29 - Theodore
Zusammen mit Adrien verlasse ich das Schulgelände. Wir hatten gerade Physik und kurz vor Ende der Stunde hat Mr. Johnson unsere korrigierten Klausuren ausgeteilt. Für uns steht nun fest, dass er unseren Betrug bemerkt haben muss, denn für unsere nahezu identischen Lösungen hat er uns beiden ein A gegeben, die Bestnote, die so viel wie excellent bedeutet.
Eigentlich sollten wir ihm dankbar sein, dass er uns nicht hat auffliegen lassen. Damit hat er uns auf jeden Fall einen Riesenärger erspart. Meine Eltern wären aus dem Fenster gesprungen, wenn ich wegen Schummelns ein F mit nach Hause gebracht hätte. Dabei habe ich das alles nur für einen guten Zweck getan, nämlich um meinem Kumpel den Arsch zu retten.
Adrien weiß meine Hilfe jedenfalls zu schätzen. Er hat versprochen, mir bald eine Pizza auszugeben, als Dankeschön dafür, dass ich die Klausur praktisch für uns beide geschrieben habe. Das nenne ich einen fairen Deal. Ihm geht es außerdem schon wieder etwas besser, auch wenn er traurig darüber ist, dass Noel bald wieder zurück nach Frankreich fährt. Wie ich ihn kenne, würde er am liebsten mitfahren.
„Was macht dein Dad hier?", fragt Adrien mich plötzlich und deutet in Richtung Ausgang. Jenseits des Tores, welches den Schulhof von der Straße trennt, parkt der Bentley meines Vaters. Er selbst hat die Scheiben runtergekurbelt und hält Ausschau nach mir.
„Keine Ahnung", brumme ich wenig erfreut. „Vielleicht will er mir sagen, dass er mich zur Adoption freigegeben hat oder so." Selbstverständlich hat er sich immer noch nicht bei mir entschuldigt, geschweige denn das Gespräch mit mir gesucht. Wenn ich ehrlich bin, habe ich aber auch nichts anderes von ihm erwartet.
„Wäre das wirklich so schlimm?", witzelt Adrien, bevor wir uns verabschieden und er die Straße runterläuft, während ich widerwillig auf Dads Wagen zusteuere.
„Was willst du denn hier?", frage ich nicht besonders herzlich und ignoriere die gaffenden Blicke einiger vorbeischlendernder Schüler, die anscheinend noch nie ein teures Auto aus der Nähe gesehen haben. Mir ist diese Art von Aufmerksamkeit unangenehm.
Dad lässt sich von meiner Unfreundlichkeit nicht abschrecken. „Ich dachte, wir unternehmen heute was zusammen", entgegnet er zu meiner Überraschung und verzieht dabei keine Miene. „Komm, steig ein."
Obwohl ich fest davon überzeugt bin, dass er gerade versucht, mich zu verarschen, komme ich der Aufforderung nach und rutsche auf den Beifahrersitz. „Hier", sage ich unvermittelt und drücke ihm meinen Prüfungsbogen in die Hand. „Bist du jetzt stolz?"
Aufmerksam begutachtet er die korrigierte Klausur, sein Gesichtsausdruck bleibt dabei vollkommen ernst. Nach wenigen Minuten schaut er auf. „Ich bin immer stolz auf dich", sagt er und gibt mir den Bogen zurück.
Schnaubend verstaue ich den Wisch in meinem Rucksack. „Und ich bin Jack the Ripper", murre ich, weil ich ihm kein Wort glaube. Schließlich hat er im Rahmen unserer letzten Auseinandersetzung noch etwas völlig anderes erzählt.
Mein Vater seufzt und dreht das Radio leiser. „Ich meine es ernst, Theodore", beteuert er schließlich. „Das, was ich neulich zu dir gesagt habe, war völliger Schwachsinn. Ich dachte, wir könnten den Nachmittag nutzen, um diese Sache zu klären. Deshalb schlage ich vor, du sagst mir jetzt, wo du gerne hinmöchtest."
Stirnrunzelnd sehe ich ihn an. Er wirkt nicht so, als würde er Scherze machen. Dass er seine eigenen Aussagen als Schwachsinn bezeichnet, ist auch schon mal ein Schritt in die richtige Richtung. Natürlich ist damit längst noch nicht alles vergeben und vergessen. Am liebsten würde ich ihm sagen, dass er mich einfach nach Hause fahren soll, aber ich schätze, das ist nicht unbedingt das, was er sich unter einem gemeinsamen Ausflug vorgestellt hat.
Seufzend lehne ich mich zurück und denke über meine Antwort nach. Ich erinnere mich an eine Zeit zurück, in der Dad mich jeden Freitag von der Schule abgeholt hat, um mit mir etwas zu unternehmen. Jeder dieser Ausflüge hat irgendwann damit geendet, dass wir gemeinsam Burger essen gegangen sind. An einen Ort sind wir besonders oft gefahren, einfach weil es mir dort so gut gefallen hat.
„Ich möchte zum Cabot Tower und danach Burger essen", höre ich mich sagen und rechne fast damit, dass Dad mich nun auslachen und mir sagen wird, dass er mich doch nur auf den Arm genommen hat.
„Na dann", meint er stattdessen und startet den Motor. „Auf geht's." Mehr sagt er nicht und ich bin ganz froh darüber. Irgendwie finde ich die Situation gerade ziemlich schräg.
Der Cabot Tower ist ein denkmalgeschützter, etwa dreißig Meter hoher Turm in einem öffentlichen Park, der sich auf dem Brandon Hill zwischen Clifton, Hotwells und dem Stadtzentrum befindet. Im Prinzip gibt's dort nichts Spektakuläres zu sehen, abgesehen vom weitreichenden Blick über die Stadt, der sich einem bietet, wenn man die engen Stufen innerhalb des Turms hochkraxelt.
Zum Glück dauert die Fahrt dorthin nicht allzu lange. Wir wechseln währenddessen kein einziges Wort miteinander und ich beginne mich zu fragen, wie Dad unseren Disput aufklären möchte, wenn er es scheinbar nicht einmal für nötig hält, mit mir zu reden. Vielleicht mithilfe von Zeichensprache oder Morsesignalen. Möglicherweise bin ich aber auch einfach nur zu ungeduldig.
Als wir den Tower erreichen, tauchen plötzlich unzählige alte Erinnerungen vor meinem geistigen Auge auf. Die meisten davon zeigen Dad und mich, wie wir gemütlich durch den Park spazieren, uns dabei unterhalten und Witze machen. Ich sehe eine jüngere Version von mir selbst, schmächtiger, kindlicher – und glücklicher. Auch mein Vater wirkt wesentlich lockerer als jetzt. Beruflicher Erfolg bringt eben nicht nur Vorteile mit sich.
Immer noch schweigend betreten wir den Turm. Außer uns ist keiner da. Die Stufen sind schmal und es ist ziemlich eng. Unwillkürlich muss ich grinsen, als mir wieder einfällt, dass ich hier drinnen einmal voll auf die Fresse geflogen bin und mir blutige Knie geholt habe. Es tat weh, aber ich fand es damals trotzdem lustig. Das Grinsen vergeht mir beim Gedanken daran, wie lange dieses Ereignis mittlerweile zurückliegt.
Oben angekommen weiß ich plötzlich, dass es die richtige Entscheidung war, hierher zu fahren. Die Aussicht über meine Heimatstadt Bristol ist unverändert beeindruckend und ich bin genauso fasziniert von ihr wie früher. Es ist sehr schade, dass wir in den letzten Jahren so selten hier waren, weswegen ich umso glücklicher bin, dass es heute geklappt hat. Dank Dad.
Während wir dort oben stehen und unsere Stadt betrachten, spüre ich auf einmal seine Hand auf meiner Schulter. „Es tut mir wirklich leid, weißt du", sagt er ruhig und ohne seine übliche Strenge. „Nicht du hast Fehler gemacht, sondern ich. Das war mir in diesem Moment gar nicht bewusst. Ich war nur darauf versessen, dass alles funktionieren muss. Nicht nur im Job, sondern auch zuhause. Leider bin ich etwas übers Ziel hinausgeschossen."
Ich nicke mit zusammengebissenen Zähnen. „Kann man wohl sagen." Endlich scheint er begriffen zu haben, dass sein Verhalten daneben war. Wenn auch mit reichlich Verspätung.
„Du sollst wissen, dass ich mich jeden Tag darüber freue, dass du mein Sohn bist", fährt mein Vater fort und sieht mich dabei ernst an. „Egal, ob deine Noten perfekt sind oder nicht. Ich weiß, dass meine Erwartungen manchmal zu hoch sind. Dafür möchte ich mich entschuldigen. Am Ende des Tages will ich nur das Beste für dich."
Zweifelnd erwidere ich seinen Blick. „Ich hoffe, dasselbe gilt in ein paar Wochen auch noch", antworte ich, weil ich befürchte, dass seine Entschuldigung nur auf Mums Drängen hin entstanden ist. Vielleicht sind das hier nichts als leere Worte und in wenigen Tagen hat er sie schon wieder völlig vergessen.
Dad legt einen Arm um meine Schultern und drückt mich kurz an sich. „Versprochen", sagt er nachdrücklich. „Falls ich demnächst wieder mal Blödsinn reden sollte, darfst du mich gerne an das erinnern, was ich dir gerade gesagt habe. Es gibt da übrigens noch etwas, worüber ich gerne mit dir reden würde."
Oh Gott, schießt es mir durch den Kopf, weil es irgendwie so klingt, als hätte er schlechte Nachrichten für mich. „Ich höre?", frage ich dennoch skeptisch und hoffe einfach, dass es nichts allzu Schlimmes ist.
„Ich finde, wir sollten zusammen verreisen", antwortet Dad und grinst angesichts meiner ungläubigen Miene. „Nur wir zwei. Wir könnten beide etwas Urlaub vertragen, oder nicht? Du darfst auch entscheiden, wohin es geht."
Okay, wow. Das hätte ich wirklich nicht erwartet. Grundsätzlich finde ich die Idee gar nicht so schlecht. Wahrscheinlich täte es uns beiden mal ganz gut, für einige Zeit hier rauszukommen. „Finde ich cool", sage ich deshalb und lege den Kopf schief. „Dir ist wirklich egal, wohin wir fliegen?"
„Von mir aus bis nach Australien", erwidert er lächelnd. „Kängurus in freier Wildbahn wollte ich schon immer mal sehen. Aber wie gesagt – du entscheidest." Er scheint es tatsächlich ernst zu meinen. Mehr noch, es sieht so aus, als würde er sich auf den bevorstehenden Urlaub mit mir freuen. Ich freue mich auch.
Bevor ich jedoch dazu komme, ihm das zu sagen, wirft Dad einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr. „Übrigens – was hältst du davon, wenn wir jetzt Burger essen gehen? Ich lad dich ein."
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