18
Lily wachte davon auf, dass plötzlich eine Katze auf ihrer Brust saß und schnurrte. Benommen versuchte sie, sich in der Hängematte aufzusetzen, von dem Schaukeln wurde ihr ein wenig schwindelig. „Metis", murmelte sie dann verschlafen. „Und ich dachte schon, du hättest mich vergessen."
Lily streckte der Katze vorsichtig ihren Handrücken entgegen, Metis beschnupperte ihn ausgiebig, sodass ihre Schnurrhaare kitzelnd über Lilys Haut strichen. Dann rieb Metis ihren Kopf in der Wölbung ihrer Hand, stupste sie vorsichtig mit ihrer feuchten kühlen Nase an, so als wolle sie sich bei ihr beschweren, sie so lange nicht gestreichelt zu haben.
„Ich weiß, ich weiß", flüsterte Lily und seufzte leise. „Das tut mir leid, Metis." Dann vergrub sie ihre Nase in Metis weichem glänzenden Fell, das immer etwas nach frischem Heu duftete.
Mit sanften Bewegungen fuhr Lily Metis übers Fell, kraulte ausgiebig die weichen Stellen hinter den Ohren und unterm Kinn. Metis schnurrte leise und die regelmäßigen Vibrationen gegen Lilys Arme, vermochten sie auf wunderbare Art und Weise zu beruhigen. Und die Gedanken an das, was geschehen war und an das, was geschehen würde, einen Moment lang auszublenden.
Sie seufzte leise. Metis und der Lichtkorridor hatten es geschafft, sie der Realität zu entrücken, sie wusste noch nicht einmal, wie viel Uhr es gerade war oder welchen Tag sie hatten. Draußen dämmerte es, die Schatten der Baumwipfel wuchsen und legten sich über die Ländereien. Sie hatte vermutlich also nur wenige Stunden geschlafen.
Vorsichtig setze Lily sich auf, Metis sprang beleidigt von ihrem Schoß und landete lautlos auf Samtpfoten auf dem Boden. Verwundert sah Lily ihr hinterher, auf dem Boden lag der Gedichtband, den sie vor dem Einschlafen gelesen hatte. Ordentlich hingelegt, rechtwinklig zur Wand.
Sie stand auf und hob es, einer Eingebung folgend, hoch. Sev. Er war hier gewesen. Unter dem Buch lag eine Notiz.
Ich hoffe, dir geht es gut. Erhole dich und nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst. Ich bin da, wenn du mich brauchst. - S.
Lily blinzelte und schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter. Sie vermisste Sev als ihren Vater. Er war nie besonders gut im Vatersein gewesen, aber im Moment hatte sie einfach das Gefühl, sie würden sich immer weiter voneinander entfernen.
Sie nahm den Zettel und ließ ihn in ihre Tasche gleiten. Metis strich um ihre Beine herum, Lily ging in die Knie, um ihr ein letztes Mal über das Fell zu streichen. Dann machte sie sich über die verborgene Steintreppe auf zu Sev.
Er hatte die Tür zum Lichtkorridor offen gelassen, sie konnte ihn schon von weitem sehen, wie er an seinem Schreibtisch saß und las. Die lange Nase dicht über dem Papier, das längere tiefschwarze Haar, das ihm strähnig ins Gesicht fiel.
Manchmal versetzte es Lily immer noch einen Stich, wenn sie hörte, wie sich ihre Mitschüler darüber lustig machten, dass Sev immer fettig strähniges Haar hatte, dass er kein Shampoo benutzen würde... Wegen dieser Häme und dieser ganzen Sticheleien empfand sie es schon beinahe als mutig, trotzdem weiter so herumzulaufen.
Sev hatte nie auf derartige Äußerlichkeiten wert gelegt, ihr dadurch beigebracht, dass es egal war, wie man aussah, solange man die Zutatenliste für die wichtigsten Zaubertränke aufs Gramm genau herunter beten konnte.
Vorsichtig klopfte Lily gegen die offene Holztür. „Hallo, Sev", sagte sie leise. Er drehte sich um, die undeutbare Miene wich einem angedeuteten Lächeln. Sev erhob sich, sie ging langsam auf ihn zu und bevor er es verhindern konnte, umarmte sie ihn.
Lily presste ihren Kopf gegen seine Brust und atmete den ihr so vertrauten Geruch ein. Mit geschlossenen Augen drückte sie ihn an sich und nach einem erschrockenen Ausatmen spürte sie, wie Sev ihr vorsichtig über die Schultern strich.
„Ich glaube, ich werde verrückt", wisperte Lily in die Falten seines Umhangs hinein. „Ich höre Stimme, Sev." Sie stockte. „Und vor den Sommerferien, da... da hab ich Lupins Erinnerungen gesehen. Und jetzt, da hat sich mein Kopf einfach nur so angefühlt, als würde er platzen. Es wird einfach alles zu viel und ich weiß nicht wo das her kommt und-"
Ihre Stimme zitterte, ihre Schultern bebten so sehr, dass Sev sie festhielt. „Lily", redete er auf sie ein. „Lily, sieh mich an." Eine kühle Hand unter ihrem Kinn. Er hob ihren Kopf. Ihre Augen begegneten seinen. Sevs Augen waren dunkle, beinahe schwarze Punkte, eingerahmt von breiten Augenbrauen, geteilt durch eine Zornsfalte, die so tief eingebrannt war, dass sie nicht mal verschwand, wenn er schlief.
„Lily, sieh mich an. Konzentrier dich."
Lily presste die Lippen zusammen, hielt seinem Blick stand. Stumm liefen Tränen aus ihren Augen. Sie zwang sich, nicht zu blinzeln.
„Siehst du mich?", fragte Sev mit ruhiger Stimme. Lily nickte.
„Und hörst du mich?" Lily nickte wieder. Sevs Stimme klang beruhigend. Verlangsamte ihren Herzschlag und brachte ihren Atem dazu, wieder regelmäßiger zu fließen.
„Und jetzt konzentrier dich darauf, was du fühlst. Drei Dinge." Lilys Lider flatterten, sie schloss die Augen. Drei Dinge, wiederholte sie innerlich. Nur drei Dinge. Sevs kühlen Hände. Eine auf ihrer Schulter, die andere unter ihrem Kinn. Der Boden unter ihren Füßen. Die Wärme ihres Zauberstabes. Drei Dinge. Sevs Hände, der Boden, ihr Zauberstab.
Sie öffnete ihre Augen wieder. „Besser?", fragte Sev. Lily nickte. Seine Hände lösten sich von ihren Schultern.
„Ich habe mit Professor McGonagall, Dumbledore und Madam Pomfrey geredet. Du bist für die folgenden Tage bis zum Beginn des Trimagischen Turniers vom Unterricht freigestellt, sofern du möchtest."
Lily schluckte. „Okay", sagte sie nur.
„Dein Sommer war kräftezehrend. Wir hätten das nicht unterschätzen sollen. Ich hätte das nicht unterschätzen sollen, das tut mir leid."
„Sev-", begann Lily, aber er tat ihren Einspruch mit einer unwirschen Geste ab. „Keine Diskussion. Ich habe Recht, das ist uns beiden bewusst. Tu mir einen Gefallen und versuche, dich die nächsten Tage zu erholen. Danach wird es dir schon besser gehen."
Sie zog die Schultern hoch. „Hoffentlich", murmelte sie und seufzte leise. Sev schenkte ihr so etwas wie einen aufmunternden Blick. „Mit Sicherheit." Kurz bevor Lily den Raum verließ, hielt Sev sie ein letztes Mal zurück: „Falls du das Bedürfnis hast, kannst du mit Dumbledore darüber reden. Über die Erinnerungen. Vielleicht weiß er einen besseren Rat."
Lily nickte nur, dann trat sie hinaus auf den Korridor.
Ihre Füße trugen sie nach draußen. Sie folgte dem Weg zum Waldrand, zu Hagrid Hütte. Unschlüssig blieb sie vor der Hütte stehen, unwissend, ob sie klopfen sollte oder nicht.
Nach einigen Augenblicken entschied sie sich dagegen und folgte dem Trampelpfad hinter der Hütte in den Wald.
Es war lange her, seitdem sie alleine einen Spaziergang gemacht hatte. Sonst war sie immer mit Jasper und Claire unterwegs gewesen. Jasper. Sie fragte sich, ob ihm ihr Fehlen schon aufgefallen war. Was die anderen aus der Verteidigung gegen die dunklen Künste Stunde erzählt hatten. Wie Moody reagiert hatte.
Fröstelnd schlang Lily die Arme um ihren Oberkörper. Sie trug keinen Mantel, der hing noch oben in ihrem Schlafsaal und im Wald sorgten die Schatten, die im Sommer eine angenehme Kühle verbreitet waren, jetzt für einen Gänsehaut, der Lily über den Rücken lief.
Unbewusst verfiel sie zunächst in ein schnelles Gehen, dann in ein Laufen. Schließlich kam sie nach Luft schnappend vor dem Königsbaum zum Stehen. Sie kletterte nicht hinauf - ohne Jasper fühlte sich das falsch an - aber alleine in seiner Nähe zu sein, schenkte ihr neue Kraft. Die Dicke des mächtigen Stammes beruhigte sie, zeigte, wie relativ die Zeit war und wie unwichtig kleine Momente in ihrem Leben. Der Vorfall in Moodys Unterricht war nichts anderes als eine kleine Furche in dem gewaltigen Relief der Rinde des Königsbaums.
Den Rückweg legte Lily ruhiger zurück, vom Laufen war ihr warm geworden und etwas in ihr hatte seine Balance wieder gefunden. Als sie erneut vor Hagrids Hütte angelangt war, klopfte sie.
*
Die freien Tage, die Sev ihr ermöglicht hatte, verbrachte Lily zum einen in ihrem Bett, zum anderen mit Hagrid. Es war Zeit, die Hundewelpen zu ihren neuen Familien zu bringen und da Lily sowieso nichts besseres zu tun hatte, beschloss sie, Hagrid zu helfen.
Jasper hatte für die Verabschiedung von seinen Hundekindern unter größten Ängsten McGonagall könne davon erfahren und ihm seinen Aufenthalt in Frankreich verbieten, Zaubereigeschichte geschwänzt und saß im Gras, während Kakao, Mette, Litschi und all die anderen um ihn herum tollten.
„Kakao wehe du benimmst dich nicht", sagte Jasper ernst, während er Kakao festhielt und ihm ins Ohr wisperte. „Zonko ist zwar ein Riesenscherzkeks, genauso wie du, aber das gilt nicht als Entschuldigung!"
Kakao entwand sich aus Jaspers Umklammerung und sprang über ihn hinweg, sodass er nach hinten umkippte. Mette kam sogleich an und schleckte Jasper einmal quer übers Gesicht.
Er verzog den Mund und rappelte sich auf. „Üäh", machte er und wischte sich den Hundesabber von der Haut. „Ich würde sagen, das war das Zeichen zum Aufbruch."
Gemeinsam brachten Hagrid und Lily als erstes Kakao, Litschi und Clementine ins Dorf. Jasper hatte sich bereit erklärt, mit den anderen bei der Hütte zu bleiben.
Die Abgaben verliefen unspektakulär, der Bruder des Besitzers von Zonkos Zauberscherze schien Kakao augenblicklich ins Herz zu schließen, Litschi hatte bei der Ankunft in ihrer neuen Familie ein aufgeregtes Fiepen von sich gegeben und erst ängstlich, dann immer offener das Haus inspiziert.
Clementine war beinahe etwas eingeschnappt gewesen, da ihr Hagrid bei ihrer Ankunft bei der Muggelfamilie eindeutig die Show stahl. Die Familie mit zwei Kindern besaß ein hübsches kleines Häuschen außerhalb von Hogsmeade und die jüngste der beiden Schwestern hatte Hagrid prompt zu einem Riesen erklärt, woraufhin Hagrid und Lily nervös gelacht und schnell wieder gegangen waren.
Sie kamen zur Hütte zurück, bevor Jasper eine zweite Schulstunde schwänzen musste und holten Kiwi und Mirabelle ab. Mette, die als einzige noch keine neue Bleibe gefunden hatte, blieb mit Claire und Fang zurück.
Nachdem sie Kiwi bei einer netten Squibfamilie abgegeben hatten, schlenderten Hagrid und Lily weiter. Neben einem kleinen Café, in dem kleine kitschbeladene Figürchen standen und die Dekoration einiges zu übertrieben war, befand sich eine schmale Eingangstür, durch die Hagrid nicht mal passen würde, wenn er die Luft einhielt und und den Bauch einzog.
Also begnügten sie sich damit, Mirabelle, die kurzerhand in Belle umbenannt worden war, ihrer neuen Besitzerin anzuvertrauen.
Nachdem sich die Haustür geschlossen hatte und Hagrid und Lily plötzlich wieder alleine dort standen, war es merkwürdig ruhig.
Unruhig verlagerte Lily ihr Körpergewicht von einem Bein aufs andere. Hagrid versenkte seine Hände in den überdimensional großen Taschen seines Mantels. „So", sagte er und zuckte mit den Schultern. „Jetzt sin' sie fort." Lily nickte und meinte zu sehen, wie sich in Hagrids Augenwinkeln Tränen sammelten. „Hab' die alle schon so ins Herz geschlossen. Un'glaublich'"
Lily nickte wieder. „Aber Mette ist ja noch da." Sie gingen langsam wieder in Richtung Schloss. „Und Claire und Fang." Hagrid murmelte etwas in seinen Vollbart hinein.
Sie liefen an den Ladenzeilen vorbei, als Lily in einigen Metern Entfernung das ihr so bekannte schmiedeeiserne Schild mit der Aufschrift Zimmer frei in den Himmel ragen sah.
„Du, Hagrid", sagte sie plötzlich und blieb stehen. „Würde es dir etwas ausmachen, alleine zurück ins Schloss zu gehen? Ich würde gerne noch eine Freundin besuchen gehen." Hagrid blickte etwas verwundert drein, stimmte dann jedoch zu.
„Klar, 'türlich. Wir seh'n uns", sagte er zum Abschied, dann setzte er den Weg alleine fort und für Lily war es an der Zeit, Eugenia einen Besuch abzustatten.
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