19 - Grace
Vor der heutigen Nachhilfestunde habe ich zum ersten Mal keine Bauchschmerzen. Zwar macht es mir immer noch keinen Spaß, für Theodore und Adrien die Lehrerin zu spielen, aber mittlerweile habe ich mich damit abgefunden. Ich habe auch keine Lust mehr, einen auf streng zu machen, weil es am Ende des Tages nur dazu führt, dass ich mich fühle wie Fräulein Rottenmeier höchstpersönlich.
Zu meiner Erleichterung - oder Überraschung? - hält sich Adrien an den von ihm vorgeschlagenen Waffenstillstand. Unser Verhältnis würde ich zwar nach wie vor als schwierig bezeichnen, doch immerhin redet er jetzt ab und zu mit mir, wie ein normaler Mensch. Wenn man bedenkt, dass er mich vorher entweder ignoriert oder angeblafft hat, ist das definitiv ein Fortschritt.
Eigentlich schulde ich Theodore ein Dankeskärtchen. Schließlich ist er Derjenige, der den Franzosen mehr oder weniger zur Vernunft gebracht hat. Überhaupt finde ich ihn inzwischen ganz nett, obwohl ich oft nicht wirklich schlau aus ihm werde. Dass er ziemlich impulsiv sein kann, habe ich ja bereits festgestellt, allerdings scheint das nicht sein einziges Problem zu sein.
Als ich ihm heute in seinem Wohnzimmer gegenüber sitze, fällt mir auf, dass er total weggetreten wirkt. Ungefähr so wie an jenem Tag, als er mir spontan seine Schmerztabletten geschenkt hat. Genau wie damals scheinen ihn Kopfschmerzen zu plagen, denn zwischendurch lässt er sich von Prisha eine Tasse schwarzen Tee aufs Zimmer bringen, um damit eine Aspirin runterzuspülen.
„Geht's dir gut?", frage ich stirnrunzelnd, während selbst Adrien missbilligend aus der Wäsche schaut. Offenbar hält er nicht viel vom Medikamentenkonsum seines Freundes.
„Top", antwortet Theodore kurz angebunden und schiebt mir über den Tisch hinweg seine Physikaufgaben zu. „Hier, ich bin fertig." Sein Tonfall lässt verlauten, dass keine weiteren Fragen erwünscht sind.
Meinetwegen. Schweigend begutachte ich seine Aufgabenlösungen und bin wieder einmal erstaunt, dass ich keinen einzigen Fehler finde. Anerkennend pfeife ich durch die Zähne. Sein Talent im Umgang mit Zahlen lässt sich nun definitiv nicht mehr leugnen. Ich bin fast ein bisschen neidisch, weil ihm alles ohne große Mühe zu gelingen scheint. Jedenfalls habe ich nicht den Eindruck, dass er sich besonders ins Zeug legt. Unfair, so etwas.
Mit Adrien bin ich weniger zufrieden. Immer wieder schleichen sich bei ihm unnötige Flüchtigkeitsfehler ein, die sich problemlos vermeiden ließen, wenn er nicht so schludrig arbeiten würde. Am schlimmsten aber ist seine Handschrift, die bei mir nach kurzer Zeit heftiges Augenflimmern hervorruft. Seine Ausrede, dass er Linkshänder ist, lasse ich nicht gelten. Meines Erachtens steckt nichts anderes als pure Schlampigkeit dahinter.
„Nicht schlecht", sage ich und gebe ihm seinen Hefter zurück. „Konzentrier dich ein bisschen mehr, dann wird das schon. Ach so, einen Schreibkurs würde ich dir auch dringend empfehlen. Davon kriegt man ja Augenkrebs." Der letzte Satz rutscht mir raus, ohne dass ich auch nur eine Sekunde darüber nachgedacht habe. Schuldbewusst beiße ich mir auf die Zunge. Hoffentlich gibt das nicht wieder Stress.
Doch Adrien überrascht mich erneut. „Aye, aye, Sir", sagt er nur und salutiert, während Theodore trotz seines lädierten Wangenknochens grinst. Die Stelle hat sich mittlerweile grün-blau verfärbt, scheint ihm jedoch keine Schmerzen mehr zu bereiten.
Unwillkürlich atme ich auf. Ich dachte schon, ich hätte den Startschuss für den nächsten Krach gegeben. Stattdessen besprechen wir gemeinsam die Ergebnisse der Stunde und schmieden bereits Pläne für das nächste Mal, bis unser Gastgeber irgendwann demonstrativ auf die Uhr schaut. Sein rechtes Bein wippt unruhig auf und ab.
„Sollen wir gehen?", frage ich vorsichtig, weil ich den Eindruck habe, dass er uns loswerden will, sich aber nicht traut, diesen Wunsch laut zu äußern. Ich für meinen Teil möchte nicht nochmal Gefahr laufen, von ihm rausgeworfen zu werden.
Theodore wirkt etwas peinlich berührt. „Wenn ihr nichts dagegen habt", meint er zögernd. „Eigentlich sind wir doch fertig, oder?" Und eigentlich hätten wir noch etwas Zeit, die wir nutzen könnten, doch das lässt er geflissentlich außer Acht.
Ich überlege, ob ich ihn darauf hinweisen soll, doch Adrien kommt mir zuvor. „Du hast Recht", sagt er und fängt an, seinen Kram einzupacken. „Wir sind schon weg. Nicht wahr, Grace?"
Da kann ich ihm wohl schlecht widersprechen. Achselzuckend folge ich seinem Beispiel, wobei ich das Gefühl nicht loswerde, dass mit Theodore irgendwas nicht stimmt. Es ist nicht so, als würde ich mir Sorgen um ihn machen – das wäre etwas übertrieben ausgedrückt –, aber etwas beunruhigt bin ich schon. Dabei kann es mir eigentlich egal sein, was mit ihm ist. Schließlich haben wir außerhalb der Nachhilfestunden nichts miteinander zu tun.
Der Höflichkeit halber begleitet er Adrien und mich zur Tür, wo er uns beide mit einem Handschlag verabschiedet. Ich deute es als ein gutes Zeichen, auch wenn meine Handfläche danach brennt. Vor den Jungs lasse ich mir jedoch nichts anmerken, damit ich nicht gleich wieder als Memme abgestempelt werde. Bei ihnen scheint es normal zu sein, etwas fester zuzuschlagen. Besser, ich gewöhne mich schnell daran.
Sobald ich mit Adrien draußen stehe, überkommt mich eine leichte Unsicherheit. Ich habe erhebliche Zweifel daran, ob seine Freundlichkeit auch bestehen bleibt, wenn wir alleine sind. Um es herauszufinden, versuche ich, ein bisschen Smalltalk zu führen. „Und, was hast du heute noch so vor?"
Unschlüssig zuckt er die Achseln. „Weiß nicht", antwortet er mit nahezu ausdrucksloser Miene. „Ich – merde!" Er schaut an mir vorbei und plötzlich weiten sich seine Augen vor Überraschung.
Fragend lege ich den Kopf schief. „Du scheiße?", wiederhole ich verständnislos. „Was soll das denn heißen?"
Eine Antwort bekomme ich nicht, denn er läuft bereits die Einfahrt runter in Richtung Straße. Dort wartet, wie ich jetzt erst bemerke, ein hochgewachsener, dunkelhaariger Typ, der Adrien breit angrinst und dabei unverschämt gut aussieht. Für ein paar Sekunden bleibt mir der Mund offen stehen. Dann setze ich mich automatisch in Bewegung und steuere geradewegs auf ihn zu.
Der schöne Fremde, der Adrien mit einer freundschaftlichen Kopfnuss begrüßt, ist ein paar Zentimeter größer als er, breitschultrig und sportlich. Seine schwarzen Haare schimmern matt im Sonnenlicht und passen zu der Farbe seiner gefütterten Lederjacke. Wäre Scarlett hier, würde sie bei seinem Anblick hysterisch anfangen zu kreischen. Oder sie würde sabbern. Vielleicht auch beides gleichzeitig.
„Was machst du hier?", fragt Adrien an den Typen gewandt, der ihm aus der Nähe betrachtet irgendwie ähnlich sieht. Ihre Gesichtszüge gleichen sich bei genauerem Hinsehen, allerdings gibt es einen gravierenden Unterschied: Die Lippen des Fremden umspielt ein herzliches Lächeln.
„Ich dachte, ich warte hier auf dich", antwortet er in gebrochenem Englisch. Noch ein Franzose. Neugierig schielt er zu mir rüber. „Auf euch, besser gesagt. Du bist bestimmt Grace, oder?" Oh mein Gott, er weiß, wie ich heiße.
Überwältigt nicke ich, woraufhin er mich, wie in Frankreich üblich, zur Begrüßung auf beide Wangen küsst. Nebenbei komme ich in den Genuss seines wohlriechenden Parfums. Adrien steht derweil daneben und runzelt wieder einmal die Stirn. Ich räuspere mich verlegen und sehe beide abwechselnd an. „Also, ähm ... ihr Zwei kennt euch?"
„Ja, leider", antwortet Adrien trocken und weicht gekonnt einem Fußtritt seines Landsmannes aus. „Stell dir vor, wir sind sogar verwandt." Das erklärt einiges. Vor allem euer gutes Aussehen. Scheint in der Familie zu liegen.
„Ich bin Noel", sagt das französische Familienmitglied, das nun auch einen Namen hat und grinst mich zähnebleckend an. „Adrien ist mein Cousin. Eigentlich wohne ich in Montrouge, aber manchmal komme ich ihn besuchen."
Heißt das, er ist öfter hier? Mir wird etwas wärmer und das hat nichts mit der Sonne zu tun, die heute ausnahmsweise scheint. „Na dann", sage ich bemüht lässig, obwohl ich spüre, dass meine Wangen glühen. „Willkommen in Bristol, Noel."
„Danke, Grace!" Ich mag die Art, wie er meinen Namen ausspricht. Es klingt irgendwie süß. Eingehend mustert er mich, aber ohne, dass es aufdringlich wirkt. „Adrien hat mir gar nicht erzählt, wie hübsch du bist." Na, schönen Dank auch.
„Ach, echt?", hake ich interessiert nach, während Adrien seinen Cousin vorwurfsvoll anstiert. „Was hat er denn so über mich erzählt?" Ich werfe ihm einen kurzen Seitenblick zu und kann mir ein Grinsen nur schwer verkneifen.
„Zum Beispiel, dass deine Nachhilfestunden total interessant sind und er bei dir richtig viel lernt", antwortet Noel mit einem breiten Lächeln, das ihn noch besser aussehen lässt. Ich wette, egal wo er hingeht, fliegen ihm die Herzen nur so zu. Vor allem die der Mädchen.
Amüsiert wende ich mich an Adrien, der als Einziger keinen Spaß zu haben scheint. Diesmal kann ich ihn aber sogar verstehen. „Danke für das Kompliment", sage ich dennoch, weil ich es einfach zu witzig finde. „Freut mich, dass du bei mir so viel lernst!"
„Jaja", blafft er, was mich nur noch mehr zum Lachen bringt. „Wir müssen dann auch mal los, stimmt's, Noel?" Das ist keine Frage, sondern ein Befehl. Trotzdem bin ich positiv überrascht, wie ruhig er bleibt. Das hätte vor ein paar Tagen noch ganz anders ausgesehen.
„Reste calme", entgegnet Noel immer noch grinsend und schaut fragend zu mir. „Sollen wir dich vorher nach Hause bringen?" Entweder bietet er mir das an, weil er nett ist oder, weil er seinen Cousin ärgern will. Beides fände ich sehr sympathisch.
„Lieb von euch, aber meine Mum holt mich ab", antworte ich und meine zu hören, wie Adrien erleichtert aufatmet. „Da ist sie schon!" Der rote Mini meiner Mutter biegt in die Straße ein und hält wenige Meter vor uns, während der Motor weiter läuft.
„Au revoir, les gars", verabschiede ich mich lächelnd, bevor ich zu Mum ins Auto steige. „Hat mich gefreut, dich kennenzulernen, Noel!" Insgeheim hoffe ich, dass wir uns nochmal wiedersehen, ehe er nach Frankreich zurückkehrt. Wann immer das sein wird.
„Mich auch, Grace", erwidert er freundlich. „Bis dann, vielleicht sieht man sich ja nochmal." Hoffentlich.
„Komm gut nach Hause", schließt sich Adrien an und fügt nach einer kurzen Pause hinzu: „Ich freu mich schon tierisch auf die nächste Stunde mit dir!"
Ich glaube, das ist der längste Satz, den er jemals zu mir gesagt hat. Lachend öffne ich die Autotür, steige ein und schnalle mich an. „Ihr scheint euch gut zu verstehen", bemerkt meine Mum schmunzelnd, sobald sie Gas gibt und wir die White Chestnut Avenue entlang fahren.
„Na ja", sage ich achselzuckend, während meine Mundwinkel nach wie vor zucken. „Kann schon sein." Im Rückspiegel sehe ich, dass die Franzosen uns hinterher winken. Ich meine sogar, ein Lächeln auf Adriens Gesicht zu erkennen.
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