2 - Theodore

Platsch. Ich bleibe wie angewurzelt stehen, schaue runter und stelle fest, dass ich mitten in eine riesige Pfütze gelatscht bin. Das dreckige Wasser frisst sich durch meine weißen Sneaker und durch meine Socken. Nur mit Mühe unterdrücke ich ein Fluchen. Nasse Füße zu haben, ist meiner Meinung nach eines der ekligsten Gefühle überhaupt und das Schlimmste ist, dass ich diesmal auch noch selbst schuld daran bin.

Statt auf mein Handy zu starren, hätte ich lieber geradeaus schauen sollen. Fast bereue ich es, dass ich mich dafür entschieden habe, zu Fuß nach Hause zu laufen. Es regnet pausenlos und ich habe weder einen Schirm, noch eine Kapuze. Die moosgrüne Jacke, die während der kälteren Monate Teil meiner Schuluniform ist, weist mich zwar anhand ihrer Farbe und des aufgenähten Wappens als Schüler der Green Hill High aus, schützt aber kaum vor Kälte und erst recht nicht vor Regen.

Ich bin jetzt schon völlig durchnässt und ich habe noch ein gutes Stück vor mir. Mit hochgezogenen Schultern beschleunige ich meine Schritte und halte Abstand von der Straße, denn jedes Mal, wenn ein Auto vorbeifährt, spritzt trübes, braunes Pfützenwasser auf den Bürgersteig. Wäre ich mit dem Bus gefahren, hätte ich mir die unfreiwillige Dusche mit Klamotten erspart. Und ich wäre vermutlich erstickt, weil ich vor lauter Gestank die ganze Zeit über den Atem angehalten hätte.

Im Bus hat es heute so übel gemüffelt wie noch nie. Eine ekelerregende Mischung aus Pisse, abgestandenem Alkohol und nassem Hund. Zu viel für meine empfindliche Nase. Nach drei Haltestellen bin ich Hals über Kopf geflüchtet, weil ich es da drinnen nicht mehr ausgehalten habe. Bin ich deswegen eine Pussy? Ich schätze schon, aber ausnahmsweise ist es mir egal. Genau genommen habe ich den anderen Leuten im Bus einen Gefallen getan. Sie wären sicher nicht begeistert gewesen, wenn ich ihnen zur Feier des Tages vor die Füße gereihert hätte.

Umständlich weiche ich der nächsten Pfütze aus, die den halben Weg geflutet hat und mich von der Größe her an einen kleinen Teich erinnert. Wenn es weiter schifft, werden bald Enten darauf schwimmen. Meine nassen Schuhe nerven mich zunehmend. Bei jeder Bewegung entsteht ein unappetitliches, schmatzendes Geräusch, das ich einfach nicht ignorieren kann, obwohl ich nichts lieber täte. Inzwischen bin ich nur noch wenige Gehminuten von Henbury entfernt, dem ruhigen Vorort, in dem ich mit meinen Eltern lebe.

Wie aufs Stichwort meldet sich mein Handy. Ich werfe einen Blick aufs Display. Eingehender Anruf von Mum. Überrascht ziehe ich die Augenbrauen hoch. Normalerweise ruft meine Mutter mich eher selten während ihrer Arbeitszeit an, es sei denn, es ist etwas passiert. Ohne zu zögern nehme ich den Anruf an und melde mich mit meinem Namen.

„Theo!" Mum klingt wie immer etwas gestresst. „Gut, dass ich dich erreiche. Wo steckst du gerade?"

„Auf dem Nachhauseweg", antworte ich etwas lauter, damit sie mich trotz des Lärms im Hintergrund versteht. „Was gibt's denn?"

„Nichts Schlimmes", beruhigt sie mich sofort. „Ich wollte dir nur Bescheid sagen, dass Prisha heute nicht kommt. Sie hat einen dringenden Arzttermin. Wenn du warm essen möchtest, musst du dir was bestellen."

„Hrmpf." Trotz aller Bemühungen kann ich mir eine kleine, verbale Unmutsbekundung nicht verkneifen. Prisha ist unsere Haushälterin und Köchin. An vier Tagen in der Woche kommt sie zu uns und kümmert sich darum, dass eine warme Mahlzeit auf dem Tisch steht und jedes Zimmer unserer Villa aussieht wie frisch lackiert. Ohne sie und ihr vorzügliches Essen wäre ich schon längst verhungert, weswegen ich es als eine mittlere Katastrophe empfinde, dass ich heute auf ihre Dienste verzichten muss.

„Na schön", sage ich wenig begeistert. „Ich komme schon irgendwie klar. Danke für deinen Anruf."

„Nichts zu danken", erwidert Mum prompt. Scheint, als hätte sie es eilig, das Telefonat zu beenden. „Wir sehen uns heute Abend. Dein Vater bleibt übrigens länger in London, er trifft sich noch mit ein paar Geschäftspartnern. Freitagmittag ist er wieder da, hat er gesagt."

Ich schnaube ungehalten. „Das ist ja 'ne Überraschung!", kommentiere ich sarkastisch, doch im selben Moment rauscht ein voll besetzter Reisebus an mir vorbei, der meine Worte einfach verschluckt.

„Was hast du gesagt?", höre ich meine Mutter verwirrt fragen, sobald der Krach nachlässt.

„Nichts." Ich atme tief durch und bemühe mich um einen neutralen Tonfall. „Alles okay, Mum. Bis heute Abend."

„Mach's gut." Zum Glück bohrt sie nicht weiter nach. „Ich hab dich lieb, mein Schatz."

„Ich dich auch", antworte ich und beende das Gespräch. Plötzlich bin ich total genervt, dabei war bis vor wenigen Minuten noch alles in Ordnung. Schon erstaunlich, wie viel ein kurzer Anruf verändern kann.

Mit den Händen in den Hosentaschen stapfe ich meines Weges und bin froh, als ich endlich daheim ankomme. Primrose Cottage, unser Familiensitz, befindet sich am Ende einer von mächtigen Kastanien gesäumten Allee, deren Name passenderweise White Chestnut Avenue lautet. Es ist ziemlich ruhig hier, denn die meisten unserer Nachbarn sind wohlhabende, ältere Ehepaare, die entweder keine oder bereits erwachsene Kinder haben. Genau weiß ich es nicht, aber ich schätze, ich bin der einzige Bewohner unserer Straße, der unter vierzig Jahre alt ist.

Fluchend grabe ich in den Untiefen meines Rucksacks nach dem Haustürschlüssel. Normalerweise bin ich zu faul, um aufzuschließen und benutze deshalb die Klingel, aber weil Prisha nicht da ist und auch sonst niemand, muss ich wohl oder übel auf meinen Schlüssel zurückgreifen. Ganze zweieinhalb Minuten stehe ich im Regen, ehe ich endlich fündig werde. Ich öffne die Tür der Landhausvilla und finde mich in unserer Eingangshalle wieder, die aufgrund der fehlenden Fenster immer etwas düster wirkt.

Aus alter Gewohnheit schmeiße ich meinen Rucksack an den Fuß der Treppe, die hoch in meine eigene Etage führt. Sekunden später ertönt oben das Geräusch von tapsenden Pfoten. Unwillkürlich muss ich grinsen und pfeife leise durch die Zähne, woraufhin ein orangerot getigerter Kater auf der Bildfläche erscheint und maunzend die Stufen runter hoppelt. Unten angekommen streicht er mir sofort schnurrend um die Beine.

„Na, alter Junge?", begrüße ich Garfield und streichle sein weiches Fell. „Hast du auch Hunger?" Noch bevor ich zu Ende gesprochen habe, fällt mir auf, wie überflüssig meine Frage ist. Dieser Kater ist schließlich rund um die Uhr hungrig.

Garfield antwortet mit einem langgezogenen Miauen. Genüsslich lässt er sich von mir kraulen und ist zu Tode beleidigt, als ich die Streicheleinheiten kurz unterbreche, um meine nassen Schuhe auszuziehen. Inzwischen habe ich einen Mordskohldampf und trotte, dicht gefolgt von meinem quengelnden Kater, in die Küche, um dort nach etwas Essbarem zu suchen. Dummerweise herrscht Ebbe im Kühlschrank und auf Tiefkühlpizza habe ich echt keinen Bock, weil sie meines Erachtens genauso mies schmeckt wie der Fraß, den sie uns in der Cafeteria unserer High School vorsetzen.

Mein Magen gibt ein unüberhörbares Knurren von sich, doch bevor ich mich um mich selbst kümmern kann, muss erst mal mein Haustier versorgt werden. Garfield gibt mir lautstark zu verstehen, dass ich mich beeilen soll, während ich seinen Napf gründlich ausspüle und ihn anschließend mit einer ordentlichen Portion Nassfutter fülle. „Gönn dir", sage ich zu meinem Kater, der mich jedoch keines Blickes würdigt, sondern sich schmatzend und schlabbernd über sein Mittagessen hermacht.

Weil ich zu faul und zu hungrig bin, um einkaufen zu gehen, wähle ich den gemütlichen Weg und bestelle online Essen bei einem asiatischen Lieferdienst. Ich beschließe, die angebliche Wartezeit von einer halben Stunde im Wohnzimmer abzusitzen, damit ich nicht erst die Treppe runterlaufen muss, wenn es klingelt. Normalerweise verbringe ich eher weniger Zeit hier drinnen, schließlich habe ich meine eigene Etage, zu der auch ein separater Wohnraum gehört.

Das Wohnzimmer im Erdgeschoss ist natürlich um einiges größer und bietet außerdem einen wunderschönen Blick ins Grüne. Zu Primrose Cottage gehört nämlich nicht nur ein Wintergarten, sondern auch eine weitläufige Rasenfläche, mit Rosen-und Tulpenbeeten, einer Lounge Ecke und einem groß angelegten Goldfischteich. Ein paar Minuten lang verharre ich vor der Fensterfront und starre hinaus in unseren traumhaften Garten, der selbst bei Regenwetter noch einladend wirkt. Draußen essen werde ich trotzdem nicht, dafür ist es mir zu nass.

Nach einer Weile wende ich mich ab und setze mich auf die Couch, die Platz für mindestens zehn Personen bietet. Ich schalte den Fernseher ein und suche nach irgendeiner trashigen Talkshow, die ich mir später während des Essens reinziehen kann. Ungeschickt wie ich bin, lasse ich die Fernbedienung fallen und bücke mich danach, um sie aufzuheben. Als ich wieder hochkomme, bemerke ich die neuste Ausgabe der Zeitschrift Bloom Squad, die dekorativ auf dem Wohnzimmertisch liegt.

Bei dem bunten Heftchen handelt es sich um ein Fashion-und Lifestyle-Magazin, das einmal im Monat erscheint. Gründerin und Verlegerin ist niemand Geringeres als meine Mum, deren eigene Kolumne darüber hinaus in jeder Ausgabe von Bloom Squad erscheint. Meistens schreibt sie über Themen wie Selbstverwirklichung, finanzielle Unabhängigkeit oder ihr Leben an der Seite eines erfolgreichen Mannes. Ihre Leserinnen sind überwiegend Frauen im Alter von dreißig bis vierzig Jahren, die dafür sorgen, dass sich das Magazin verkauft wie geschnitten Brot.

Neben Bloom Squad liegt die Tageszeitung von vorgestern. Ich schnaube, als ich meinen Vater auf der Titelseite der Bristol Post entdecke. Lässig und im maßgeschneiderten Anzug posiert er mit irgendeinem wichtig aussehenden Typen, beide grinsen gestellt in die Kamera. Über dem Foto prangt eine fett gedruckte Headline:

Jonathan Bannatyne: Schottischer Investor übernimmt Führungsposition in Großkonzern

Den dazugehörigen Artikel lese ich mir nicht durch. Mich interessiert nicht, was mein geschäftstüchtiger Vater wieder ach so Tolles geleistet hat. Ihn interessiert es ja offensichtlich auch nicht, dass er mehr Zeit in irgendwelchen Luxushotels verbringt als hier zuhause. Ärger kocht in mir hoch. Am liebsten würde ich diese Scheißzeitung aus dem Fenster werfen und genüsslich dabei zusehen, wie der Regen sie langsam aufweicht.

Ich denke an kommenden Freitag und daran, dass Dad mir wahrscheinlich ein teures Geschenk aus London mitbringen wird, weil er glaubt, mir auf diese Weise eine Freude machen zu können. Er wird es mir geben und sich gleich danach erkundigen, wie es in der Schule läuft und ob ich fleißig lerne. Wenn er da ist, redet er nur über meine Noten. Wie es um mein persönliches Wohlbefinden steht, scheint ihn dagegen eher weniger zu kümmern.

Das Bimmeln der Türklingel reißt mich aus meinen trüben Gedanken. Garfield flitzt panisch aus der Küche und die Treppe hoch, wie ein dickes, rotes Wiesel. Nach all den Jahren hat er immer noch nicht kapiert, dass von der Klingel keinerlei Gefahr ausgeht. Kopfschüttelnd gehe ich zur Tür, bezahle den Helden, der mich vor dem Hungertod bewahrt hat und nehme meine Bestellung entgegen. Der verführerische Duft von Frühlingsrollen steigt mir in die Nase und lässt mich kurzzeitig vergessen, wie enttäuscht ich bin.


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