16 - Grace
Ich hasse unseren Schulhof. Er ist grau, trist und kahl und darüber hinaus auch noch ziemlich groß. Es gibt ein paar Mülleimer, aber die meisten sind entweder kaputt oder platzen aus allen Nähten, weil unsere Hausmeister stets zu faul sind, um sie auszuleeren. Der Inhalt liegt demnach häufig auf dem Boden und wird vom Wind in alle Himmelsrichtungen verteilt.
Als wäre das nicht schon schlimm genug, fängt es pünktlich zur Pause an zu regnen. Schneeregen, wohlgemerkt. Draußen ist es also nicht nur kalt, sondern auch nass. Bei diesem Wetter würde ich normalerweise drinnen bleiben und einen warmen Kaffee schlürfen, doch leider bleibt mir keine andere Wahl, als meine ungeliebte Strafarbeit zu verrichten. Danke, Adrien.
Müllsammeln an sich ist schon ätzend genug, mit dem Franzosen zusammen ist es allerdings noch schlimmer. Seit seinem kurzen Ausbruch vorhin hüllt er sich in Schweigen und redet kein Wort mehr mit mir. Im Prinzip ist das nichts Neues, aber ich verstehe beim besten Willen nicht, warum er so sauer auf mich ist. Schließlich habe ich ihn nur erfolgreich vor einem weiteren dummen Fehler bewahrt.
Möglicherweise passt es ihm nicht, dass ich zufällig in sein Gespräch mit Mr. Crown reingeplatzt bin und ihm die Wahrheit über unsere Nachhilfestunden erzählt habe. Ich meine, was hätte ich sagen sollen? Dass Adrien hochintelligent, fleißig und ein supernetter Typ mit ausgezeichneten Manieren ist? Unseren Direktor anzulügen, kommt für mich nicht infrage. Da mache ich auch für Monsieur Cabal keine Ausnahme.
Überhaupt - wenn jemand einen Grund hätte, wütend zu sein, dann bin ich das. Seine Reaktion, nachdem ich eine weitere Schlägerei zwischen ihm und Kyle verhindert habe, war wirklich das Allerletzte. Ich will ihm nicht die Schuld in die Schuhe schieben, aber es ist nun mal größtenteils sein Verdienst, dass wir beide diese lästige Strafarbeit am Hals haben. Er hat schließlich damit angefangen, mich zu beleidigen.
Am liebsten würde ich den Mist so schnell wie möglich hinter mich bringen, doch zu meinem Bedauern kommen wir eher langsam voran. Der Schneeregen lässt nicht nach, es ist arschkalt und unsere Mitschüler, die ihre Pause aus freien Stücken draußen verbringen, sind auch keine große Hilfe, im Gegenteil. Alle paar Minuten werden wir ausgelacht oder man zeigt mit dem Finger auf uns. Das ist auf Dauer ganz schön nervig.
Inzwischen sind wir beim Basketballkorb angekommen und sammeln die unzähligen Zigarettenstummel ein, die dort herumliegen. An das Rauchverbot auf dem Schulgelände halten sich offensichtlich nur die wenigsten. Ich trage den Eimer, während Adrien mit der Müllzange die Stummel aufklaubt und dabei ein Gesicht zieht wie sechzehn Tage Regenwetter. Er macht mir fast ein bisschen Angst.
Vereinzelte Lacher werden laut. Eine Gruppe Jungs schlendert auf uns zu, die meisten von ihnen mit einem hämischen Grinsen auf den Lippen. „Na, ihr?", ruft einer von ihnen, sobald wir in Hörweite sind. „Seid ihr die von der Freiwilligen Müllabfuhr?"
Der Spruch ist so unlustig, dass ich gar nicht erst darauf reagiere. Adrien hingegen wirft dem Jungen einen vernichtenden Blick zu. „Hau bloß ab", knurrt er und anstelle des anderen Typen würde ich spätestens jetzt das Weite suchen. Jedes Wort, das er spricht, klingt wie eine Drohung.
Tatsächlich wagt es der Junge nicht, ihm etwas entgegenzusetzen. Das übernimmt stattdessen einer seiner Freunde, ein hochgewachsener Kerl mit Rastalocken. „Ey, Adri", sagt er grinsend und lässt ein silbernes Kaugummipapier auf den Boden fallen. „Du hast da was vergessen!"
Sein Ernst? Missbilligend starre ich ihn an und „Adri" revanchiert sich, indem er die Müllzange kurzerhand an der Jeans des Störenfrieds sauber wischt. „Und jetzt zieh Leine, bevor ich dir das Ding aus Versehen ins Auge stecke!", droht er, woraufhin die Jungs geschlossen das Weite suchen.
Wenn er so weitermacht, wird das hier definitiv nicht das letzte Mal sein, dass er seine Pause damit verbringt, den Müllmann zu spielen. Ich spare es mir jedoch, ihn darauf hinzuweisen, weil ich keine Lust auf eine zweite Runde unseres verbalen Schlagabtauschs habe. Wahrscheinlich würde es ohnehin keinen Gewinner geben.
Durch die Regenschleier sehe ich zwei zierliche Gestalten auf mich zukommen. Ich kann nicht leugnen, dass ich überrascht bin, Scarlett und Lily hier draußen zu begegnen. Beide sind definitiv keine Wasserratten und sorgen sich viel zu sehr um ihre Haare, als dass sie freiwillig bei diesem Wetter rausgehen würden. Wahrscheinlich haben sie sich nur deshalb in den Regen gewagt, um mir beim Erledigen meiner Strafarbeit zuzugucken.
„Huhu, Grace!", zwitschert Scarlett und lächelt zuckersüß. „Wir gehen jetzt was trinken und wollten vorher noch kurz bei dir vorbeischauen. Wie läuft's denn so?" Elende, kleine Heuchlerin.
„Prima!", entgegne ich patziger als geplant und werfe ihr einen giftigen Blick zu. „Lasst euch von mir nicht aufhalten, Mädels. Ihr habt's doch sicher eilig, oder?"
„Nee, eigentlich nicht", bemerkt Lily frech, woraufhin ich ihr die Zunge rausstrecke. Warum bin ich eigentlich mit diesen Hexen befreundet und sogar verwandt?
Meine Schwester beobachtet derweil Adrien, der so tut, als wären wir gar nicht da und uns geflissentlich ignoriert. „Sogar beim Müllsammeln sieht er heiß aus", murmelt sie mir schwärmerisch zu und wird leicht rot dabei.
„Scarlett!", zische ich empört, weil er ihre Worte gehört haben muss, sofern er nicht taub ist. Dennoch lässt er sich nichts anmerken und setzt seine Arbeit fort, ohne eine Miene zu verziehen.
Ungerührt zuckt Scarlett die Achseln. „Ist doch wahr", rechtfertigt sie sich, während Lily leise kichert. „Also, wir gehen jetzt. Ich wünsch dir noch viel Spaß, Schwesterherz!" Gackernd entfernen sich die beiden, während ich mir die Frage stelle, wieso immer ich Diejenige bin, die vom Leben gebumst wird. Muss wohl mein Schicksal sein.
„Nette Freundinnen hast du da", höre ich Adriens zynische Stimme, sobald Scarlett und Lily weit genug weg sind. Herablassend sieht er mich an. In seinem blassen Gesicht stechen seine dunkelbraunen Augen umso mehr hervor. „Die müssen dich ja echt gern haben, wenn sie einfach ohne dich abhauen."
„Du musst es ja wissen, du Experte", antworte ich kühl. „Weißt du, je mehr Zeit ich mit dir verbringe, desto öfter frage ich mich, wie es sein kann, dass du überhaupt Freunde hast." Scheiße, schießt es mir im selben Moment durch den Kopf. Eigentlich wollte ich mich nicht mehr provozieren lassen, aber irgendwie schafft er es immer wieder.
Prompt will Adrien etwas darauf erwidern, doch jemand anderes kommt ihm zuvor. „Wollt ihr euch jetzt auch noch darüber streiten, wer beliebter ist?", fragt Theodore, der plötzlich aufgetaucht ist und grinst spöttisch. „Ich schätze, auf der Beliebtheitsskala von Green Hill High steht ihr beide ziemlich weit unten!"
Da hat er womöglich sogar Recht. Irgendwie freue ich mich, dass er da ist. Seit unserem erzwungenen Kaffeedate ist er mir etwas sympathischer geworden. Zumindest hat er Humor und das ist auf jeden Fall ein großer Pluspunkt. Im Vergleich zu Adrien kommt mir Theodore beinahe vor wie ein Engel. Auch wenn mir sein Ausraster neulich immer noch im Hinterkopf rumspukt.
„Wisst ihr was?", sagt er und schaut uns abwechselnd an. „Ich finde, es wird Zeit, dass ihr euch gegenseitig respektiert. Ihr müsst keine Freunde werden oder so, aber hört auf, euch zu streiten. Das ist doch echt lächerlich." Zwei zu null für dich, Bannatyne.
Adrien schnaubt ungehalten und schüttelt sich seine nassen Locken aus der Stirn. „Ach nee. Ihr geht einmal zusammen Kaffee trinken und schon seid ihr beste Freundinnen oder was?" Offensichtlich haben er und Theodore keine Geheimnisse voreinander.
Letzterer zuckt die Achseln. „Nicht direkt. Aber ich habe keinen Bock mehr auf diesen Kindergarten. Findest du nicht, dass wir zu alt dafür sind?" Sein Grinsen ist verschwunden und er sieht Adrien ernst an. Das scheint zu wirken.
„Wenn du meinst." Der Franzose wendet sich mir zu und streckt mir zu meiner großen Überraschung seine Hand entgegen. „Waffenstillstand? Zumindest solange, bis die Nachhilfe vorbei ist." Und danach bekriegen wir uns weiter oder wie darf ich das verstehen?
Ich zögere. Dieser Sinneswandel kommt für meinen Geschmack etwas zu plötzlich, als dass ich ihn hundertprozentig ernstnehmen könnte. Theodores Meinung muss Adrien extrem wichtig sein, wenn er deshalb bereit ist, seinen Streit mit mir vorübergehend zu pausieren. Vielleicht lacht er mich auch aus, sobald einschlage. Ach, was soll's.
„Na gut. Waffenstillstand", sage ich und reiche ihm meine Hand. Ich bin erleichtert, dass er mich nicht auslacht. Vielleicht ist das ein erster Schritt in die richtige Richtung.
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