22
Bei Hagrid erwartete Lily die nächste Ernüchterung. Schon von weitem vernahm man Stimmen und als sie vorsichtig hinter seine Hütte blickte, sah sie Rosalie mit der Schulleiterin von Beauxbatons an Hagrid Tisch sitzen und sich angeregt unterhalten.
Hagrid hatte sich Mühe gegeben: Auf den Holzbänken, an denen sich Lily schon einige Male Splitter unter die Haut gejagt hatte, lagen weiche Tierfelle und mittig auf dem Tisch brannte ein magisches Feuer. Es war so warm, dass Rosalie sogar ihren grauen Mantel abgelegt hatte und nur in feingewebtem Pullover dort saß.
Lily wickelte sich ihren Schal enger um den Hals, der Novemberwind war scharfzüngig, sofern man sich keiner magischen Hilfe bediente. Zu Rosalies Füßen lag Mette und irgendwo versetzte Lily diese Tatsache einen kleinen Stich. Vielleicht lag es an der Beiläufigkeit, mit der Rosalie Mette hinter den Ohren kraulte, vielleicht daran, dass die Hundewelpen vorher immer nur eine Sache zwischen Jasper, Lily und Hagrid gewesen waren.
Keiner der drei bemerkte sie, während sie verstohlen die Gesellschaft beobachtete, dafür war vor allem Hagrid viel zu sehr damit beschäftigt, Rosalies Schulleiterin schöne Augen zu machen.
Mit einem undefinierbaren Gefühl in der Magengrube kehrte Lily um. Mit langsamen Schritten machte sie sich auf den Rückweg. Sie hatte alle notwendigen Hausaufgaben erledigt, nur wenig Interesse daran, sich im Gemeinschaftsraum mit Laureen und Madison zum fünfhunderten Mal über Cedric Diggory zu unterhalten und Jasper musste erstmal seinen Potter-stinkt-Anstecker loswerden, bevor er ihr wieder unter die Augen treten durfte.
Kurz entschlossen entschied sie sich dazu, noch eine Runde um den schwarzen See zu drehen. Es würde ihr gut tun, endlich mal wieder den Kopf frei zu kriegen und ein bisschen frische Luft zu schnappen.
Schon von weitem konnte man sehen, wie das Durmstrang-Schiff über dem Wasser empor ragte und durch seine dunkle Spiegelung im Wasser nur noch bedrohlicher wirkte. Je mehr Lily sich näherte, desto stärker wurde das leise Glucksen des Wassers, das zurückhaltende Rauschen der kleinen Wellenkämme, die die ansonsten spiegelglatten Oberfläche kräuselten.
Hinter einem Fenster leuchteten in regelmäßigen Abständen helle Funken, vermutlich übte jemand einen bestimmten Zauberspruch. Lily fragte sich, ob das Krum war, der sich schon auf die erste Turnieraufgabe vorbereitete.
Sie beobachtete die anderen Fenster. Hinter manchen bewegten sich Schatten, in anderen spiegelte sich die tief stehende Sonne zu sehr, als das man etwas hätte erkennen können. Trotzdem machte Lily sich einen Spaß daraus zu überlegen, was hinter ihnen vor sich ging.
Sie war so eingenommen von ihren eigenen Gedankengängen, dass sie beinahe in den Schlagschatten der Peitschenden Weide getreten wäre. Als sie das in der letzten Sekunde bemerkte und hektisch einige Schritte zurück stolperte, wäre sie auf dem kleinen Pfad am Waldrand, der um die Weide herum führte, beinahe in ihren Vater hineingelaufen.
Er stand mit einem zweiten Mann, den Rücken ihr zugewandt, mit Blick auf den See. Mit klopfendem Herzen verbarg Lily sich auf dem Boden kauernd hinter einem großen Baumstumpf, nur wenige Meter von ihnen entfernt.
Ein kleiner Teil ihrer selbst empfand so etwas wie ein schlechtes Gewissen, aber ihre Neugierde siegte spätestens, als ihr bewusst wurde, dass es sich bei dem zweiten Mann um Igor Karkaroff handelte.
Der Leiter des Durmstrang-Instituts war kleiner als Sev und die fehlende Körpergröße konnte weder durch den pompösen pelzbesetzten Mantel noch seinen breitbeinigen Stand kompensiert werden.
Er strahlte eine unangenehme Nervosität aus, die Lily ganz zappelig werden ließ. Im Gegensatz dazu stand Sev gerade und unbeweglich wie eine Statue aus schwarzem Marmor.
„Das wird das letzte dieser Treffen sein, Igor. Ich schätze es nicht, mir von Ihnen Befehle erteilen zu lassen und ich schätze es ebenso wenig, mich hier im Wald mit Ihnen zu treffen. Wir haben nichts zu verbergen."
Sevs Stimme war klar und gefasst, Karkaroff zuckte bei seinem letzten Satz zusammen. Dann plötzlich, in einer scharfen Bewegung, entblößte Karkaroff Sev seinen Unterarm.
„Und das hier? Und das hier, Severus?", stieß er aus.
Karkaroff hatte einen rauen Akzent, der seine Stimme heiser und gefährlich klingen ließ.
„Dir muss es doch auch aufgefallen sein!"
Karkaroff hielt Sev seinen Arm so nah vor sein Gesicht, dass er einen Schritt zurücktrat. „Es ist dunkler geworden, seit diesem Sommer." Sev schwieg immer noch. „Was hat das zu bedeuten, Severus?"
Sev drehte sich von ihm weg und trat einige Schritte näher ans Ufer. „Du weißt, was es zu bedeuten hat, Igor." „Aber..." Karkaroffs Stimme klang schriller. „Aber das ist unmöglich."
„Unmöglich? Dass der Dunkle Lord zu Zaubern fähig ist, die vor ihm niemand zu wagen vermochte? Lassen Sie die Ammenmärchen."
Sev schüttelte den Kopf und wandte sich vom See ab. „Es ist Zeit", sagte er knapp. „Und vergessen Sie nicht, das war das letzte unserer Treffen."
Lily presste sich fester an den Baumstumpf und zog Kopf und Schultern ein. Sie hörte Laub rascheln und Schritte, die sich entfernten. Um nicht in Sevs Sichtfeld zu gelangen, kroch Lily vorsichtig um den Baumstumpf herum, bis das Risiko zu groß wurde, dass Karkaroff sie bemerkte. Er stand immer noch am Seeufer und blickte in die Ferne.
Seine Schultern hoben und senkten sich unregelmäßig. Sein Unterarm, auf den das Dunkle Mal tätowiert war, lag immer noch frei. Vielleicht lag es daran, dass er zitterte.
Zitterte und leise Worte in einer fremden Sprache von sich gab. Karkaroff ließ sich langsam auf den Waldboden sinken. Er saß mit angezogenen Beinen da, den Kopf unter seinen Armen verborgen. Der Strom an Wörtern, der aus ihm herausbrach, hatte immer noch nicht nachgelassen.
Er wurde nur Stück für Stück langsamer, die Wörter verwaschener. Karkaroff rieb sich über den Schädel, grob und als würde er sich für etwas bestrafen wollen. Das letzte, was er sagte, bevor er verstummte, war auf englisch.
„Aber Herr, ich will doch nicht sterben."
Dann sackte er vollkommen in sich zusammen.
*
„Was ist dein Plan, Sev?"
Lily hatte nach ihrem Ausflug zum See sofort Sevs Büro aufgesucht, ohne einen Abstecher zum Gemeinschaftsraum zu machen. Der dunkle Lord erstarkte. Etwas anderes konnte Sevs und Karkaroffs Unterhaltung nicht bedeuten. Und wenn das für Karkaroff den sicheren Tod bedeutete, warum sollte Sevs Zukunft anders aussehen?
„Ich habe Karkaroffs und deine Unterhaltung gehört, ich-"
Sev musterte sie abschätzig, so als wolle er prüfen, ob sie die Wahrheit sagte oder sich das gerade alles nur ausdachte. „Dazu hattest du kein Recht."
Lily machte eine unwirsche Handbewegung. „Das ist mir egal. Ich möchte wissen, ob du einen Plan hast. Denn Karkaroff geht offenbar davon aus, in naher Zukunft zu sterben."
Sie dachte daran zurück, wie der Schulleiter der Durmstrangs auf dem Waldboden gelegen hatte, zitternd vor Angst. „Warum denkt er überhaupt, dass er sterben wird?"
Sev lief eine Runde um seinen Schreibtisch herum, dann wies er mit einer Hand auf den unbequemen Stuhl ihm gegenüber. „Setz dich doch."
Lily atmete aus und setzte sich. Sev tat es ihr nach und nahm auf dem anderen Stuhl platz. Ihre Situation wirkte wie ein förmliches Gespräch zwischen Schüler und Lehrer. Nicht um ein Gespräch um Leben und Tod zwischen Vater und Tochter.
„Das dunkle Mal wird stärker", begann Lily leise. Sev nickte. Sie schwiegen einen Augenblick lang. Dann rollte Sev seinen linken Ärmel auf.
Das Dunkle Mal an seinem Unterarm zu sehen, weil er es ihr zeigte und weil er es ihr zeigen wollte, war so ungewohnt, dass Lily sich kaum traute, es zu betrachten.
Er ließ seinen Unterarm ruhig auf der Tischplatte liegen. Das dunkel gemaserte Holz stand in einem seltsamen Kontrast zu seiner hellen Haut, unter der sich die Maserung mit blauen Adern fortzuführen schien.
Die Tätowierung war filigraner, als Lily sie erwartet hatte. Auf abstruse, künstlerische Art und Weise sogar schön.
Ein dunkel schraffierter Schlangenkörper, der sich um sich selbst gedreht das Unendlichkeitszeichen formend, aus einem Totenschädel wand und den Betrachter zwei Giftzähne zeigend anzugreifen schien.
Durch die feinen grauen Linien sah es in dem trüben Licht in Severus Büro beinahe so aus, als würde sich die Schlange bewegen.
Sev zog mit seinem Zeigefinger die liegende acht nach, die die Schlange mit ihrem Körper bildete.
„'Für immer mit seinem Leben', das ist der Schwur, den man leistet. Die unausgesprochene Bedingung, die der Dunkle Lord niemals nennen musste."
Lily fröstelte es.
„Du kannst dich nicht freikaufen, du kannst ihm nicht entkommen. Alle, die es versucht haben, sind bei diesem Versuch gestorben. Todesser, die kalte Füße bekommen haben, die aussteigen wollten. Sie wurden hingerichtet, von Leuten aus den eigenen Reihen, von ihren Freunden."
Sev ließ seinen Ärmel wieder über das Mal gleiten. „Sie wurden vor den Augen der anderen getötet, als Beispiel dafür, was passiert, wenn man die ewige Treue bricht. Karkaroff hatte einen gewissen Ruf..." Sev schüttelte den Kopf. „Er selbst war oft derjenige, der den letzten Befehl des dunklen Lords ausführte."
Lily schluckte. „Und du?"
Er senkte den Kopf. „Auch ich habe getötet. Aber ich dachte, das hätten wir bereits geklärt."
Der Knoten in Lilys Brust war zu mächtig, um darauf eine Antwort zu geben. Es war Sev, der mit ruhiger Stimme weitersprach.
„Falls der Dunkle Lord erstarkt-", sagte er und fügte mit einem Blick auf seinen Unterarm hinzu: „-und gerade ist er Inbegriff genau das zu tun, dann wird jeder, der seine Gefolgschaft verraten und noch schlimmer, andere Todesser verraten hat, sich rechtfertigen müssen. Und jeder, der das nicht kann, wird sich verantworten müssen. Sterben müssen."
„Und du?", wiederholte Lily ihre Frage.
„Ich werde mich rechtfertigen." Eine Pause entstand. „Und versuchen, zu überleben."
Ihr wurde schlecht. Versuchen zu überleben. Sev musste ihr ihr Unbehagen angesehen haben. Als er fortfuhr, war seine Stimme weicher, fast beruhigend.
„Karkaroff hat sich viele Feinde gemacht. Er hat während des Gerichtsprozess beinahe den Verstand verloren. Die Gefangenen stecken in Azkaban umringt von Dementieren in winzigen kalten Zellen, aus denen sie nur für die Vernehmung befreit werden. Und zurück in der Zivilisation, und sei es nur, während man angekettet auf einem Stuhl sitzt, wünscht man sich nichts eindrücklicher, als nie wieder zurück zu müssen."
Sev schnaubte leise. „Karkaroff haben sie drei Mal wieder zurück gebracht, beim vierten Mal hat er ausgepackt und Namen genannt", sagte er leise. „Auch meinen."
Sev nahm einen tiefen Atemzug, bevor er weiter sprach. „Auf seine Denunzierung hin wurden zwei Todesser verhaftet, er selbst hat ihre Freiheit gegen seine eigene eingetauscht. Ich musste mir meine Freiheit nicht erkaufen. Professor Dumbledore hat diese Bürgschaft übernommen."
Er faltete seine Hände. „Falls es dazu kommt, dass der dunkle Lord zurückkehrt, werde ich ihm meine Dienste erneut zur Verfügung stellen und wenn er diese annimmt, für Dumbledore direkt an der Quelle sitzen."
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