10 - Grace
Manchmal kommt einfach alles zusammen. Eine Flut an kleineren oder größeren negativen Ereignissen, die plötzlich anschwillt und alles mit sich reißt, was nicht niet-und nagelfest ist. Solche Tage sind zum Glück selten, aber ich fürchte sie dennoch, weil sie meistens damit enden, dass ich mir ein ruhiges Eckchen suche, um meinen Tränen der Verzweiflung freien Lauf zu lassen.
Heute Morgen beim Aufstehen habe ich schon geahnt, dass mich einer dieser Tage erwartet, an denen einfach alles schiefläuft. Und – Überraschung! – ich sollte Recht behalten. Folgerichtig gab es schon vor dem Frühstück den ersten Knatsch und zwar, weil Scarlett meine Lieblings-Cornflakes aufgefressen hat, ohne anschließend eine neue Packung zu besorgen.
Unser Streit hat sich etwas in die Länge gezogen, sodass wir beide unseren Bus verpasst haben und im Regen zur Schule rennen mussten, weil unsere Eltern schon unterwegs zur Arbeit waren. Dort angekommen, ging das Drama ununterbrochen weiter. Erst wollte Mr. Johnson einen ausführlichen Bericht über meine Nachhilfestunde mit den beiden Vollidioten haben und danach hat mich auch noch Mr. Crown abgefangen.
David Crown ist unser Schulleiter und nebenbei Fachlehrer für Mathematik und Physik. Er war Derjenige, der mich als Kandidatin für den Mathewettbewerb ins Spiel gebracht hat und ist deshalb sehr interessiert daran, wie meine Vorbereitungen laufen.
„Ich hoffe, du strengst dich an", hat er gesagt und mich dabei so ernst angeschaut, als ginge es um Leben und Tod. „Wir wollen ja nicht, dass du unsere Schule auf der großen, nationalen Bühne blamierst, hm?" Sein selbstgefälliges Lachen danach hat die Situation nur noch verschlimmert.
Es gibt noch ein paar mehr Gründe, wieso heute ein Tag zum Vergessen ist. Zum Beispiel aufgrund der Tatsache, dass es in der Cafeteria mal wieder keine Schokoriegel gibt. Oder aber weil meine Periode passend zum Motto Bad Day ihren Höhepunkt erreicht hat und mich unsägliche Bauchkrämpfe plagen. Natürlich haben weder Scarlett noch Lily zufällig Schmerztabletten dabei. Meine sind von den letzten Malen bereits aufgebraucht.
All das hat dazu geführt, dass ich mich zu Beginn der Mittagspause aufs Mädchenklo verzogen habe, um in Ruhe eine Runde zu heulen. Das war vor etwa zwanzig Minuten. Inzwischen sind meine Tränen getrocknet, aber die Krämpfe sind selbstverständlich immer noch da. Erschöpft und deprimiert hocke ich auf dem Klodeckel und stiere die über und über vollgekrakelte Tür an, die durchaus interessanten Lesestoff zu bieten hat.
In diesem Scheißhaus wohnt ein Geist, der jedem, der zu lange scheißt, von unten in die Eier beißt.
Schwach grinse ich in mich hinein. Den anonymen Verfasser dieses literarischen Meisterwerks scheint es nicht weiter gekümmert zu haben, dass wir uns hier auf der Damentoilette befinden. Neugierig lese ich weiter und stoße plötzlich auf meinen eigenen Namen.
Grace Stevenson ist ...
... eine Streberin
... langweilig
... Jungfrau
Kreuze an!
Na toll. Das habe ich jetzt noch gebraucht, um mich richtig beschissen zu fühlen. Irgendjemand war obendrein so witzig, alle drei Optionen anzukreuzen. Schönen Dank auch. Ich stelle mir vor, wie es wäre, diese Scheißtür mitsamt ihrer blöden Sprüche anzuzünden und danach ganz schnell zu abzuhauen. Dumm nur, dass ich mit meinem schmerzgeplagten Unterbauch kaum drei Schritte laufen kann, ohne wimmernd auf die Knie zu sinken.
Während ich darüber nachdenke, ob ich mich einfach für immer in dieser schäbigen Kabine verstecken soll, nähern sich draußen Schritte und helle Stimmen. Gleich darauf betreten zwei Mädchen die Toilette, von denen mir zumindest eine bekannt vorkommt, sofern mich meine Ohren nicht täuschen. Nach einigem Zögern wage ich einen vorsichtigen Blick durch den schmalen Spalt zwischen Tür und Rahmen.
Hab ich's mir doch gedacht. Ich sehe dunkle Afrolocken, eine traumhafte Figur und lange, schlanke Beine, die selbst im moosgrünen Rock unserer Schuluniform gut zur Geltung kommen. Fast werde ich ein bisschen neidisch. Elsie Wallace ist nicht umsonst eines der beliebtesten Mädchen der Green Hill High, allerdings genießt sie auch einen zweifelhaften Ruf unter uns Schülern.
Sie weiß, dass sie hübsch ist und nutzt diesen Vorteil nur allzu gerne aus. Das gefällt natürlich nicht jedem und so wird sie regelmäßig zum Klatschthema Nummer Eins an unserer Schule. Erst neulich habe ich mitbekommen, wie eine Mitschülerin gehässig behauptet hat, Elsie würde die Typen öfter wechseln als ihre Strings. Als ob sie das irgendetwas anginge.
„Wie läuft's eigentlich mit Marcus?", fragt das rothaarige Mädchen, deren Name mir gerade nicht einfällt und mustert Elsie voller Neugier, während sie vor dem Spiegel steht und hochkonzentriert Lipgloss aufträgt.
„Ganz gut", antwortet sie, ohne den Blick von ihrem eigenen Antlitz abzuwenden. „Aber im Bett ist er echt 'ne Schlaftablette. Da war Theodore um Welten besser." Sie spitzt die Lippen zu einem perfekten Schmollmund und scheint zufrieden mit dem, was sie sieht.
Im Schutze der Klotür verdrehe ich die Augen. Auf diese Information hätte ich gerne verzichtet. Schließlich will ich mir nicht bei jeder zukünftigen Nachhilfestunde vorstellen müssen, wie Elsie und Theodore sich durch die Laken wälzen – falls sie überhaupt ihn gemeint hat. An dieser Schule gibt es garantiert mehrere Jungen, die so heißen.
„Echt?" Die Rothaarige runzelt verständnislos die Stirn. „Wieso hast du dann mit ihm Schluss gemacht? Ich meine, er sieht gut aus und seine Alten haben Kohle ohne Ende. Besser geht's doch eigentlich gar nicht, oder?" Gott, wie oberflächlich kann man sein?
„Stimmt", antwortet Elsie ungerührt und lässt den Lipgloss in ihrer Tasche verschwinden. „Eigentlich war er perfekt für mich. Aber leider auch ein bisschen zu klug. Das kann ich nicht gebrauchen."
Hä? Bezeichnet sie sich gerade selber als dumm oder wie darf man das verstehen? Aufmerksam spitze ich die Ohren, doch der Rotschopf traut sich offenbar nicht, weiter nachzuhaken. Stattdessen fangen die beiden an, sich über ihre Hausaufgaben zu unterhalten. Oh Mann. Hoffentlich setzen sie ihr Gespräch bald woanders fort, damit ich hier ungesehen rauskomme.
Fünf Minuten später werde ich tatsächlich erlöst. Ich verlasse das Mädchenklo, ohne in den Spiegel zu schauen, denn ich habe keine Lust, direkt wieder einen Heulkrampf zu kriegen. Die Mittagspause ist gleich vorbei und meine Bauchschmerzen lassen nicht nach, im Gegenteil. Vielleicht sollte ich mich einfach für den Rest des Tages krankmelden. Das mache ich eigentlich nie, aber einmal ist schließlich keinmal.
Ich zucke zusammen, als ich plötzlich gegen etwas Hartes pralle. „Kannst du nicht aufpassen?", blafft mich eine Stimme an, die ich inzwischen gut kenne. Theodore. Wieso muss ich jetzt ausgerechnet ihm über den Weg laufen? Immerhin ist er diesmal ohne sein kratzbürstiges französisches Anhängsel namens Adrien unterwegs.
Überrumpelt weiche ich zurück und nuschle eine Entschuldigung. Davon zeigt er sich allerdings nicht sehr beeindruckt. „Du schon wieder", brummt er und mustert mich abschätzig. Ihm scheint zu dämmern, dass es mir nicht sonderlich gut geht, denn seine Miene wird etwas weicher. „Hast du geheult?"
Geht's noch? Mir entfährt ein ungehaltenes Schnauben. „Hast du gekokst?", frage ich angesichts seines müden Aussehens zurück, weil mir weder seine blasse Hautfarbe entgangen ist, noch seine leicht geröteten Augen. Sein Hemd hängt aus der Hose und ich rieche etwas, das mich an eine Mischung aus teurem Parfum, Pfefferminzkaugummi und Zigaretten erinnert.
Theodore wirkt etwas überrascht, doch er kriegt sich schnell wieder ein und fängt an zu grinsen. „Ich hab zuerst gefragt", entgegnet er und legt den Kopf schief. „Also?"
Da kann ich ihm leider nicht widersprechen. „Ja, du hast Recht, ich hab geweint", gebe ich trotzig zu und senke den Blick. „Zufrieden?"
Offensichtlich ist er das nicht, denn er will es genauer wissen. „Warum das?"
„Geht dich gar nichts an." Ich werde sicher nicht mit ihm über meine Periode sprechen. Das wäre definitiv zu viel für meine ohnehin schon überstrapazierten Nerven.
Sein Grinsen wird zu einem Feixen. „Ach komm, sag schon", meint Theodore ermutigend. „Hast du etwa nur 'ne Zwei geschrieben?"
Du kannst mich mal. „Nein!", fauche ich wütend. „Ich hab verdammt nochmal Bauchschmerzen und wenn du nicht zufällig 'ne Packung Schmerztabletten dabei hast, würde ich dir dringend raten, dich jetzt zu verpissen!" Huch. Da sind wohl kurz meine Hormone mit mir durchgegangen.
Zu meiner Irritation bleibt Theodore völlig ruhig. „Schmerztabletten?", wiederholt er und fängt plötzlich an, in seinem abgewetzten Rucksack zu kramen. „Wieso sagst du das nicht gleich?" Im nächsten Moment drückt er mir eine angebrochene Medikamentenpackung in die Hand.
Perplex lese ich, was darauf geschrieben steht. Es handelt sich tatsächlich um Schmerzmittel. „Danke", sage ich verwirrt. „Warum hast du so was dabei?" Dass er genau wie ich seine Tage hat, schließe ich als Antwortmöglichkeit aus.
Theodores Grinsen ist verschwunden. „Kopfschmerzen", antwortet er knapp. „Behalt sie ruhig. Gute Besserung." Er schiebt sich an mir vorbei und ist bereits drauf und dran, zu verschwinden, als mir noch etwas anderes einfällt.
„Warte", sage ich und hole ihn ein. „Wann treffen wir uns eigentlich wieder? Wegen der Nachhilfe, meine ich." Daran führt ja leider kein Weg vorbei.
Desinteressiert zuckt er die Achseln. „Von mir aus morgen. Aber bitte komm nicht wieder 'ne halbe Stunde zu spät, okay?" Als ob das meine Schuld gewesen wäre.
In Anbetracht der Tatsache, dass er mir gerade den Arsch gerettet hat, verkneife ich mir einen zickigen Kommentar. „Ich geb mein Bestes", antworte ich stattdessen. „Sagst du Adrien Bescheid?"
Zack, schon ist sein spöttisches Grinsen wieder da. „Hast du etwa Angst vor ihm?", zieht er mich auf und scheint eine diebische Freude daran zu haben.
Ich seufze entnervt. „Ja, total", entgegne ich sarkastisch. „Ich mach mir jedes Mal in die Hosen, wenn ich ihn sehe."
Theodore lacht breit. „Das sag ich ihm", kündigt er hämisch an, während er sich von mir entfernt und bald darauf nicht mehr zu sehen ist.
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