habe viel Zeit bei ihr verbracht, während meine Mutter Vollzeit arbeiten musste, um uns finanziell über Wasser zu halten. Mrs. Chambers und ihr Mann Grant waren fast so etwas wie meine Großeltern für mich.

Leider ist Mr. Chambers vor einem Jahr gestorben, nachdem er lange gegen seine Krebserkrankung gekämpft hat. In den Tagen und Wochen danach waren Maman und ich oft bei seiner Witwe, um sie zu trösten und in ihrem Alltag zu unterstützen. Bis heute gehen wir manchmal für sie einkaufen, weil sie nicht mehr so schwer tragen kann und darf. Mindestens einmal pro Woche werde ich von ihr zum Mittagessen eingeladen. Mir ist das nur recht, denn wenn Mrs. Chambers eins kann, dann ist es kochen.

„Schön, dass du da bist!", begrüßt sie mich herzlich und tritt beiseite, um mich einzulassen. „Komm schnell ins Warme, bevor du dich erkältest!"

Im Flur duftet es bereits ziemlich verlockend. Wenn mich meine Nase nicht täuscht, gibt es Rumpsteak mit grünen Bohnen und Rosmarinkartoffeln. Brav ziehe ich meine nassen Treter aus und gehe ins Wohnzimmer, das gleichzeitig auch als Esszimmer dient. Hier drinnen ist es warm und behaglich und man erkennt sofort, dass dies das Zuhause einer älteren Dame ist: Blümchentapete, Porzellanfigürchen, eine Kuckucksuhr und unzählige gerahmte Fotos an den Wänden, viele davon in Schwarzweiß.

„Setz dich doch", sagt Mrs. Chambers und deutet auf den runden Esstisch, den sie liebevoll gedeckt hat. Frische Blumen nicken aus einer Keramikvase und sie hat sogar an Servietten gedacht.

Nur zu gerne folge ich ihrer Einladung und presse die Lippen fest aufeinander, damit ich bloß nicht anfange zu sabbern, als sie mir eine ordentliche Portion Essen auf den Teller lädt. Jedes Mal, wenn ich bei ihr zu Besuch bin, fühle ich mich wie in einem Hotel. Es ist wirklich schade, dass sie nicht meine richtige Großmutter ist. Meine echte Oma lebt in Frankreich und fällt vom Typ her eindeutig in die Kategorie Hausdrache. Noel sieht das übrigens genauso wie ich. Es vergeht keine Woche, ohne dass er sich per WhatsApp bei mir über sie abfuckt.

„Guten Appetit", wünscht Mrs. Chambers, nachdem sie sich ebenfalls bedient hat und lächelt mich über den Tisch hinweg an. Im Vergleich zu meiner wirkt ihre Portion geradezu mickrig.

„Gleichfalls", antworte ich und muss mich zurückhalten, damit ich nicht wie ein ausgehungerter Löwe über mein Steak herfalle. Außer ein paar lahmen Toasts zum Frühstück habe ich heute noch nichts Anständiges gegessen.

„Und, Adrien?", fragt Mrs. Chambers nach einer Weile, während ich mit vollen Backen kaue. „Wie läuft es bei dir in der Schule? Bist du schön fleißig?"

Nein, antwortet meine innere Stimme, die zum Glück nur ich hören kann. „Ja", lüge ich, nachdem ich mein Essen runtergeschluckt habe. „Alles super. Ich komme klar."

Ein müdes Lächeln huscht über das runzlige Gesicht der alten Dame. „Dann hat mir deine Mutter wohl etwas Falsches erzählt. Sie sagte neulich, du würdest lieber mit deinen Freunden rumhängen, statt für die Schule zu lernen."

Wie bitte? Ärgerlich schnappe ich nach Luft und verschlucke mich beinahe an einem Stück Kartoffel. Immer dasselbe. Ich hasse es, wenn Maman hinter meinem Rücken Dinge über mich erzählt, die eigentlich niemanden etwas angehen. Ich habe ihr schon x-mal gesagt, dass sie das lassen soll, aber natürlich hört sie nicht auf mich.

„Entschuldige", sagt Mrs. Chambers und schlägt beschämt die Augen nieder. „Ich wollte dich nicht verärgern. Dadurch, dass ich so oft alleine bin, habe ich irgendwie verlernt, die richtigen Fragen zu stellen. Seit mein Mann nicht mehr da ist ..." Ihre Stimme bricht und plötzlich wirkt sie ziemlich traurig.

Mir tut es extrem weh, sie so fertig zu sehen. Früher war sie eine lebensfrohe, herzliche Persönlichkeit, die andere mit ihrem Lächeln angesteckt hat. Heute ist sie nur noch ein Schatten ihrer selbst. Eine einsame, gebrochene Frau, die an ihrer Trauer kaputt zu gehen droht, obwohl Maman und ich alles tun, um ihr zu helfen. Leider können wir nicht rund um die Uhr für Mrs. Chambers da sein, weil meine Mutter arbeiten und ich in die Schule gehen muss.

Ich habe eine ungefähre Vorstellung davon, was sie gerade durchmacht. Zwar habe ich noch nie einen geliebten Menschen verloren, aber ich weiß genau, wie es ist, wenn man jemanden vermisst, den man mit ziemlicher Sicherheit niemals wiedersehen wird. Ich lege meine Gabel beiseite und greife nach ihrer aderigen Hand. „Sie müssen sich nicht entschuldigen", sage ich behutsam. „Kopf hoch, Mrs. Chambers. Tout ira bien. Alles wird gut."


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