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Lily lag mit geschlossenen Augen da und versuchte die Bruchstücke ihrer Erinnerung wieder zu kitten. Traumfetzen hatten sich mit der Realität vermischt, waren mit ihr verschmolzen. Eine kühle schwere Hand lag auf ihrer Stirn.

„Wie geht es dir?"

Die Hand verschwand und mit ihr die angenehme Kühle, die Sev genauso wie seine Nüchternheit stets anheftete. „In Ordnung, glaube ich", sagte Lily mit heiserer Stimme und setzte sich auf. „Wo sind wir?"

Sie war nicht länger bei Azbije, der Blick aus dem Fenster entblößte eine nackte Betonwand. „In Tirana." Sev strich die Bettdecke glatt und erhob sich von der Bettkante. „Ich konnte deinen Zustand schlecht einschätzen und wollte nicht länger als nötig apparieren."

Lily erinnerte sich an die beklemmende Enge und schauderte. „Ist apparieren immer so?" Sev drehte sich zu ihr um und fast meinte sie, ein amüsiertes Zucken seiner Mundwinkel zu entdecken. „Irgendeinen Grund muss es wohl geben, dass sich immer noch so viele auf Portschlüsseln verlassen", sagte er und schnaubte verächtlich. Offensichtlich hielt er nicht viel von Zauberern, die auf der Bequemlichkeit von Portschlüsseln beharrten.

Sev wandte sich ab und Lily nutzte die Zeit, um sich umzusehen. In einer Ecke des Raumes stand ein Schrank, neben der Tür hing ein Waschbecken mit Spiegel an der Wand. „Wo hast du geschlafen?", fragte Lily, denn auf einmal überkam sie bei dem Gedanken, die Nacht alleine in einer fremden Stadt in einem einsamen Zimmer verbracht zu haben, eine Gänsehaut.

Einige Sekunden verstrichen, bis Sev antwortete. „Ich habe nicht geschlafen", sagte er nur und warf einen schnellen Blick auf den Holzstuhl, der mit starrer Lehne fehlplatziert neben dem Schrank stand. Auf der Betonwand hinter dem Fenster tanzten die Schatten zweier Tauben auf und ab. Lily lehnte sich zurück gegen ihr Kissen und zog die Beine an.

„Hast du Dumbledore geschrieben?" „Ich habe ein paar Briefe begonnen." Sie presste die Lippen zusammen und schlang die Bettdecke noch fester um ihre Füße. Sev drehte sich zu ihr um, kam aber nicht näher, sondern setzte sich zurück auf den Stuhl. Und dann schwieg er.

„Wir waren zu spät", durchbrach Lily schließlich die Stille. „Wurmschwanz-", sie stockte während Sevs Körper sich anspannte, „hatte ihn schon gefunden." „Den dunklen Lord", ergänzte Sev kaum hörbar und warf ihr einen schnellen Blick zu, bis er wieder den Bettposten anstarrte. „Ja", bestätigte Lily und ließ ihren angehaltenen Atem stoßweise entweichen.

„Er sah nicht aus wie ein Mensch. Es ist unbeschreiblich, so wie er aussah. Und Wurmschwanz hatte Bertha Jorkins. Sie hat noch gelebt. Und dann hab ich die Lampe explodieren lassen. Die blaue Flamme, da war diese Flüssigkeit, ein Trank-", sprudelten die Worte plötzlich aus ihr heraus. „Nagini. Er hatte eine Schlange, Nagini. Wurmschwanz sollte sie melken. Sie wollten aufbrechen, aber das Feuer-" Lily schloss die Augen, sah die Flammen über den Boden kriechen, den Lehnstuhl erreichen.

„Ich hätte es löschen müssen, Sev. Azbije und-" „Lily", unterbrach er sie sanft, aber nicht weniger eindringlich. „Wir werden das regeln. Dumbledore wir das regeln. Aber vorerst ist es wichtiger, sich zu konzentrieren." Lily biss sich auf die Zungenspitze. „Ja", murmelte sie leise. „Das, was du gesehen hast, ist von immenser Bedeutung. Behalte einen klaren Kopf!" Lily schlug die Bettdecke zurück und nickte fest. „Ja", weiderholte sie und hielt dabei Sevs Blick stand.

Er erwiderte nichts, sondern stand auf und ging in engen Kreisen zwischen Waschbecken, Schrank und Bett auf und ab. „Von Anfang an", befahl er ihr und Lily begann. Erzählte, wie Bertha sie angesprochen hatte, wie der Mann ihr bekannt vorgekommen war. Wie sie auf gut Glück den Weg in den Hinterhof gefunden hatte und von dort aus in die Scheune gelangt war. Sie behielt einen kühlen Kopf, ganz wie Sev es gesagt hatte und kam selbst nicht ins Stocken, als sie die Gestalt des dunklen Lords beschrieb. Den Stoff der Bettdecke zwischen ihren Händen aufs Zerreißen gespannt, schilderte sie Sev, wie hilflos er ausgesehen hatte, wie unberechenbar und hilflos und böse. Am Ende angekommen, blieb Sev stehen, ihr den Rücken gekehrt.

Lily blickte aus dem Fenster auf die Betonwand. Die Tauben waren verschwunden, dafür teilte nun die Sonne das graue Rechteck in zwei Dreiecke. Eines hell und gelb strahlend, das andere trüb und dunkel.

„Der Trank, erinnerst du dich an den Trank?"

Sev stellte noch weitere dieser Fragen. Es war wie früher, nur umgekehrt. Damals hatte Sev Lily verschiedenste Eigenheiten von Zaubertränken geschildert, damit sie herausfand, um welchen es sich handelte. Jetzt beschrieb Lily den Trank und Sev versuchte, ihn zu erraten. Fast zwei Stunden vergingen unter Sevs Kreuzverhör, dann blieb Ernüchterung zurück. Sie hatten nichts, nur eine vage Beschreibung, die auf vieles passen könnte. Wurmschwanz, sein Herr und Bertha konnten inzwischen überall sein, sogar tot, auch wenn keiner von beiden diese Möglichkeit erwähnte.

„Wir sollten uns Tirana ansehen", schlug Sev vor, nachdem sie eine Zeit lang stumm dagesessen hatte, jeder in seine eigenen Gedanken vertieft. Überrascht hob Lily den Kopf. „Etwas essen, einige Besorgungen machen." Sev musterte sie prüfend. „Schaffst du das?" „Mir geht es gut." Lily stand auf, ignorierte das Fehlen der Wärme durch das Verlassen des Bettes. „Wirklich."

Bei ihrem überstürzten Aufbruch hatten sie ihre Habseligkeiten vergessen. Es war keine Zeit mehr geblieben, sie zu holen. Dutzende Bücher waren zurückgeblieben, ein Großteil der Zaubertrankutensilien sowie die unterschiedlichen Proben der Schlangenhäute, die Sev in kleinen Fläschchen mit Alkohol konserviert hatte.

So wie es sich herausstellte, gab es in Tirana nicht nur italienische Pizzerien, sondern auch einen blühenden magischen Handel, der in seinem Angebot jedoch vielmehr der Nokturn als der Winkelgasse ähnelte. Auch ohne Sevs warnenden Blick hätte sie wohl kaum eine Hand zwischen die Gitterstäbe eines Vogelkäfigs gesteckt, auch wenn das Wesen darin einer normalen Eule ähnelte.

„Hagrid wäre zutiefst begeistert", bemerkte Lily, als sie an einem Laden vorbeigingen, der ganz offensichtlich verschiedenstes Zubehör für Drachenzüchter anbot. „Und die Dracheneier gibt es mit Sicherheit im Hinterzimmer", fügte Sev stirnrunzelnd hinzu und ging schneller. Je tiefer sie in das Gewirr der Gassen eintauchten, desto stärker beschlich Lily das Gefühl, dass der wahre Grund, warum Sev den Schwarzmarkt Tiranas erkunden wollte, ein gänzlich anderer war, als die Zaubertrankutensilien zu ersetzen.

Lily hatte sich immer gefragt, ob es noch einen versteckten Grund gab, warum Dumbledore Sev verweigerte, Verteidigung gegen die dunklen Künste zu unterrichten. Jetzt begriff sie, dass Dumbledore diesen Grund gar nicht brauchte. Sev versuchte zwar, es vor ihr zu verbergen, aber es war eine unumstößliche Tatsache, dass die schwarze Magie immer noch eine große Anziehungskraft auf ihn ausübte. Beim Anblick einer Braustube, in der hinter gläsernen Scheiben Zauberer Tränke zubereiteten, weiteten sich seine Augen und er verharrte. Er sog die Dämpfe ein und blieb stehen, bis ein Zauberer mit breiten Schultern und Stiernacken ihn beiseite drängte.

Vor einem Laden, der unterschiedlichste Flüche anbot, betrachtete er aufmerksam die Plakate an den Außenwänden, die allesamt in düsteren Farben illustrierten, was denjenigen zustieß, die mit den Flüchen in Berührung kamen.

„Warte hier draußen und sprich mit niemandem, bis ich wieder da bin", forderte Sev Lily auf, bevor er in einem der Läden verschwand. Mit seinem dunklen Umhang, dem strähnigen Haar und der bleichen Gesichtsfarbe war es für Sev ein leichtes, in der Menge unterzugehen. Lily dagegen fühlte sich vor der Ladentür wie auf dem Präsentierteller. Ein fast dreizehnjähriges Mädchen mit rotem Haar, ohne Begleitung auf dem Schwarzmarkt.

Durch die getönten Scheiben versuchte Lily ins Innere des Ladens zu blicken, fuhr jedoch erschrocken zurück, als kaum einen Zentimeter von ihr entfernt die Schnauze eines zähnefletschenden Hundes auftauchte. Das Fensterglas vibrierte, als der Hund dagegen sprang und Lily drehte sich schnell wieder um.

Die Minuten, bis Sev den Laden wieder verließ, zogen sich ins Unendliche, aber als er das schließlich tat, schien er nichts gekauft zu haben.

„Es gibt eine Planänderung", eröffnete Sev ihr schließlich, nachdem sie wieder im nichtmagischen Teil der Stadt angelangt waren und warme Sonnenstrahlen ihre Haut prickeln ließ. „Wir werden erst in zwei Tagen mit dem Portschlüssel abreisen können." „Portschlüssel", wiederholte Lily amüsiert und beobachtete, wie Sev versuchte, ihren Einwurf ohne eine Regung zu ignorieren. „So lax die nationale Gesetzgebung im Umgang mit Tieren der Gefährdenklasse C auch sein mag, der menschliche Transport wird streng reglementiert. Apparieren ist nur im Land gestattet", erklärte Sev, „und international nur von Sammelstellen aus möglich. Es werden Papiere und Ausweise verlangt."

Damit war das Apparieren vom Tisch. Ohne, dass Sev es laut aussprechen musste, war Lily klar, dass das vor allem an den Papieren und dem Ausweis lag. Und daran, dass sie beides nicht besaß. Offiziell gesehen existierte sie nicht, hatte keine Adresse, kein Geburtsdatum und keinen Namen. Dumbledore hatte versucht einen Antrag zu stellen, aber der steckte vermutlich in irgendeinem Ministerium fest und würde nicht mehr bearbeitet werden.

„Portschlüssel sind freier zugänglich, ich habe schon einen ausfindig gemacht." Sevs Ausflug in den Laden, ohne etwas zu kaufen. Er hatte etwas gekauft. Informationen. Das höchste Gut eines jeden Schwarzmarktes. „In zwei Tagen wären wir wieder in England."

Lily ließ die Neuigkeiten einige Sekunden lang sickern. Sie gingen über einen Markplatz hinweg und durch die Häuserreihen hinweg blitzte hin und wieder das strahlend blaue Wasser eines künstlich angelegten Sees. Bald würde sie der große See zu Füßen des Schlosses wieder willkommen heißen. Lily konnte nicht umhin, als sich darauf zu freuen.

„Ich werde Dumbledore alles ein zweites Mal erzählen müssen", seufzte sie leise und drehte sich zu Sev um, der ein paar Schritte hinter ihr stehen geblieben war. „Ist doch wahr?" Er legte den Kopf schief. „Er wird darauf bestehen." Sie nickte und starrte weiter auf den künstlichen See. Seltsam, dass sich die Muggel die Mühe machten, künstliche Seen anzulegen. Andererseits waren künstliche Seen wahrscheinlich nichts, gegenüber dem Versuch zu apparieren oder mit dem Portschlüssel zu reisen.

Die folgenden zwei Tage verbrachten Lily und Sev am Seeufer, auch wenn Lily Sevs Anblick unter der Sommersonne Albaniens irritierend fand. Seine bleiche Haut bekam sogar ein bisschen Farbe, auf der Spitze der langen Hakennase wurde sie rot wie eine gekochte Krabbe. Den ganzen Nachmittag lang beobachtete Lily verschmitzt, wie sich die Röte immer weiter durch sein Gesicht zog, ihm immer mehr von seinem eigenbrötlerischen Sinn nahm. Kurios, dass er gerade nach einer missglückten Mission, die beinahe in einer Katastrophe geendet wäre, so gut gelaunt war wie noch nie.

Am Abend, sie waren dabei die Koffer zu packen und Lily hatte in Sevs Gepäck ein in dunklen Tüchern gebettetes Instrument entdeckt, dass auf der Hinreise definitiv nicht dagewesen war, betrachtete er sich zum ersten Mal wieder im Spiegel. Die Stirn gerunzelt ging er zurück zum Koffer, kramte die Börtgens Wund- und Heilcreme hervor und kam erst wieder aus dem Badezimmer, als sein Gesicht wieder eine normale Färbung angenommen hatte. Das Instrument war auf ungewisse Art und Weise bei der Suche nach der Creme verschwunden und Lily traute sich nicht, die Tiefen des Koffers nach ihm zu durchsuchen.

Ihr Portschlüssel bestand aus einer Gummiente, deren Kunststoff brüchig und rau geworden war. Lily konnte sehen, wie Sev zunehmend grimmiger wurde, je mehr Zauberer sich um die Gummiente scharten. Die Zauberergruppe unterhielt sich auf schnellem Albanisch, ein Großteil von ihnen trug ausladende bunte Umhänge. Außerdem ging von ihnen ein eigentümlicher Geruch aus, nach irgendeinem Gewürz, das Lily nicht zuordnen konnte.

Eine junge Hexe mit kurz geschorenem Haar, die direkt neben Sev stand und ihn ein paar Mal versehentlich anrempelte, warf immer, wenn es ihr zu still um sie herum wurde, einen schnatzförmigen Ball in die Luft, der ein lautes Quietschendes Geräusch von sich gab. Die Missbilligung in Sevs Gesicht wurde unermesslich.

Lily spielte schon mit dem Gedanken, ihm beruhigend eine Hand auf den Unterarm zu legen, als ein Pfiff durch die Luft gellte. Schnell beugte Lily sich vor, um auch noch einen Zeigefingerplatz an der Gummiente zu ergattern. Mit der anderen Hand umklammerte sie den Koffer und schob mit dem Ellenbogen ihren Zauberstab tiefer in die Taschen ihres Mantels.

Einen Pfiff später, spürte Lily wie sie eine Energie direkt am Bauchnabel packte, wie sie an der Gummiente klebend fortgesogen wurde. Sie drehten sich, alles drehte sich und Sevs Füße schlackerten gegen ihre Beine.

Einige Sekunden lang herrschte vollkommende Stille, allein erfüllt vom strömenden Wind. Dann durchbrachen sie eine Wand aus Jubelgeschrei und lauten Rufen. Lily reckte den Hals, am Boden unter ihnen tummelten sich Farbkleckse und Menschengruppen.

„Wo in England landen wir eigentlich?", brüllte sie Sev entgegen, aber der Wind trug ihre Worte davon. Als ihre Füße schließlich den Boden berührten, der Koffer mit der Wucht einer Bombendetonation neben ihr einschlug und der Himmel über ihren Köpfen erfüllt war von der irischen Quidditchhymne, da ahnte Lily, wo sie gelandet waren.

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