23 - Theodore

Wenn ich in den vergangenen vierundzwanzig Stunden eins gelernt habe, dann, dass es die dümmste, beschissenste Idee meines Lebens war, alleine eine halbe Flasche Whisky zu trinken. Ich glaube, ich habe noch nie so viel gereihert und noch während ich über der Kloschlüssel hing, habe ich mir geschworen, dieses Zeugs nie wieder anzurühren. Nie wieder.

Neben der Kotzerei hatte ich zeitweise Phasen, in denen ich komplett weggetreten war und kaum noch etwas mitbekommen habe. Ich erinnere mich nicht mehr genau, aber ich weiß, dass ich irgendwann auf meinem Bett eingeschlafen und später in meinem eigenen Erbrochenen liegend aufgewacht bin. In diesem Moment habe ich mich vor mir selbst geekelt.

Später ist es mir irgendwie gelungen, mich ins Badezimmer zu schleppen, um eine heiße Dusche zu nehmen. Danach habe ich mich zwar wieder sauber gefühlt, aber immer noch so, als wäre ich aus großer Höhe auf den Boden gestürzt und anschließend von einem LKW überfahren worden. Das Schlimmste ist jedoch meine Alkoholfahne, die trotz dreimaligem Zähneputzen hartnäckig an mir haften bleibt.

Auf der Couch im Wohnzimmer habe ich mir eine Art Krankenlager eingerichtet, mit ein paar Flaschen Wasser, Kopfschmerztabletten – ganz wichtig – und einem Eimer, der zum Glück noch unbenutzt ist. Mein Magen ist so leer, dass ich gar nicht mehr göbeln könnte, selbst wenn ich's wollte. Vorhin habe ich versucht, ein Sandwich zu essen, aber nach nur einem Bissen musste ich aufhören, weil mir sofort wieder schlecht geworden ist.

Das war vor ungefähr zwei Stunden. Dank einer Ladung Tabletten haben meine Kopfschmerzen mittlerweile etwas nachgelassen, doch ich bin immer noch weit davon entfernt, mich gut oder wenigstens normal zu fühlen. Es ist unfassbar öde, stundenlang alleine in diesem riesigen Haus zu liegen, ohne mit jemandem reden zu können. Gut, Garfield ist bei mir, aber der zählt nicht.

Zwischendurch schalte ich die Glotze ein, um auf andere Gedanken zu kommen, aber mein Brummschädel ist damit überhaupt nicht einverstanden, weswegen ich es schon bald wieder aufgebe. Als es irgendwann an der Tür klingelt und ich mich ächzend aufrichte, werde ich von einem heftigen Schwindelanfall geplagt. Ich brauche mehrere Minuten, bis ich dort ankomme, doch beim Anblick von Adrien und Grace geht's mir plötzlich schlagartig besser.

Ich freue mich total über ihren spontanen Besuch, auch wenn ich sehr überrascht bin, vor allem Grace hier zu sehen. Keine Ahnung, wie Adrien es geschafft hat, sie zum Schwänzen zu überreden. Eigentlich bin ich davon ausgegangen, dass sie sich eher ein Bein abhacken würde, als verbotenerweise dem Unterricht fernzubleiben. Ziemlich lustig, wenn ich so darüber nachdenke.

Dass ich mich beinahe bewusstlos gesoffen hätte, findet Grace dagegen eher weniger lustig. Mit kritischem Blick beäugt sie die Tablettenblister auf dem Wohnzimmertisch, den leeren Eimer und meine Augenringe, die aussehen, als hätte ich mich geprügelt oder so. Wenigstens spart sie sich einen altklugen Vortrag darüber, dass bei übermäßigem Alkoholkonsum tausende Gehirnzellen absterben. Dafür bin ich ihr ausgesprochen dankbar.

Garfield freut sich ebenfalls über unsere Gäste, jedoch aus einem völlig anderen Grund. In den höchsten Tönen jammernd streicht er um Adriens Beine und ich räuspere mich verlegen. „Könnte ihn vielleicht einer von euch füttern?", frage ich zerknirscht. „Wenn ich sein Katzenfutter rieche, muss ich garantiert wieder ..."

„Schon klar", fällt Adrien mir ins Wort und streichelt mein hungriges Haustier. „Ich kümmere mich darum." Gefolgt von Garfield verschwindet er in der Küche und ich atme erleichtert auf. Momentan löst bei mir der bloße Gedanke an den muffigen Geruch von Katzenfutter einen leichten Würgereiz aus.

Während der barmherzige französische Samariter meinen Kater versorgt, schmeiße ich mich wieder auf die Couch, weil der Weg bis zur Haustür und zurück meinen Kreislauf überfordert hat. Grace nimmt derweil in einem der Sessel Platz und mir fällt auf, dass sie bis jetzt noch kein Wort von sich gegeben hat. Wenige Augenblicke später ist es allerdings vorbei mit ihrer Zurückhaltung.

„Du, sag mal", fängt sie vorsichtig an. „Was ist da eigentlich passiert zwischen dir und Elsie? Hast du dich wegen ihr betrunken?" Scheu mustert sie mich, als hätte sie Angst vor meiner Reaktion.

Ich stutze, weil ich erstens überrascht bin, dass sie davon weiß und zweitens null Bock habe, mit ihr über meine hinterhältige Ex zu sprechen. „Wie kommst du darauf?", frage ich deshalb, um einer direkten Antwort auszuweichen. In meinem Inneren brodelt es bereits.

„Na ja", erwidert Grace zögerlich. „Letztens habe ich mitbekommen, wie sie einer Freundin erzählt hat, sie hätte mit dir Schluss gemacht, weil du zu klug für sie warst." Das ist ja auch nicht schwer.

Mir entfährt ein abfälliges Schnauben. Sofort werde ich wütend, doch nach außen hin gelingt es mir, einigermaßen ruhig zu bleiben. „Das ist Bullshit", entgegne ich gepresst. „Nicht sie hat Schluss gemacht, sondern ich. Außerdem war ich nicht klug. Wäre ich es gewesen, hätte ich ihr falsches Spiel schon viel früher durchschaut." Und ich hätte auf Diejenigen gehört, die mich vor ihr gewarnt haben. Wie Adrien zum Beispiel.

Argwöhnisch runzelt Grace die Stirn. „Was für ein falsches Spiel? Hatte sie ... einen anderen?" Knapp daneben ist auch vorbei.

Ich seufze und verdrehe die Augen, sodass ich an die Decke starre. Es hat ja doch keinen Zweck. „Nein", antworte ich, ohne sie anzusehen und bin erschrocken, wie fremd meine Stimme klingt. „Sie hatte zwei andere." Leider ist sehr viel Zeit vergangen, bis ich Idiot dahinter gekommen bin.

„Oh." Betroffen schlägt sich Grace eine Hand vor den Mund und scheint es schon zu bereuen, dass sie das Thema angesprochen hat. Unterdessen kehrt Adrien ins Wohnzimmer zurück, schnappt sich mein Sandwich von vorhin und fängt an zu kauen. Beim Füttern von Garfield ist er offenbar selbst hungrig geworden.

„Bon appétit", wünsche ich ihm, während Grace mich mit einer Mischung aus Mitleid und Unsicherheit anstarrt. Ich glaube, sie überlegt gerade, was sie sagen soll. Ob es noch etwas zu sagen gibt.

„Wie hast du's rausgefunden?", fragt sie schließlich und schiebt eilig hinterher: „Musst du natürlich nicht erzählen. Aber es würde mich interessieren." Ach, sag bloß.

Hilfesuchend schaue ich zu Adrien, der die ganze Geschichte selbstverständlich kennt. Als Einziger, wohlgemerkt. Er zuckt jedoch nur die Achseln und somit muss ich selber entscheiden, ob ich Grace die Wahrheit erzähle oder nicht. Nach ein paar Minuten gebe ich mir einen Ruck, denn ich vermute, dass dieses Mädchen ohnehin nicht lockerlassen wird, auch wenn sie gerade eben etwas anderes behauptet hat.

„Es war mehr ein Zufall", sage ich mühsam beherrscht, weil ich vor den anderen ungern die Fassung verlieren will. „Elsie war bei mir und irgendwann ist sie duschen gegangen. Sie hat ihr Handy in meinem Zimmer vergessen. Ein Typ hat angerufen und sie hatte seinen Namen mit einem Herz eingespeichert. Das fand ich schon komisch."

Deshalb bin ich drangegangen, obwohl ich ihr Handy vorher nie angerührt habe. Aus Respekt vor ihrer Privatsphäre. Aber der Name „Oliver" mit einem roten Herzchen dahinter hat mich stutzig gemacht. Zu Recht, denn als der Kerl am anderen Ende „Hey, Babe" in mein Ohr gesäuselt hat, wusste ich eigentlich schon, was Sache war. Nachdem ich ihn gefragt habe, wieso er meine Freundin so nennt, hat er ohne ein weiteres Wort aufgelegt.

Elsie war immer noch unter der Dusche beschäftigt, weswegen ich die Zeit genutzt habe, um weiter in ihrem Handy rumzuschnüffeln. Ja, ich weiß, so etwas geht gar nicht, aber wie sich wenig später herausgestellt hat, war mein Misstrauen mehr als berechtigt. Aus den Chats mit diesem Oliver konnte ich schnell herauslesen, dass die beiden schon länger etwas am Laufen hatten und zwar auf einer Ebene, die nichts mehr mit einer Freundschaft zu tun hatte.

Aber damit noch nicht genug: Es gab noch einen weiteren Nebenbuhler, einen gewissen Zach, mit dem sie genau die gleiche Nummer abgezogen hat. Insgesamt waren wir also drei und natürlich wussten wir nichts voneinander. Mir hat sie eine Beziehung vorgespielt und ist parallel dazu immer wieder mit den beiden anderen ins Bett gehüpft. Hinter meinem Rücken. Wenn dieser Oliver sie nicht im falschen Moment angerufen hätte, wäre ich wahrscheinlich heute noch mit ihr zusammen.

Als Elsie nichts ahnend aus der Dusche gekommen ist, habe ich sie sofort mit der Sache konfrontiert. Doch anstatt Einsicht zu zeigen, hat sie mich allen Ernstes gefragt, wie ich es wagen könne, ihre Nachrichten zu lesen. Erst nachdem sie gemerkt hat, dass ihr Spiel aufgeflogen ist, hat sie es schließlich zugegeben. Da war es allerdings schon zu spät für eine Erklärung oder gar eine Entschuldigung.

Ich kann mich nicht erinnern, dass zuvor jemand mein Vertrauen derartig missbraucht hat. Bis heute konnte ich ihr diese Aktion nicht verzeihen und ich weiß auch nicht, ob das in Zukunft jemals der Fall sein wird. Zwischendurch habe ich mir geschworen, mich nie wieder auf eine Beziehung einzulassen, aber mittlerweile denke ich, dass das etwas übertrieben wäre. Irgendwo da draußen gibt es sicher jemanden, der es wirklich gut mit mir meint. Das hoffe ich zumindest.

„So, jetzt weißt du alles", sage ich abschließend zu Grace, die stumm zugehört hat, ohne mich ein einziges Mal zu unterbrechen. „Zufrieden?" Ich kann nicht verhindern, dass ich etwas patzig klinge, aber diesmal hat es rein gar nichts mit ihr zu tun.

„Nein", erwidert sie sichtlich betroffen. „Das ist echt hart. Ich verstehe nicht, wie man so dreist sein kann." Willkommen im Club.

Müde zucke ich die Achseln. „Wenn man nur an sich denkt und an Geld, kann das schon mal vorkommen." Natürlich habe ich es mir nicht nehmen lassen, nach Oliver und Zach zu suchen. Beide gehen nicht auf unsere Schule, stammen aber aus wohlhabenden, einflussreichen Familien. Elsies Beuteschema ist ziemlich leicht zu durchschauen – für jeden, der nicht Hals über Kopf in sie verliebt ist.

„Hey, lass dich von der Alten nicht runterziehen", unternimmt Adrien einen Versuch, mich aufzumuntern. „Du hast echt was Besseres verdient als diese geldgeile Tussi." Unwillkürlich muss ich grinsen. Die Bezeichnung passt zu Elsie, wie die berühmte Faust aufs Auge.

Grace nickt zustimmend. „Sehe ich auch so", pflichtet sie ihm bei. „Sie scheint es wirklich nicht wert zu sein, dass du dich ihretwegen kaputt machst. Halt dich lieber an die Leute, die ehrlich zu dir sind."

Ich habe das Gefühl, zwei dieser Menschen sitzen gerade vor mir. Für die beiden ringe ich mir ein aufrichtiges Lächeln ab. „Danke euch. Ich bin froh, dass ihr da seid. Ganz im Ernst."


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