25 - Grace
Neben all meinen anderen Hobbys gibt es zwei Dinge, die ich besonders gerne mache: Lernen und kochen, beziehungsweise backen. Ersteres ist praktisch zu meinem Lebensinhalt geworden, seit ich mich in die aufwändigen Vorbereitungen für den Mathewettbewerb gestürzt habe. Mein Kopf raucht und ist bis zum Platzen gefüllt mit unendlich vielen Zahlen und Formeln.
Mir kommt es mittlerweile so vor, als hätte ich schon ewig nichts anderes mehr gemacht, außer über meinen Büchern zu brüten und zu lernen. Ich glaube, ich weiß jetzt, wie sich Hermine gefühlt haben muss, als sie sich im fünften und sechsten Band auf ihre magischen Prüfungen vorbereitet und unermüdlich durch die Bibliothek von Hogwarts gelesen hat.
Genau wie sie habe auch ich nervige Menschen um mich herum, die mich bei jeder Gelegenheit davon ablenken. Der einzige Unterschied ist nur, dass meine Störenfriede Scarlett und Lily heißen statt Harry und Ron. Sie sind beide der Meinung, ich würde zu wenig Zeit mit ihnen verbringen und überreden mich deshalb zu einem Mädels-Nachmittag, inklusive gemeinsamen Kochen und jede Menge Klatsch und Tratsch.
Um ehrlich zu sein, bin ich ihnen sehr dankbar für die Ablenkung. Ausnahmsweise. Ich liebe die Mathematik, aber offen gestanden hängt sie mir inzwischen zum Hals raus. Meine Augen können keine Zahlen mehr sehen, ich muss dringend auf andere Gedanken kommen. Deshalb freue ich mich total darauf, den Nachmittag mit meiner Schwester und meiner besten Freundin zu verbringen.
Wir kochen öfter zusammen, meistens jedoch ohne besonderen Erfolg. Anstatt etwas Leckeres zu zaubern, kreieren wir in neun von zehn Fällen nur ein riesengroßes Chaos, das es hinterher zu beseitigen gilt. Außer uns ist oft keiner dazu bereit, unsere kulinarischen Meisterwerke zu probieren, aber interessanterweise schmeckt es uns selbst immer richtig gut. Diesen Mythos werde ich wohl nie verstehen. Scarlett und Lily übrigens auch nicht.
Heute haben wir uns einen Klassiker der indischen Küche vorgenommen: Chicken Tikka Masala, ein Gericht, das wir alle gerne essen, aber noch nie selber zubereitet haben. Für uns als Köchinnen ist es demnach eine waschechte Premiere. Mal sehen, ob am Ende tatsächlich etwas Essbares dabei rauskommt. Ich habe da so meine Zweifel. Wie eigentlich immer, wenn ich mit den beiden Mädels in der Küche zugange bin.
Unsere vorherigen Koch-Sessions haben mittlerweile dazu geführt, dass wir eine Art eigene Routine entwickelt haben. Wir beginnen nämlich jedes Mal damit, um die Wette Zwiebeln und Knoblauch zu schnippeln. „Wer als Letzte fertig ist, muss 'ne Ingwerknolle essen", verkündet Scarlett, woraufhin wir alle anfangen, das Gemüse zu zerkleinern, als ginge es um unser Leben.
Ich will auf gar keinen Fall Diejenige sein, die sich zur Strafe die Ingwerknolle reinpfeifen muss, weswegen ich mich umso mehr ins Zeug lege. Verbissen hacke ich die Knoblauchzehen klein, während Scarlett und Lily eher halbherzig bei der Sache sind und lieber fleißig den neusten Tratsch austauschen. Wie so oft geht es dabei in erster Linie um die Herren der Schöpfung. Manchmal frage ich mich, ob die beiden überhaupt ein anderes Thema kennen.
Tatsächlich bin ich derartig konzentriert, dass ich nur die Hälfte mitbekomme, aber das ist nicht weiter schlimm, denn sobald der Name „Sam" fällt, weiß ich ohnehin Bescheid. Sam ist Lilys Freund, mit dem sie seit ungefähr sechs Monaten eine Beziehung führt, die ihrer Ansicht nach durchaus besser laufen könnte. Das liegt hauptsächlich an Sam, der ihr scheinbar zu wenig Aufmerksamkeit schenkt. Ein großer Fehler, denn Lily ist eine Person, die davon jede Menge braucht.
Ich habe ihr bestimmt schon hundertmal erklärt, dass sie dieses Problem lieber mit ihrem Freund besprechen sollte statt mit uns, doch wie man sieht, hat das nicht sonderlich viel gebracht. Im Gegensatz zu mir ist Scarlett eifrig bemüht, ihr Tipps zu geben, allerdings glaube ich kaum, dass meine kleine Schwester in Sachen Beziehungen die ideale Ratgeberin ist. Ihre bisherigen Liebschaften haben schließlich nie länger als ein paar Monate gehalten.
Seitdem sie mit ihrem letzten Freund Schluss gemacht hat, steht sie gefühlt jede Woche auf jemand anderen. Momentan scheint Adrien ihr Auserwählter zu sein, aber das kann in ein paar Tagen schon wieder anders aussehen. So sprunghaft, wie Scarlett ist, gehe ich sogar fest davon aus. Bis dahin muss ich es wohl ertragen, dass sie mich nach jeder unserer Nachhilfestunden über ihn ausfragt.
Zwischendurch natürlich auch, einfach weil sie gerne über ihre ständig wechselnden Angebeteten redet. Selbst beim Kochen scheint sie nichts anderes im Kopf zu haben. „Und, Grace?", flötet sie unschuldig, während sie nebenbei ihre Zwiebel verhackstückt. „Wie läuft's so mit den Jungs?"
Mir entgeht nicht, dass sie verschwörerisch mit ihren Wimpern klimpert. Ich hingegen verziehe keine Miene und tue so, als wüsste ich nicht, wovon sie redet. „Wen meinst du?", frage ich, ohne mich beim Schnippeln aus der Ruhe bringen zu lassen.
„Tu doch nicht so", schaltet sich Lily kichernd ein. „Du weißt genau, wen wir meinen. Ist mit Theodore noch was gelaufen nach eurem Kaffeedate?" Erwartungsvoll reißt sie ihre grünen Augen auf und erinnert mich in diesem Moment an einen übergroßen Koboldmaki.
Ihre neugierige Frage führt dazu, dass ich mit dem Messer abrutsche und mir beinahe die Spitze meines Zeigefingers abhacke. „Hör auf zu spinnen", maule ich, weil ich mir allmählich vorkomme, als wäre ich gegen meinen Willen in irgendeiner albernen Klatschsendung gelandet.
Ich weiß nicht, warum Scarlett und Lily denken, Nachhilfestunden würden mit der Zeit automatisch dazu führen, dass man sich ineinander verliebt. Es stimmt zwar, dass ich die Jungs inzwischen besser leiden kann als noch vor ein paar Wochen, aber deswegen muss ich nicht gleich einen von ihnen heiraten. Obwohl ich zugeben muss, dass beide ihre guten Seiten haben, die man ihnen jedoch nicht auf den ersten Blick ansieht.
Theodore zum Beispiel ist bei weitem nicht so arrogant, wie ich anfangs dachte. Tatsächlich kann er viel mehr als nur der Sohn wohlhabender Eltern zu sein. Sein mathematisches Verständnis beeindruckt mich immer wieder und er scheint ein ehrlicher Typ zu sein, der sich nicht verstellt. Wäre er weniger launenhaft und kein angehender Alkoholiker, gäbe er sicher einen annehmbaren Partner ab. Vorausgesetzt, er hat nach der Sache mit Elsie überhaupt noch Interesse an so etwas.
„Und wie geht's Adrien?", hakt Scarlett weiter nach, die vor lauter Sensationsgier beinahe ihren eigenen Vorschlag vergisst – nämlich, dass die Letzte, die fertig ist, eine Ingwerknolle essen muss.
„Hervorragend", antworte ich und lege mein Messer beiseite, weil ich fertig bin. „Er ist gut drauf, weil sein Cousin bei ihm zu Besuch ist, der übrigens echt heiß aussieht, aber leider schon 'ne Freundin hat." Breit grinse ich in die Runde. „Na? Wer von euch beiden ist die Letzte?"
Tatsächlich ist meine Schwester die Unglückliche, die sich nach einigem Protest und mit gequälter Miene eine Knolle der berüchtigten Gewürzpflanze einverleibt, nur um danach ins Bad zu rennen und sich minutenlang den Mund auszuspülen. Lily und ich machen unterdessen weiter, damit wir heute noch fertig werden. Leider stellt sich bald heraus, dass auch dieses Kochexperiment zum Scheitern verurteilt ist.
Die Hähnchenbrust lässt sich fast nicht kauen, weil wir sie zu zäh gebraten haben, die Soße ist viel zu scharf und der Reis, der eigentlich als Beilage gedacht war, brennt am Topfboden an, sodass wir die Hälfte wegschmeißen müssen. Zwar essen wir alle unsere Teller leer, so richtig begeistert ist aber ausnahmsweise keine von uns. Das einzig Positive an der Sache ist, dass wir unseren Spaß hatten.
Während wir noch mit Abräumen beschäftigt sind, kommt Dad von der Arbeit nach Hause und wirft einen kritischen Blick auf die übriggebliebenen Reste. „Was ist das?", fragt er mit gespieltem Entsetzen. „Kann man das essen?" Danke für das Kompliment.
„Nicht witzig", entgegne ich trocken und spare mir die Bemerkung, dass er eventuell überprüfen sollte, ob die Gläser in seiner Brille noch die richtige Stärke haben. Mein Dad ist nämlich Augenoptiker von Beruf. Als Strafe für seinen frechen Kommentar müsste er eigentlich auch einen Teller essen.
Stattdessen entfernt er sich lachend aus der Küche, sodass wir Mädels wieder unter uns sind. Ich will gerade den roten Soßenfleck auf der Tischdecke mit einem nassen Lappen bearbeiten, als mein Handy sich meldet. Seufzend trockne ich meine Hände ab, die zu meinem Missfallen immer noch nach Knoblauch riechen und öffne WhatsApp. Adrien ist Derjenige, der mir geschrieben hat.
Adrien (17:11 Uhr): Hey. Ich komme morgen nicht zur Nachhilfe.
Grace (17:13 Uhr): Warum nicht? Keine Lust zählt nicht als Ausrede!
Adrien (17:14 Uhr): Mrs. Chambers ist gestorben. Ich brauche ein bisschen Zeit für mich.
Grace (17:16 Uhr): Tut mir leid, das wusste ich nicht!! Kein Problem, nimm dir die Zeit, die du brauchst. Kann ich sonst irgendwas für dich tun?
Adrien (17:19 Uhr): Lieb von dir, aber nein danke. Ich komm schon klar. Bis dann.
Mit großen Augen starre ich den Chatverlauf an. Ich wünschte, ich könnte meine erste Nachricht ungelesen zurücknehmen. Der Spruch erscheint mir im Nachhinein mehr als unpassend, aber ich hätte im Leben nicht damit gerechnet, dass er mir Sekunden später den Tod seiner Nachbarin verkünden würde. Seiner Fast-Oma, besser gesagt.
Mir tut es von Herzen leid für ihn, dass er sie verloren hat. Sie scheint ihm ja echt wichtig gewesen zu sein. Unter diesen Umständen kann ich natürlich verstehen, dass er die Nachhilfe lieber absagen will. Schade eigentlich, dass ich nichts für ihn tun kann. Oder eher, dass er mich nicht lässt. Insgeheim zweifle ich nämlich daran, dass er klar kommt.
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