18 - Adrien

„Worauf wartest du?", frage ich ungeduldig und zupfe an Cocos Leine. „Mach endlich!" Der Mops gähnt herzhaft, kratzt sich und gräbt Löcher in die dünne Schneedecke, doch aktuell sieht es nicht danach aus, als würde sie bald ihr Geschäft verrichten. Dass ich langsam ungeduldig werde, interessiert sie außerdem einen feuchten Kehricht.

Innerlich verfluche ich Maman, die mich dazu verdonnert hat, eine Woche lang mit ihrer Töle Gassi zu gehen – als Strafe dafür, dass ich mich in der Schule geprügelt habe. Ich weiß nicht, ob sie ernsthaft glaubt, dass sich dadurch etwas ändert. Vielleicht will sie mich auch einfach nur leiden sehen. Zutrauen würde ich es ihr auf jeden Fall.

Genervt trotte ich mit Coco an der Leine durch Southville und muss sie von Zeit zu Zeit davon abhalten, ihre Schnauze in Mülleimer oder herumliegende McDonald's-Tüten zu stecken. Mir ist kalt und ich bin müde. Nachdem Theodore gestern mitten in der Nacht bei uns aufgetaucht ist, habe ich nicht allzu viel Schlaf abbekommen.

Ich kann gut verstehen, dass er vor seinem Vater geflüchtet ist, nachdem dieser ihn als „Unfall" bezeichnet hat. Um ehrlich zu sein, habe ich keine Ahnung, was Mr. Bannatynes Problem ist. Anderen Menschen gegenüber zeigt er sich stets höflich und zuvorkommend, aber seinen eigenen Sohn behandelt er wie einen Fußabtreter. Für mich absolut unbegreiflich.

Theodore kann übrigens von Glück reden, dass meine Mutter nicht mitbekommen hat, wie bekifft er war. Bei Drogen, selbst wenn es nur Gras ist, versteht sie überhaupt keinen Spaß. Sollte sie mich jemals dabei erwischen, wie ich einen Joint drehe oder so, könnte ich gleich meine Koffer packen und ausziehen. Ihre Einstellung finde ich persönlich etwas spießig, aber was soll's.

Ich bin mir nicht sicher, was ich davon halten soll, dass Theodore sich von irgendwelchen Fremden auf der Straße zum Kiffen verführen lässt. Irgendwie passt so eine Aktion gar nicht zu ihm. Bisher war er schließlich immer der Vernünftigere von uns beiden. Na ja, meistens zumindest. Vielleicht ist ihm der Druck, der auf seinen Schultern lastet, in den letzten Wochen einfach zu viel geworden.

Nachdem wir eine weitere Viertelstunde lang sinnlos durch die Gegend gelatscht sind, lässt sich Coco endlich dazu herab, ein Ei zu legen. Angewidert hole ich einen ihrer Beutel hervor, um den Scheiß einzusammeln. Eine schlimmere Strafe hätte Maman sich nicht ausdenken können. Suchend schaue ich mich um, aber natürlich ist weit und breit kein Mülleimer in der Nähe. Hallelujah.

Mit Coco im Schlepptau gehe ich meines Weges und halte dabei die Augen offen. Einen Mülleimer sehe ich erst mal nicht, dafür aber ein hübsches Mädchen, das mir entgegen joggt und mich anlächelt. Ich lächele zurück, doch dann fällt ihr Blick auf den vollen Kackbeutel in meiner Hand und sie verzieht prompt die Mundwinkel. Scheint nicht besonders gut anzukommen, das Ding.

Irgendwann werde ich zum Glück fündig und entsorge Cocos Hinterlassenschaften. Obwohl ich nicht direkt damit in Berührung gekommen bin, habe ich plötzlich das dringende Bedürfnis, mir ausgiebig die Hände zu waschen. Das trifft sich gut, denn ich finde, ich habe Mamans kleinen Wadenbeißer lange genug durch die Straßen gezerrt. Jetzt ist es an der Zeit, nach Hause zurückzukehren.

Weit komme ich allerdings nicht, denn nach wenigen Metern stolpere ich aus heiterem Himmel. Überrascht schaue ich runter und stelle fest, dass meine Schnürsenkel offen sind. Ich lasse Cocos Leine für einen Moment los und bücke mich, um sie neu zu binden. Sekunden später trifft mich ein wuchtiger Tritt in den Hintern, ich lande auf allen Vieren und Coco fängt wie wild zu bellen an.

„Na, alter Junge, wie geht's?", höre ich eine laute Stimme, während ich mich aufrapple und meine Mütze zurechtzupfe, die mir bei meiner Bruchlandung in die Stirn gerutscht ist. Statt mich über den heimtückischen Angriff zu ärgern, spüre ich auf einmal grenzenlose Freude. Wiedersehensfreude.

„Noel?", frage ich ungläubig und erfreut zugleich, obwohl ich mir eigentlich sicher bin, dass ich nicht träume. Niemand anderes käme auf die Idee, mich mit einem gepfefferten Arschtritt zu begrüßen, nachdem wir uns ein halbes Jahr lang nicht gesehen haben. Ich drehe mich um und da steht er, mein Cousin aus Frankreich.

„Pardon, musste sein", grinst er, streckt die Hand aus und zieht mich in eine richtige Umarmung, während Coco kläffend an uns hochspringt. Ich kann nicht fassen, dass er wirklich da ist. Zum ersten Mal seit ein paar Wochen bin ich wieder richtig glücklich.

„Was machst du hier?", frage ich begeistert und lasse ihn los, damit wir von Angesicht zu Angesicht reden können. Noel trägt einen schweren Rucksack mit sich herum und sieht aus, als hätte er in den letzten Stunden nur wenig geschlafen. Trotzdem strahlt er wie das blühende Leben.

„Ich hatte Sehnsucht nach dir", erwidert er mit einem Augenzwinkern und streichelt Coco, die vor Freude ganz aus dem Häuschen ist. „Immer nur Facetime reicht halt irgendwann nicht mehr. Außerdem wollte ich mal wieder das tolle englische Wetter genießen." Er grinst fröhlich, aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass der wahre Grund für seinen Besuch eher unerfreulicher Natur ist.

„Na dann", sage ich schmunzelnd, weil ich ihn nicht gleich mit neugierigen Fragen löchern will. „Bienvenue à Bristol! Ich hoffe, du hast einen Regenschirm und Gummistiefel mitgebracht." Mittlerweile hat es angefangen zu nieseln und das Bisschen Schnee, das liegengeblieben ist, schmilzt bereits wieder.

„'Ne Badehose wäre wahrscheinlich sinnvoller", witzelt Noel und weicht einer gigantischen Pfütze aus – ganz im Gegensatz zu Coco, die erst fröhlich darin herumplanscht und dann auch noch Anstalten macht, das schmutzige Wasser trinken zu wollen.

„Lass das!", sage ich streng, worauf sie glücklicherweise hört. „Wenn du Dünnschiss kriegst, bevor die Woche rum ist, drehe ich durch." Das meine ich ernst. Was zu viel ist, ist einfach zu viel.

Noel beobachtet uns amüsiert. „Wieso bist du überhaupt mit dem Hund unterwegs?", fragt er grinsend. „Ich dachte, du magst sie nicht." Scharfsinnig erkannt, Sherlock.

„Maman zwingt mich dazu", klage ich und drücke ihm die Leine in die Hand, damit er mir meine Strafarbeit wenigstens für die Dauer des Nachhausewegs abnimmt. „Ist eine Art Erziehungsmaßnahme, weil ich mich letztens geprügelt habe."

„Du hast dich geschlagen?" Verwundert reißt er die Augen auf und pfeift im nächsten Moment anerkennend durch die Zähne. „Krass, Mann! Wer hat gewonnen?" Von Entsetzen oder Sorge keine Spur. Er ist eben nicht wie meine Mutter, worüber ich ausgesprochen froh bin.

„Niemand", antworte ich achselzuckend. „Theo ist dazwischen gegangen." In knappen Worten erzähle ich ihm die ganze Geschichte, obwohl ich beim Gedanken an Kyle sofort wieder sauer werde. Der Typ verdient nichts anderes als eine saftige Tracht Prügel.

„Du konntest ihm also nicht gebührend aufs Maul hauen", stellt Noel fest, nachdem ich meine Ausführungen beendet habe. „Von mir aus können wir das die Tage nachholen." Diebische Vorfreude glitzert in seinen Augen, die so dunkel sind, dass sie schwarz wirken.

„Wir?", wiederhole ich zweifelnd, wobei ich nicht einmal weiß, ob er seinen Vorschlag wirklich ernst meint. Mein Cousin hat bekanntermaßen ein Händchen für geschmacklose Scherze.

„Klar, wofür bin ich denn sonst hergekommen?", entgegnet er feixend und spätestens da begreife ich, dass er mich nur verarscht. „Wir könnten ihm nach der Schule auflauern oder so. Für Schlägereien außerhalb des Schulgeländes kannst du nicht bestraft werden, hab ich Recht?"

„Super Idee, du Vollidiot", lobe ich ihn spöttisch und spinne den Faden weiter. „Am besten entführen wir ihn nach Paris, wenn er bewusstlos ist und werfen ihn in die Seine. Fällt bestimmt niemandem auf."

Noel kratzt sich am Hinterkopf und tut so, als müsste er überlegen. „Stimmt", meint er schließlich. „Euer Fluss hier ist wahrscheinlich nicht tief genug." Wir lachen beide, bis sein Handy mehrfach laut dazwischenfunkt. Prüfend wirft er einen Blick darauf und von einer Sekunde zur anderen verblasst sein Grinsen, bis es kaum noch zu sehen ist.

„Was ist?", frage ich und mustere ihn besorgt. „Wer war das?" Vielleicht Tante Sylvie, die ihn daran erinnern will, dass Engländerinnen auch schwanger werden können.

Mein Cousin steckt sein Handy wieder weg. „Isabelle", antwortet er knapp. „Sie will wissen, wo ich bin und warum ich ihr nicht gesagt habe, dass ich für ein paar Tage verreise."

Ich kann mir ein Grinsen beim besten Willen nicht verkneifen. „Seit wann verlangen deine One-Night-Stands stündliche Updates über deinen Aufenthaltsort?"

Noel wirft mir einen kurzen, unergründlichen Blick zu. „Sie ist kein One-Night-Stand mehr", erklärt er, ohne dabei sonderlich glücklich zu wirken. „Wir sind jetzt zusammen."

Vor Überraschung klappt mir der Mund auf. Das kann nicht wahr sein. „Ihr seid zusammen?", wiederhole ich ungläubig. „So richtig, in einer Beziehung? Noel, bist du krank? Hast du Fieber oder so? Brauchst du Hilfe?" Mir ist bewusst, dass ich mich wie ein neugieriger Irrer aufführe, aber ich kann es nicht glauben. Mein feierwütiger Cousin, der normalerweise munter von einer Blüte zur nächsten hüpft, hat eine feste Freundin? Unfassbar.

Sein Grinsen kehrt zurück, aber nur eine äußerst schwache Version davon. „Komm runter", sagt er trocken. „Genau das ist der Grund, warum ich dir nichts gesagt habe. Weil ich wusste, dass du so reagieren würdest. Und ich hatte keine Lust auf dumme Sprüche."

Verständlich. Ich räuspere mich und werde wieder ernst. „Tut mir leid. War nicht böse gemeint. Ich freue mich für dich, ganz ehrlich. Für euch, besser gesagt." Auch wenn ich jetzt erst recht ein ungutes Gefühl habe. Warum haut Noel so plötzlich aus Frankreich ab, ohne seiner neuen Freundin auch nur ein Sterbenswörtchen davon zu erzählen? Wieso lässt er sie überhaupt alleine zurück?

Ich komme nicht dazu, meine Fragen laut auszusprechen, denn inzwischen haben wir die Vicarage Road erreicht und stoßen prompt auf meine Mutter, die gerade von der Arbeit nach Hause kommt. Als sie ihren Neffen bemerkt, den sie genau wie ich seit geraumer Zeit nicht mehr gesehen hat, lässt sie vor Überraschung beinahe ihre Handtasche fallen.

„Noel!", ruft sie schrill und rennt auf ihn zu, um ihn zu umarmen. Die beiden haben ein gutes Verhältnis zueinander, sie telefonieren oft und für Maman ist er fast so etwas wie ein zweiter Sohn. Er wiederum versteht sich mit ihr besser als mit seiner eigenen Mutter.

„Salut, Tante Dani", sagt Noel und lächelt wieder. Diesmal wirkt es zu hundert Prozent echt. „Ich freu mich, dich zu sehen. Wie geht's dir so?"

„Alles bestens", erwidert Maman strahlend und wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Offensichtlich hat sie ihren Neffen sehr vermisst. „Und wie stehen die Dinge bei dir? Ist alles in Ordnung? Wie kommst du überhaupt hierher?"

Die vielen Fragen scheinen ihn etwas zu verunsichern. „Na, mit dem Zug", antwortet er achselzuckend. Sein Lächeln flackert kaum merklich. „Es ist alles in Ordnung, Danielle. Mir geht's super." In diesem Moment bin ich mir sicher, dass er uns etwas verschweigt.

Na, was haltet ihr von Adriens Überraschungsgast? Glaubt ihr auch, dass Noel ihm etwas verheimlicht?

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