27 - Adrien

ACHTUNG! In diesem Kapitel werden sensible Themen wie Tod und Suizid behandelt. Wenn Du Dich damit nicht wohlfühlst, kannst Du es gerne überspringen oder auslassen.

Der Himmel über mir ist grau und wolkenverhangen. Nur stellenweise blitzt etwas Blau hervor. Ein eisiger Wind fegt über die Stadt und tief unter mir kräuselt sich das dunkle Wasser des River Avon. Trotz der Entfernung kann ich die Wellen deutlich erkennen. Ich weiß nicht genau, wie groß der Abstand ist, der mich von der Wasseroberfläche trennt. Siebzig oder fünfundsiebzig Meter vielleicht.

Vor Jahren musste ich in der Schule mal einen Vortrag über die Clifton Suspension Bridge halten. Damals wusste ich noch, wie hoch sie ist, aber dieses und weitere Details habe ich mittlerweile längst vergessen. Das einzige, woran ich mich erinnere, ist die Tatsache, dass diese Brücke einen schlechten Ruf genießt, weil sich gelegentlich Menschen von hier oben in den Tod stürzen. Einige überleben, andere nicht.

Ich für meinen Teil habe keine derartigen Absichten. Tatsächlich bin eher zufällig hier gelandet, nämlich auf der Suche nach einem Ort, an dem ich frei und ungestört sein kann. Die Brücke ist nicht weit von meinem Zuhause entfernt und erfüllt beide Bedingungen zu 100%. Zwar fahren hier gelegentlich Autos vorbei, aber davon lasse ich mich nicht beirren. Meine Aufmerksamkeit gilt alleine dem beschrifteten Blatt Papier in meinen Händen.

Der Wind zerrt unnachgiebig daran und würde ich es nicht festhalten, wäre es längst davongeflattert. Einzelne Regentropfen mischen sich unter die stürmischen Böen und sprenkeln Mrs. Chambers' Abschiedsbrief, den ich noch immer nicht gelesen habe. Im Gegensatz zu meiner Mutter. Nachdem sie fertig war, ist sie wieder in Tränen ausgebrochen. Das hat mir nur noch mehr Angst gemacht, aber ich weiß, dass ich mich dieser Angst früher oder später stellen muss.

Heute soll es endlich so weit sein. Ich habe mich extra dafür ins Freie begeben, weil ich mir einbilde, hier draußen besser atmen zu können. Meine Kehle fühlt sich an wie zugeschnürt und ich bin nervös, als stünde mir irgendeine schwere Prüfung bevor. Ich hole tief Luft, bevor ich mir ein Herz fasse und anfange, den Brief zu lesen, der Mrs. Chambers' letzte Worte an uns beinhaltet.

Liebe Danielle, lieber Adrien,

eigentlich wollte ich diese Zeilen niemals schreiben. Aber ich kann nicht gehen, ohne euch wenigstens zu erklären, warum ich getan habe, was ich getan habe. Das bin ich euch schuldig. Ihr seid die einzigen Menschen, die mir noch geblieben sind und es tut mir unendlich leid, euch sagen zu müssen, dass ich bei meinem letzten Arztbesuch die Diagnose Alzheimer bekommen habe.

Ihr wisst nichts davon, weil ich bewusst entschieden habe, euch nichts zu erzählen. Ich wollte nicht, dass ihr euch sorgt. Ihr habt schon so viel für mich getan. In den Wochen nach der Diagnose ist mir klar geworden, dass ich das nicht möchte. Ich möchte nicht erleben, wie ich jeden Tag ein Stückchen mehr meines Verstandes verliere, schwachsinnig werde und euch zur Last falle. Ich möchte nicht als einsame, verwirrte Frau sterben, die ihre letzten Jahre gar nicht mehr richtig wahrnehmen, geschweige denn genießen konnte.

Meine Zeit ist gekommen und ich habe mich entschlossen, zu gehen. Bitte seid mir nicht böse! Ich konnte mich nicht von euch verabschieden, obwohl ich nichts lieber getan hätte. Ohne euch zwei wunderbaren Menschen wären mir unzählige Momente voller Glück verwehrt geblieben. Ich werde für immer dankbar sein, dass sich unsere Wege gekreuzt haben und ich bin fest davon überzeugt, dass wir uns eines schönen Tages wiedersehen werden.

Weint nicht um mich, sondern denkt an mich und lächelt. Mir geht es gut, ich bin jetzt an einem besseren Ort, bei meinem Mann Grant. Wir werden von oben auf euch aufpassen und euch begleiten, egal wohin das Leben euch führt. Mögen alle eure Wünsche in Erfüllung gehen.

In Liebe und Dankbarkeit

Blaine Chambers

Ich schlucke und stütze mich auf das Brückengeländer. Das war es also. Am Tag ihres letzten Arzttermins habe ich sie noch besucht und mich gefragt, was der Grund für ihre traurige Stimmung sein könnte. Niemals wäre ich darauf gekommen, dass bei ihr Alzheimer diagnostiziert wurde. Die Krankheit, die Menschen ihres Verstandes beraubt und sie nach und nach immer mehr vergessen lässt.

Nach Mrs. Chambers' Tod wurde uns gesagt, dass sie vermutlich eine Überdosis Schlaftabletten eingenommen hat und daran verstorben ist. Jetzt verstehe ich, warum sie das getan hat. Ihre Beweggründe sind nachvollziehbar, doch das macht es nicht weniger schmerzhaft, im Gegenteil. Ich frage mich, ob es anders gekommen wäre, wenn ich früher etwas gemerkt hätte. Ob sie dann vielleicht noch leben würde.

Mit zittrigen Fingern falte ich den Brief zusammen und verstaue ihn in meiner Jackentasche. Plötzlich friere ich am ganzen Körper, obwohl es heute nicht besonders kalt ist. Ich atme stoßweise aus, während der scharfe Wind mir die Tränen in die Augen treibt. Oder sind es meine Schuldgefühle, die soeben in mir wach werden und mir einreden wollen, dass ich es hätte verhindern können?

Das letzte Mal habe ich geweint, als der Arzt mir im Krankenhaus gesagt hat, dass ich nie wieder professionell Fußball spielen kann. Seitdem ist es nicht mehr dazu gekommen, weil ich emotional zu abgestumpft war, um so etwas wie Traurigkeit zu empfinden. Ich habe mich strikt geweigert, negative Dinge an mich ranzulassen, weil ich dachte, ich könnte es nicht aushalten, wenn wieder etwas Schlimmes passiert.

Wahrscheinlich war dieser Gedanke genau richtig. In diesem Moment fühle ich mich ähnlich verzweifelt wie damals, als mein Traum von einem Tag auf den anderen zerstört wurde. Die Stimme der Vernunft sagt mir, dass es nicht meine Schuld ist, doch sie wird übertönt von einer anderen, lauteren Stimme, die mir Vorwürfe macht und mich in meinen Zweifeln bestärkt. Ich glaube ihr, weil ich denke, dass sie Recht hat.

„Adrien?" Erschrocken wirble ich herum und sehe plötzlich Noel auf mich zukommen. Seine große Gestalt hebt sich vor dem grauen Himmel ab und seine Haare sind zerzaust, als wäre er der Windgott höchstpersönlich. Keine Ahnung, was er hier macht. Ich habe niemandem gesagt, wohin ich gehe.

Als er nur noch wenige Schritte von mir entfernt ist, sehe ich, dass er ebenfalls zittert. Aber nicht vor Kälte oder Trauer. Soweit ich weiß, gibt es eine einzige Sache, die meinem Cousin wirklich Angst einjagt und das ist Höhe. Es muss ihn unglaubliche Überwindung gekostet haben, die Brücke zu betreten. Mir entgeht nicht, dass er es vermeidet, in Richtung Brüstung zu schauen. Stattdessen sieht er mir fest in die Augen, während er langsam näherkommt.

„Geh vom Geländer weg!", verlangt er, weil er offenbar befürchtet, ich könnte runterspringen oder stürzen. „Bitte, Adrien, ich kann dich da nicht sehen!" Er streckt die Hände nach mir aus und ohne weiter darüber nachzudenken, lasse ich mich nach vorne in Noels Arme fallen.

Wir umarmen uns nicht oft, aber wenn, dann richtig. Ich bin erleichtert, dass er da ist, auch wenn ich immer noch nicht weiß, wie er mich gefunden hat. Vor meinem Cousin ist es mir nicht peinlich, Gefühle zu zeigen. Immerhin kenne ich ihn schon mein ganzes Leben lang. Irgendwann lässt Noel mich jedoch los und tritt einen Schritt zurück, damit er mich ansehen kann. Sorgen stehen ihm groß und breit ins Gesicht geschrieben.

„Woher wusstest du, dass ich hier bin?", frage ich ihn und wische mir mit dem Ärmel meiner Jacke über die Augen. Insgeheim habe ich einen Verdacht, der sich Sekunden später als richtig erweist.

„Ich hatte Angst, dass du was Dummes machst", antwortet er unverblümt. „Du warst vorhin so komisch drauf. Darum bin ich dir hinterher gegangen. Sag mir bitte, dass du nicht wirklich da runter springen wolltest." Unsicherheit schwingt in seiner Stimme mit.

Entschieden schüttele ich den Kopf. „Ich wollte nicht springen. Wirklich nicht. Nur alleine sein. Aber ich bin trotzdem froh, dass du da bist." Auch wenn ich natürlich hoffe, dass er es sich nicht zur Gewohnheit macht, mich zu verfolgen.

„Alleine sein?", wiederholt Noel zweifelnd. „Warum?" Dafür, dass er mit einer ausgeprägten Höhenangst zu kämpfen hat, bleibt er erstaunlich ruhig. Nach außen hin lässt er sich jedenfalls kaum etwas anmerken.

„Deswegen." Ich greife in meine Jackentasche und zeige ihm Mrs. Chambers' Brief. Er weiß nicht, was drinnen steht, aber dass sie keines natürlichen Todes gestorben ist, hat auch er mitbekommen.

Noel schnaubt, verdreht die Augen und packt mich dann mit festem Griff an den Schultern. „Jetzt hör mir mal gut zu, mein Freund. Es. Ist. Nicht. Deine. Schuld. Okay? Du hättest nichts machen können, auch wenn du das vielleicht denkst. Ich verstehe, dass es hart für dich ist, aber in diesem Fall gibt's keinen Schuldigen. Also hör auf, dir so was einzureden."

Ein Teil von mir weiß, dass er Recht hat, doch der andere Teil weigert sich, ihm Gehör zu schenken. „Mir geht's trotzdem scheiße", entgegne ich lahm und ziehe die Nase hoch wie ein kleiner Junge, der sich beim Spielen die Knie aufgeschlagen hat.

Mein Cousin nickt verständnisvoll. „Das ist normal. Partir, c'est mourir un peu." Abschied nehmen bedeutet immer ein wenig sterben.

Stirnrunzelnd sehe ich ihn an. „Der Spruch ist aber nicht von dir, oder?" So sehr ich Noel auch mag, an ihm ist definitiv kein Philosoph vorbeigegangen.

Er lacht kurz auf und winkt sofort ab. „Natürlich nicht. Aber es stimmt doch irgendwie, findest du nicht auch?" Wo er Recht hat, hat er Recht.

Ich nicke bestätigend. An diesem Satz ist tatsächlich etwas Wahres dran. Erneut wische ich mir über die Augen und schaue anschließend zum Himmel hinauf. Direkt über uns ist die Wolkendecke aufgebrochen, dahinter leuchtet ein klarer, tiefblauer Streifen. Wahrscheinlich ist es albern, doch für einen kurzen Moment stelle ich mir vor, dass Mr. und Mrs. Chambers irgendwo dort oben sind und mich sehen können. Ein tröstlicher Gedanke.

„Adrien?", meldet sich Noel zu Wort und holt mich prompt zurück auf den Boden der Tatsachen. „Können wir gehen? Ich hab echt Schiss hier oben." Erst jetzt fällt mir auf, dass er sich permanent nervös über die Lippen leckt. Bei ihm ist das immer ein Zeichen von Stress.

„Na klar", antworte ich bereitwillig und lege ihm einen Arm um die Schultern, damit er sich etwas abregt. „Lass uns nach Hause gehen. Viens." Gemeinsam verlassen wir die Brücke, denn auch mich hält hier nichts mehr. Ich bin hierhergekommen, um den Brief zu lesen und das habe ich getan. Endlich.


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