24 - Adrien

Seit Noels Ankunft in Bristol ist genau eine Woche vergangen. Noch weiß er nicht, wann er wieder abreisen wird, aber insgeheim hoffe ich, dass er sich damit noch ein wenig Zeit lässt. Es macht mich richtig glücklich, dass er da ist, denn ich bin ein Einzelkind und habe mir schon von klein auf Geschwister gewünscht. Mein Cousin war für mich immer das, was einem Bruder am nächsten kommt.

Bis jetzt haben wir jeden Tag etwas gemeinsam unternommen, von langen Fußmärschen kreuz und quer durch die Stadt bis hin zu Kinobesuchen und Abstechern in diverse Einkaufszentren. Auch heute waren wieder unterwegs – erst in der Innenstadt und danach in einem Steakhaus, weil Noel rumgescherzt hat von wegen, er müsse nach all den Schnecken und Froschschenkeln mal wieder etwas Richtiges essen.

Wir haben Theodore gefragt, ob er mitkommen möchte, aber er hat sich nach seinem wilden Saufgelage noch nicht fit genug gefühlt. Verständlich. Ich habe den Eindruck, dass ihm die ganze Sache im Nachhinein mächtig unangenehm ist. Nach unserem Besuch mussten Grace und ich ihm zum Beispiel hoch und heilig versprechen, seinen Eltern gegenüber absolutes Stillschweigen zu bewahren. An seiner Stelle hätte ich auch Schiss vor ihrer Reaktion.

In der Schule hat übrigens keiner gemerkt, dass Grace und ich mehrere Stunden lang den Unterricht geschwänzt haben. Am selben Tag gab es nämlich eine Messerstecherei auf dem Schulhof, bei der zum Glück niemand ernsthaft verletzt wurde. Dieses Ereignis hat jedoch dafür gesorgt, dass alles andere in den Hintergrund gerückt ist, darunter auch unser unentschuldigtes Fernbleiben. Gut für uns, denn damit sind wir raus dem Schneider.

Wie auch immer. Auch ohne Theodore hat der Ausflug heute richtig viel Spaß gemacht. Mit Noel unterwegs zu sein, bedeutet zugleich, dass wir jede Menge Konversationen mit Fremden führen. Er ist weitaus extrovertierter als ich und hat keinerlei Hemmungen, Leute anzusprechen. Sein nicht perfektes Englisch stellt dabei kein Hindernis für ihn dar, im Gegenteil: Die Meisten loben seine Sprachkenntnisse und behaupten, dass er besser Englisch spricht als Harry Kane. Nun gut, das ist auch nicht besonders schwer.

Die Kellnerinnen im Steakhaus waren jedenfalls sehr angetan von meinem Cousin. Tatsächlich hat er mehr mit ihnen gelabert als mit mir und dabei ziemlich fröhlich gewirkt. Obwohl er eine Freundin zuhause hat, ist Noel kleinen Flirts und Schäkereien nicht abgeneigt. Ich kenne ihn jedoch gut genug, um zu wissen, dass er dabei keine Hintergedanken hat. Er kommt einfach gut bei anderen Menschen an und ist nett zu jedem. Wenn Isabelle ein Problem damit hätte, wäre sie wohl kaum mit ihm zusammen.

Mittlerweile sind wir auf dem Weg nach Hause und unterhalten uns über die kulturellen Unterschiede zwischen England und Frankreich. Zwischenzeitlich gerate ich ins Grübeln, denn Noel möchte von mir wissen, auf wessen Seite ich kämpfen würde, sollte es jemals zu einer Wiederholung des Französisch-Englischen-Krieges kommen, was wir natürlich beide nicht hoffen. Es überrascht mich nicht, dass er solche Fragen stellt. Schließlich dient sein Vater der Armee.

Ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass ich eine solche Entscheidung niemals in der Realität treffen muss, jedoch würde sie wahrscheinlich zugunsten meines Heimatlandes fallen. Blut ist dicker als Wasser und meine Familie stammt nun mal aus Frankreich. Tatsächlich liebe ich aber beide Länder mitsamt der Menschen, die dort leben. Das wird für immer so bleiben. Ohne jeden Zweifel.

Als wir die Vicarage Road erreichen, fährt uns ein Krankenwagen entgegen, langsam und ohne Blaulicht. Scheinbar gibt es gerade keinen akuten Notfall. Der Fahrer hupt trotzdem, weil Noel und ich mitten auf der Straße gehen. Schon klar, wir beide wissen, was ein Bürgersteig ist und wozu man ihn benutzt, aber diese Straße ist echt kaum befahren. So gut wie niemand, der hier wohnt, läuft auf dem Bürgersteig.

Der Fahrer des Krankenwagens scheint heute einen schlechten Tag zu haben, denn er hupt gleich mehrfach, obwohl er längst freie Bahn hat. „Typisch Engländer", frotzelt Noel und sieht dem Wagen kopfschüttelnd nach. „Die müssen immer direkt übertreiben."

„Typisch französische Divas", kontere ich und remple ihn leicht an. „Die sind immer sofort beleidigt." Erst nachdem ich zu Ende gesprochen habe, fällt mir auf, dass dieser Satz haargenau auf mich zutrifft. Ups.

„Dann sind wir ja schon zwei!", lacht Noel und revanchiert sich, indem er mir einen gezielten Stoß verpasst, der mich beinahe in einen Vorgarten fliegen lässt. Wenn hier einer übertreibt, ist es definitiv mein Cousin.

Während wir uns gegenseitig rumschubsen und dabei alberne Witze reißen, fällt mir leicht verspätet auf, dass etwas anders ist als sonst. In der Nähe unseres Hauses stehen mehrere Leute auf der Straße, einige davon in Uniform. Sie sprechen miteinander, wirken hektisch und aufgelöst. Erst bei näherem Hinsehen bemerke ich dann die Polizeiautos, die vor dem Haus mit der Nummer 82 parken. Das Haus, in dem Mrs. Chambers wohnt.

„Was geht denn hier ab?", höre ich Noels Stimme, der die ungewöhnliche Situation inzwischen auch bemerkt hat. Ich will ihm gerade sagen, dass ich genauso verwirrt bin wie er, als ich unter all den Menschen plötzlich meine Mutter entdecke.

Ohne Jacke und mit hochgezogenen Schultern steht sie neben einem Polizisten, der einen Notizblock in der Hand hält und ihr offenbar einige Fragen stellt. Trotz der Entfernung von knapp hundert Metern sehe ich, dass ihre Wimperntusche verschmiert ist und sie sich mit einem Taschentusch immer wieder die Augen abtupft. Dann fällt mein Blick auf den schwarzen Wagen, der schräg hinter ihr parkt. Ich schlucke, als ich erkenne, dass es ein Leichenwagen ist.

„Adrien, Noel!" Maman hat uns gesehen und eilt mit wehendem Haar auf uns zu. Sie klingt völlig fertig, ihre Schultern beben. „Ich bin so froh, dass ihr da seid! Mrs. Chambers, sie ist ..." Mitten im Satz stockt sie und schnieft in ihr Taschentuch.

Als ihr Sohn wäre es vermutlich meine Aufgabe, sie zu trösten, aber dafür bin ich gerade viel zu aufgeregt. „Was ist mit ihr?", frage ich laut, fast schon unwirsch. „Was ist mit Mrs. Chambers?" Ich meine es nicht böse, doch ich habe das untrügliche Gefühl, dass etwas Schreckliches passiert ist, während wir fort waren.

„Ich weiß es nicht!" Maman hebt die Hände zu einer hilflosen Geste. „Vorhin habe ich bei ihr geklingelt, um zu schauen, ob alles in Ordnung ist. Aber sie hat nicht aufgemacht, ist auch nicht ans Telefon gegangen. Dann habe ich die Polizei gerufen. Sie sind ins Haus und ..." Wieder bricht ihre Stimme und sie wischt sich die Tränen aus dem Gesicht.

„Putain de merde", murmelt Noel, der mit banger Miene zum Hauseingang starrt. Ich folge seinem Blick und habe plötzlich das Gefühl, dass der Boden unter mir nachgibt.

Soeben wird ein Sarg rausgetragen und zum Leichenwagen gebracht. Maman schluchzt heftiger und Noel und ich kommen gleichzeitig auf die Idee, sie in den Arm zu nehmen. Während Ersterer ihr beruhigende Worte zuflüstert, hat es mir vollends die Sprache verschlagen. Ich weiß überhaupt nicht, wie mir geschieht, ob das hier real ist oder nur ein Alptraum, aus dem ich gleich aufwachen werde.

Ich kann einfach nicht glauben, was ich hier sehe. Die Bilder sind grausam und eindeutig und trotzdem will ich es nicht wahrhaben. Dabei weiß der logisch denkende Teil meines Gehirns bereits, dass das hier kein Traum sein kann. Dafür fühlt es sich viel zu echt an. Eine Sache spüre ich besonders deutlich. So deutlich, dass es beinahe schon wehtut. Es ist mein schlechtes Gewissen. Das Gefühl, für all das hier mitverantwortlich zu sein.

„Verzeihung, Sir?" Ein junger, nervös wirkender Polizist steht vor mir und hält etwas in der Hand. „Sind Sie Adrien Cabal?" Scheu mustert er mich, als wäre es ihm unangenehm, mich anzusprechen.

Stumm nicke ich und hoffe, dass er nicht vorhat, mich mit irgendwelchen sinnlosen Fragen zu bombardieren. Das würde erstens nichts ändern und wäre zweitens extrem schwierig für mich, da ich im Augenblick um Worte verlegen bin. Doch der Polizist scheint nichts dergleichen zu planen. Stattdessen zeigt er mir den rechteckigen Gegenstand, den er mit sich führt. Ein Briefumschlag, auf dem etwas geschrieben steht.

„Das hier wurde bei der Dame gefunden", erklärt er mit seinem Dackelblick, der darauf schließen lässt, dass die Sache ihn nicht kaltlässt. Im Gegenteil. „Ich denke, der Inhalt ist nur für Sie und Ihre Mutter bestimmt." Mitfühlend schaut er zu Maman, die immer noch an Noels Schulter weint und offensichtlich völlig neben sich steht.

Mit gemischten Gefühlen nehme ich den Umschlag entgegen. „Danke", sage ich mit rauer Stimme, woraufhin der Polizist mir höflich zunickt und sich anschließend zurückzieht.

In den wenigen Worten, die auf das weiße Papier geschrieben wurden, erkenne ich Mrs. Chambers' saubere Handschrift sofort wieder. Schließlich habe ich oft genug Karten von ihr zum Geburtstag oder zu Weihnachten bekommen. Immer mit einem netten Spruch oder Glückwünschen darin. Danielle & Adrien Cabal steht außen auf dem Umschlag, doch ich traue mich nicht, ihn zu öffnen. Ich glaube nämlich zu wissen, um welche Art von Brief es sich handelt.

Wer ist schon bereit, den Abschiedsbrief einer Person zu lesen, von deren Tod man gerade erst erfahren hat? Ich bin es auf jeden Fall nicht. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob ich es jemals sein werde. Ich weiß gar nichts mehr.

Passt auf euch auf, ihr Lieben <3


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