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Obwohl Jasper sein Bestes gab, um Lilys Laune zu heben, schwebte der Streit mit Sev immer noch in einer dunklen Wolke über Lilys Kopf. Schon jetzt verstand sie nicht mehr, was in sie gefahren war. Natürlich war die Wut auf sein eigenmächtiges Handeln vor den Ferien noch nicht vollkommen verblasst. Aber eigentlich wollte sie nicht mit ihm in Streit geraten, nicht mehr.
Vollkommen in Gedanken versunken merkte Lily nicht, wie Jasper plötzlich stehen blieb. Erst nachdem sie halb in ihn hinein gestolpert war, bemerkte sie, dass sie bereits an seinem Zelt angekommen waren. Die Hängematte schaukelte verlassen hin und her, Marie war verschwunden. Jasper verzog das Gesicht. „Mein Vater ist wieder da", murmelte er und seufzte. Lily betrachtete ihn von der Seite. Seine hohe Stirn, den sanften Schwung seiner Lippen.
„Denkst du, er hat etwas dagegen, dass ich bleibe?" Jasper zog die Schultern hoch. „Frag mich was Leichteres." Er schnaubte. „Keine Ahnung, was in seinem Kopf vor sich geht", sagte er und lächelte bitter. Lily zog die Innenseite ihrer Wangen zwischen die Zähne.
Jasper umfasste den bestickten Wandteppich des Eingangs und wollte ihn beiseiteschieben, als plötzlich erhitzte Stimmen zu hören waren. Schnelle französische Sätze wurden gefolgt von einem lauten Knall. Jaspers Gesicht verlor an Farbe, er ließ seine Hand wieder sinken. „Es gibt keinerlei Grund zur Annahme, dass Noah mit meinen Vorgesetzten spricht. Hör auf, es komplizierter zu machen, als es ist!" Das war Jaspers Vater. Eine kurze Stille machte sich breit. Es folgte ein weiterer Knall.
„Marie!" Bisher war Lily immer der Meinung gewesen, man könne einen Namen wie Marie nicht wie eine Drohung klingen lassen. Aber Jaspers Vater bewies ihr gerade das Gegenteil. „Verflucht, ich sage dir, wenn du noch mehr meiner Unterlagen-"
Marie unterbrach ihn mit einem wüsten Schrei. Jaspers Nase kräuselte sich. „Sie hat gerade gesagt, wenn mein Dad es Noah nicht bald erzählt, dann sorgt sie dafür, dass alle seine Unterlagen in Flammen aufgehen und teilt dem Ermittlungsausschuss mit, was für üble Kreaturen mein Vater noch alle in seinem Labor vor dem Ministerium geheim gehalten hat."
Lilys Mund öffnete sich staunend. „Deine Mutter ist wirklich... beeindruckend, wenn sie wütend ist." „Hah!", stieß Jasper schnaubend aus und setzte zu einer weiteren Antwort an, als sich hinter Ihnen jemand räusperte. „Unsere Mutter", verbesserte Noah. „Und wenn du mir jetzt nicht sagst was los ist, Jas, dann verhex ich dich bist du nicht mehr geradeaus gehen kannst."
Noahs Stimme bebte und ein harter Zug, den Lily noch nie zuvor an ihm beobachtet hatte, umspielte seine Mundwinkel. „Ich hab dir gar nichts zu sagen", sagte Jasper kalt. „Nichts zu sagen?" Noahs Stimme überschlug mehrere Oktaven, bevor es aus ihm heraus platzte. „Meinst du nicht, ich habe so langsam mal eine Erklärung verdient?"
„Ich-", begann Jasper und Lily begann sich unglaublich unwohl in ihrer Haut zu fühlen. „Ich, ich, ich", spuckte Noah Jasper vor der Füße. „Stimmt, ich vergaß. Der großartige Jasper Claireveaux schuldet niemandem eine Erklärung." Noah machte einen Schritt auf seinen Bruder zu und stieß ihn rücklings gegen die Außenwand des Zeltes. „Du bist ein verdammter Idiot, Noah", flüsterte Jasper, dann packte er Noah an den Schultern und zwang ihn in die Knie.
Noah setzte zum Gegenangriff an, versuchte, Jasper die Handgelenke zu verdrehen und zog an seine Haaren, sodass sich die Kopfhaut vom Schädel zu lösen schien. „Hey!", rief Lily dazwischen und probierte, in dem Gerangel aus Armen und Beinen die Hemdkragen der beiden zu fassen zu bekommen, um sie auseinander zu bringen. Aber für Noah und Jasper schien sie nicht mehr existent. Jasper versenkte seinen Ellenbogen in Noahs Magengrube, er erwischte im Gegenzug mit seinem Knie Jaspers Nase.
„Ich muss solange drauf schlagen, bis es anfängt zu bluten, weißt du?", presste Noah hervor und verfehlte knapp ein zweites Mal Jaspers Nasenbein. „Denn unser kleiner Jasper kann ja kein Blut sehen. Am schlimmsten ist es natürlich mit seinem eige-" Der Rest des Satzes ging in einem Keuchen unter, Noah hatte einen Schlag von unten gegen das Kinn einkassiert. „Ich hoffe du hast dir deine Zunge abgebissen, dann kommt vielleicht nicht mehr so viel Scheiße aus deinem Mund", bemerkte Jasper trocken und Lily sah, wie er angesichts der Tatsache, Noah die Tränen in die Augen getrieben zu haben, zufrieden wirkte.
Einige Sekunden lang herrschte Stille, ein gefährlich stummes Schweigen. „Brüder kann man sich nicht aussuchen", sagte Noah dann leise und ließ von Jasper ab. Er drehte den Kopf und blickte Lily ins Gesicht. „Freunde schon. Scheint nur, als hättest du dir die falschen ausgesucht, nicht wahr?" Er lachte trocken und schlug sich grauen Staub von der Hose. Lily schluckte. „Das stimmt nicht", erwiderte sie leise und merkte selbst, wie mickrig es sich anhörte. „Sehr überzeugend", hörte sie Noah auch schon sagen, Jasper drehte sich weg.
„Also dann..." Noah verzog den Mund zu einer Grimasse. „Machen wir einfach weiter so wie bisher. Auf dass die nächsten zwei Jahre genauso toll werden wie die letzten. Ich meine, davor hatte ich immerhin einen Bruder, der manchmal mit mir geredet hat." Bitterkeit tropfte aus jedem seiner Worte, Lily trat von einem Bein aufs andere. Sie hatte das Gefühl, Jasper irgendwie verteidigen zu müssen und trotzdem stand sie da mit leeren Händen. Weil Noah Recht hatte.
Jasper drehte ihnen jetzt den Rücken zu, er hatte den Kopf in den Nacken gelegt. Vielleicht würde seine Nase wirklich anfangen zu bluten und jetzt hoffte er, das Blut einfach so den Rachen runterlaufen lassen zu können.
„Du bist ziemlich verblendet, wenn es dir noch nicht aufgefallen ist." Jasper drehte sich nicht um, während er sprach. „Für einen Ravenclaw bist du ziemlich dumm, aber das habe ich ja schon immer behauptet." Obwohl sich Jaspers Worte nicht an Lily richteten, spürte sie, wie sich jedes einzelne in eine spitze Waffe verwandelte, sobald es seinen Mund verließ. Sie mochte sich erst gar nicht vorstellen, wie es sich für Noah anfühlen musste.
„Sie streiten sich eben manchmal." Noahs Stimme klang zum Schneiden dünn. „Das ist normal, jeder streitet sich manchmal." Lily dachte an Sev und zwang sich gleichzeitig dazu, den Gedanken in den letzten Winkel ihres Hirns zu verbannen. Jasper schüttelte den Kopf, als sich langsam wieder zu ihnen umdrehte. „Um deine naive Weltsicht beneide ich dich fast ein bisschen", sagte er und zum ersten Mal hörte es sich ehrlich an.
Jasper und Noah standen sich jetzt gegenüber, ein paar Zeltreihen entfernt verblassten die riesenhaften Gestalten irischer Kobolde in der Luft.
„Maman ist ausgezogen, Noah."
„Ausgezogen? War-" Er stockte, schien mit sich zu ringen. Blinzelte, zu oft hintereinander. Jasper presste die Lippen zu einer schmalen weißen Linie zusammen. „Sie ist ausgezogen, weil sie sich streiten und sie streiten, weil sie sich nicht mehr lieben."
Sekunden vergingen, in denen sich Noahs Schultern hoben und senkten und Jasper einfach nur dort stand, ohne dass etwas passierte.
„Ist es wegen der Rosalie-Sache?" Noah schluckte, seine Augen hatten sich zu kleinen Schlitzen verengt. Lily runzelte die Stirn. Rosalie-Sache, was meinte Noah damit? Jasper hatte anscheinend nicht vor, die Rosalie-Sache zu erklären. Er zog die Schultern hoch und verschränkte die Arme vor der Brust. Lily versuchte, seinen Blick aufzufangen, irgendwie zu erfahren, was in ihm vorging. Aber er wirkte genauso unnahbar wie Sev.
Sie wusste nicht, wie lange sie noch regungslos auf ihren Positionen verharrt hätten, wenn nicht auf einmal der Wandteppich beiseitegeschoben worden wäre. Maries Kopf schob sich den schmalen entstehenden Spalt, ein paar hellblonde Haarsträhnen fielen ihr ins Gesicht. Sie hatten dieselbe Farbe wie Noahs Locken.
„Oh, Aimée. Wie schön, dass du immer noch da bist." Sie lächelte und es gab kaum etwas, was in diesem Moment unpassender gewesen wäre, als Maries Lächeln, das genauso zurückhaltend und ruhig wirkte wie immer. Nur, dass Lily immer noch den Klang ihrer wutentbrannten Stimme in den Ohren hatte, dass sie das Bild der schönen Frau mit dem sanft fallenden Haar und den meerblauen Augen nicht mit dem verbinden konnte, was sie gehört hatte.
Marie schien ihr innerer Kampf nicht aufzufallen, sie wandte sich jetzt an Noah und Jasper. „Euer Vater und ich haben noch ein Gespräch mit Monsieur Grimbert und Silvia Hugo. Wir werden am späten Nachmittag wieder da sein, sodass wir rechtzeitig zum Spiel aufbrechen können." „Super", antwortete Jasper hölzern, als nach einigen Momenten des Schweigens klar wurde, dass Noah nicht antworten würde.
Der Wandteppich fiel zurück an seinen Platz, Noah sah aus, als hätte die Maulende Myrte ihn gerade geküsst. Er ging einen Schritt zur Seite, als sein Vater und Marie das Zelt verließen und im Gedränge der Menschen auf einem der Hauptwege verschmolzen.
„Komm", murmelte Jasper dann und sah Lily auffordern an. Er hielt ihr den Wandteppich beiseite und schlüpfte nach ihr in das Halbdunkel des Zeltes. „Was ist mit Noah?", fragte sie leise, nachdem der Teppich die Eingangstür wieder verschlossen hatte. „Ich schätze, er braucht jetzt etwas Zeit." Er ging in Richtung eines der Nebenzelte und sammelte auf dem Weg ein paar seiner Sachen zusammen. Lily eilte ihm hinterher. „Ja, schon. Aber vielleicht solltest du jetzt... naja, bei ihm sein oder so." Er seufzte und blieb stehen, eine blau grün geringelte Socke in den Händen haltend. „Hast du ihm eben nicht zugehört? Ich glaube, es ist recht deutlich geworden, dass er mich hasst."
Lily rollte mit den Augen. „Das hat sich vielleicht so angehört, weil du gerade dabei warst, die Zunge abzuhacken." Jasper legte den Kopf schief, so als bedürfe es einer aufwendigeren Antwort gar nicht erst. „Hör zu, Jasper, ich denke wirklich, dass er dich mag. Irgendwo, ganz tief-"
Er schnaubte und machte sich daran, die zweite geringelte Socke zu finden. „Du solltest das nicht so abstreiten, ihr seid Brüder, trotz allem und – Sag mal, was tust du da eigentlich gerade?" Jasper wirkte genervt, als er sich wieder zu Lily umdrehte. „Packen, wonach sieht es denn sonst aus?" Perplex wich Lily zurück. „Packen, ja klar, warum auch nicht", murmelte sie leise.
„Ja, packen", bestätigte Jasper ein zweites Mal. „Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich jetzt hier bleibe. Das hier wird nach der Rückkehr meiner Eltern explosiver als eine XXL-Packung von Filibusters nasszündenden Riesenkrachern. Also tut es mir leid, aber du wirst keine Nacht auf unserer Couch verbringen." Lilys Kopf ratterte, aber noch bevor sie auf eine Lösung kommen konnte, sprach Jasper auch schon weiter.
„Ich schlage vor, wir türmen erstmal nach London. Mit etwas Geschick müssten wir in die Wohnung von meinem Dad einbrechen können."
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