17
„Miss Hollow!"
Irgendjemand streckte ihr einen grell leuchtenden Zauberstab entgegen. Sie blinzelte und hielt abwehrend eine Hand vors Gesicht. Sie fühlte sich ausgelaugt, kaum stark genug um den Kopf oben zu halten. Es fühlte sich an wie vor den Ferien, als sie Lupins Irrwicht begegnet war. Bei Merlins Frühstücksei.
Sie stöhnte leise und rieb sich die Augen.
„Fünf Punkte Abzug für Gryffindor." Es war Moody, der sprach. Sie befand sich immer noch im Klassenraum. Was für ein Albtraum. „Eine ausreichende Nachtruhe sollte dabei helfen, den Unterricht mit Ihrer Anwesenheit beglücken zu können. Dieselben Regeln für alle, selbst wenn Sie mit Ihrem überragenden Intellekt dazu imstande waren, Ihre Schulzeit um ein Jahr zu verkürzen."
Lily nahm ihn nur am Rande war, verstand kaum den Sinn hinter seinen Worten. Dean Thomas starrte sie an, sie spürte, wie sich sein Blick in ihren Rücken bohrte. Wie lang dauerte diese verdammte Stunde noch, sie wollte hier raus, sie wollte mit Sev reden, sie wollte sich in seinem Bett zusammenrollen und die Decke über den Kopf ziehen. Sie wollte mit Jasper in der Krone des Königsbaums sitzen und die Welt um sich herum vergessen. Sie wollte schlafen ohne zu wissen, ob sie jemals wieder aufwachen würde.
Die anderen um sie herum begannen ihre Bücher aufzuschlagen, langsam tat sie es ihnen nach. Federn kratzen über Pergament. Sie schraubte das Tintenfass auf, fast hätte sie es sich über den Umhang gekippt.
„Longbottom, Sie bleiben nach der Stunde bei mir", bellte Moody, kurz bevor es zum Stundenende klingelte. Lily seufzte erleichtert. Sie hatte mit halber Kraft drei Sätze abgeschrieben, jetzt freute sie sich darauf, das Mittagessen ausfallen zu lassen und sich in ihrem Bett zu verkriechen.
Der Rest der Schüler verließ den Klassenraum, kurz hinter der Tür begannen sie aufgeregt zu tuscheln. Lily sah, wie Dean Thomas auf den Fußballen wippend im Türrahmen stand und sich augenscheinlich nicht entscheiden konnte, ob er nun auf sie warten sollte oder nicht. Aber Lily fehlte die Energie, um sich mit ihm zu beschäftigen also räumte sie weiter in schleppender Geschwindigkeit ihre Sachen zusammen und als sie erneut aufblickte, war Dean verschwunden.
Neville stand in gebeugter Haltung vor dem Lehrerpult. Er sah aus, als würde er eine Tracht Prügel erwarten, er sah aus wie ein geschundener Hund im Regen.
Sie haben dich sehr geliebt, Schatz.
War das Nevilles Erinnerung gewesen? Und wenn ja, wie kam sie in ihren Kopf, und falls nein, konnte es sein, dass sie verrückt wurde?
„Mr. Longbottom-" Vorne am Lehrerpult begann Moody mit Neville zu sprechen. „Keine Sorge, ich will Ihnen nichts böses." Er lachte und dieses Mal klang seine Stimme dabei weniger angsteinflößend, sondern beinahe freundlich.
„Die unverzeihlichen Flüche sind ein leidvolles Thema, ich hätte behutsamer mit Ihnen umgehen sollen." Neville verlagerte sein Gewicht von einem Bein aufs andere. „Schon in Ordnung, Sir", piepste Neville mit hoher Stimme. Moody musterte ihn streng, widersetze jedoch nichts. Schweigen kehrte ein, Lily versuchte, so zu tun als sei sie unsichtbar.
„Sie haben hervorragende Kenntnisse in Kräuterkunde, hat Professor Sprout erzählt", brachte Moody dann auf einmal so plötzlich hervor, dass Lily vergaß, so zu tun als würde sie ihre Tasche packen.
„Ich mag Kräuterkunde", antwortete Neville überrascht. Moody nickte und als sein magisches Auge in Lilys Richtung zuckte, hielt sie es für angebracht, das Theater zu beenden und aufzustehen.
Immer noch etwas wacklig auf den Beinen, machte sie sich auf den Weg in Richtung Tür. „Wenn Sie wollen, Longbottom, habe ich da ein paar Bücher, die sie vielleicht interessieren. Kommen Sie doch diese Woche in meinem Büro vorbei."
Moodys heftiger Stimmungswechsel bereitete Lily Kopfzerbrechen. Warum war er ihr gegenüber so voreingenommen und unfreundlich? Neville dagegen wirkte wie ausgewechselt. Er begleitete Lily bis zum Gemeinschaftsraum und wirkte ganz benommen von Professor Sprouts Kompliment. Lily bekam das Bonbonpapier in seinen Händen nicht aus dem Kopf.
Sie kannte niemanden, der davon wusste, was Nevilles Eltern passiert war. Wenn ihnen wirklich etwas passiert war und Lilys Kopf keine Hirngespinste produzierte.
Der Schlafsaal war leer, Ginny und die anderen waren, wie es sich gehörte, beim Mittagessen. Erleichtert atmete Lily aus. Sie besaß nicht mal die Kraft, ihren Umhang und die Schuluniform abzulegen, sondern fiel direkt in einem tiefen traumlosen Schlaf.
*
Auch die folgenden Stunden Verteidigung gegen die Dunklen Künste verliefen nicht unbedingt zu Lilys Gunsten. Sie lernte langsam am eignen Leib zu verstehen, wie zermürbend es für alle anderen Gryffindors, allen voran Harry, sein musste, bei Sev im Unterricht zu sitzen.
Sie meldete sich kaum, weil Moody immer etwas fand, was sie vergessen hatte zu erwähnen und nicht aufhörte, sich wegen Kleinigkeiten über sie lustig zu machen. Besonders beliebt war es, sie behutsam zu blamieren oder in halblaut gemurmelten Nebensätzen zu erwähnen, dass sie noch nicht geeignet sei, für den anspruchsvollen Unterricht der vierten Klasse. Gegen Stundenende zählte sie die Sekunden bis zum Klingeln und machte nur noch still ihre Aufgaben.
Der September ging stillschweigend in den Oktober über und Moody kündigte an, sie bis zum feierlichen Beginn des Trimagischen Turniers am 31. Oktober mit dem Imperiusfluch zu belegen, um sie zu lehren, gegen ihn anzukämpfen.
Stunde für Stunde musste einer nach dem anderen vortreten. Moody ließ sie unter seinem Willen auf Tische springen, Kniebeugen machen, bis sie zusammenbrachen oder für die Umstehenden witzige Tänze aufführen.
Mit jedem, der vor Lily aufgerufen wurde, wuchs ihre Angst, was passieren würde, wenn Moody sie unter ihrer Kontrolle hatte. Sie war schon kurz davor gewesen, Sev zu fragen, ob er mit ihr üben würde, gegen den Imperiusfluch anzukämpfen. Aber seit ihrer Auseinandersetzung fühlte Lily sich auch nicht wohl dabei, ihren Geist Sev zu überlassen.
Also stand Lily mit nichts als einer heiden Angst und wackligen Knien da, als Moody sie aufrief und ihr mit erhobenem Zauberstab gegenüberstand.
„Bereit?", knurrte er und weil Lily wusste, dass ihre Stimme in diesem Moment weich und zittrig klingen würde, nickte sie nur.
Moody schlug locker seinen Arm aus und bevor Lily begriffen hatte, was geschah, fühlte sie, wie sie von der Kraft des Fluches beinahe von den Beinen gerissen wurde. Ein sonderbares Gefühl von Wärme und Kälte zugleich durchströmte ihren Körper, die Luft um sie herum vibrierte.
Und dann, plötzlich, hörte Lily Stimmen.
Oder besser gesagt: Eine einzige Stimme, die auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig sprach. Durcheinander, in verworrenen ineinander verschlungenen Halbsätzen, die mittendrin aufhörten und Sekunden später weitergingen.
Dreh dich im Kreis!
Der Befehl ging beinahe unter im Wirrwarr der Stimme. Was war das überhaupt für eine Stimme? Lily kam sie nicht bekannt vor, sie glaubte nicht, sie jemals in ihrem Leben zuvor gehört zu haben. Warum war es nicht Moodys Stimme, die sie hörte?
Dreh dich im Kreis! Ich hab gesagt- Es sollte sich etwas- Es ist anders als- Ich könnte sie dazu zwingen die Wahrheit zu- Was hat sie bloß gemacht in- Snape ist er immer noch derselbe- verlogene Bastarde- niemandhatesgewagtniemandsowieich- jetztistmeinezeit-ichhabesverdientgenausowiealleanderen
DU SOLLST DICH IM KREIS DREHEN!
Lily zuckte zusammen, ihr Gesicht wurde rot, ihr war warm, ihr Puls raste. Vorsichtig hob sie einen Fuß vom Boden. Ihr Fuß war schwerer als sonst, sie brauchte mehr Kraft als sonst. Moody stand immer noch vor ihr. In seinem ledernen Umhang, den festen gewachsten Stoffhosen. Und er hob einen Fuß.
Sie setzte ihren Fuß einige Zentimeter versetzt ab. Er tat es ihr nach. Das zweite linke Bein. Nichts. Rechter Fuß, eine halbe Drehung. Moody folgte ihr, die Stimmen überschlugen sich, ein großes Chaos in ihrem Kopf.
Wie viele Gedankenzüge konnten parallel in einem Schädel Raum finden? Das Gewirr in ihrem Kopf schmerzte, die Stimmen grätschten ineinander, waren scharfkantig und stießen einander ab. Wurden lauter und leiser und greller und ließen schwarze Löcher vor Lilys Augen tanzen.
Sie hob einen Arm und schlug den Kopf in den Nacken, einfach so, ohne Vorwarnung.
Und Moody folgte, er folgte ihren Bewegungen wie ein perfektes Spiegelbild, seine Zauberstabhand glitt in die Höhe, sein Kopf zuckte, dann fiel der Zauber von Lily ab und sie stolperte rückwärts.
Lily schlug mit dem Hinterkopf gegen den Türrahmen, Moody knallte gegen das Lehrerpult. Lavender Brown schrie und Tumult brach aus.
Und wieder überall Stimmen, laute, leise, ein Lachen, erstauntes nach Luft schnappen. Moodys Augäpfel, die in alle Richtungen kullerten. Ein schrilles Surren machte sich in Lilys Kopf breit.
Sie presste sich beide Hände auf die Ohren und lief mit schmerzverzerrtem Gesicht aus dem Klassenraum.
In den Korridoren war es ruhiger, nur ihre Schritte, die auf dem Steinboden widerhallten, ein zögerndes Wispern der Porträts, waren zu hören.
Wahllos suchten sich ihre Füße den Weg durchs Schloss, sie dachte nicht darüber nach, wohin sie sie führten. Sie lief einfach nur und lief und lief, bis sie die blanke gehässige Stimme in ihrem Kopf schwieg.
Erst als sie bereits auf halben Fuß den Raum betreten hatte, registrierte Lily, wohin sie ihr Unterbewusstsein geleitet hatte. Sie befand sich im Lichtkorridor. Ihrem Rückzugsort, ihrer Oase, in dem Durchgangszimmer, das ihr erstes Zuhause gewesen war.
Staub tanzte in der Luft vor dem großen spitzbogigem Fenster, durch das das Licht farbig auf den Boden zu ihren Füßen fiel. Hier angelangt, fühlte Lily, wie sich eine zentnerschwere Last von ihrem Herzen löste.
Sie blickte auf die sanften Hügelketten, die sich an Hogwarts Ländereien anschlossen und mit dem beginnenden Herbst in ein warmes orangerot getaucht wurden. Windböen ließen Blätter davon tanzen, am Horizont machte sich ein Schwarm Zugvögel auf den Weg in den Süden.
Lily schloss die Augen und hörte einige Sekunden lang nur auf ihren Atem. Spürte, wie sich ihr Brustkorb hob und senkte, wie sich ihr Herzschlag verlangsamte und ihr linkes Bein aufhörte, zu zittern.
Sie machte einige Schritte auf die Hängematte zu, die immer noch von einer Wand zur anderen gespannt dort hing. Auf den leeren Regalböden hatte sich eine feine Staubschicht breit gemacht, Lily malte mit dem Zeigefinger eine wellige Linie hinein. Unter der Hängematte lag ein Buch.
Gesammelte Gedichte las sie. Der Umschlag war dunkel, der Einband schlicht. Genauso wie die aller Bücher im Spinner's End. Sev musste es hier gelesen haben. Vorsichtig setzte sie sich und schlug das Buch auf. Alles Gute zum Geburtstag, Sev stand in einer schrägen, aber schmucklosen Schrift auf der ersten Seite. Lily blätterte weiter, zwischen den Seiten lag ein bemaltes Lesezeichen. Es war aus gestärktem Papier, auf der Rückseite stand in derselben zurückhaltenden Schrift ein Name und ein Datum.
Lily - 09.01.1976
Vorsichtig fuhr sie mit den Fingerspitzen über die getrocknete Tinte, dann las sie das Gedicht, neben dem es gelegen hatte.
To the bright east she flies,
Brothers of Paradise
Remit her home
Without a change of wings
Or Love's convenient things
Enticed to come.
Fashioning what she is,
Fathoming what she was,
We deem we dream -
And that dissolves the days
Through which existence strays
Homeless at home.
- Emily Dickinson
Lily las das Gedicht wieder und wieder, bis es ihr aus den Händen rutschte und sie in der Hängematte vor dem großen spitzbogigem Fenster einschlief.
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