Kapitel 8.

An der Hotelbar sitzt nur ein älterer Herr in Anzug, der gebannt auf einen Laptopbildschirm starrt und dabei langsam sein Martiniglas in der Hand dreht. Sein Schlips ist gelockert und das teuer aussehende Jackett sorgfältig über den Barhocker neben ihm gelegt. Die Art, wie die Schatten unter seinen Augen über den Tag hin verdunkelt sind, wie er nun die Lippen aufeinander presst und die Adrettheit seines Äußeren nur noch als Schein wahren kann – ich merke mir diese kleinen Details, denn ohne genau zu wissen, wie die Geschichte aussehen wird, so weiß ich doch, dass dieser Mann, meine Idee von ihm, irgendwann in einer meiner Geschichten auftauchen wird. Hin und wieder passiert mir das, hier und da sammle ich Fragmente auf meinem Weg – Personen, Gesprächsfetzen, Situationen -, die ich dann wenig oder sehr viel später in meinen Worten wiederfinde. Nun, sofern ich nicht gerade von einer Schreibblockade gequält werde. Ich beobachte ihn, bis mir der Barkeeper eine Flasche Bier reicht und mich nach meiner Zimmernummer fragt, um es auf die richtige Rechnung setzen zu können.

Mir fällt zum ersten Mal auf, dass die sanfte Klaviermusik, die in der Hotelbar und in der Lobby gespielt wird, die gleiche ist, die auch im Aufzug gespielt wird. Es ist eine beruhigende Eintönigkeit. Erst als sich die Türen im 12. Stock öffnen wird mir bewusst, dass ich die Melodie leise mitgesummt habe. Sie ist mir in Fleisch und Blut übergegangen, wie ein Werbejingle, den man nicht mehr loswird.

Ich schiebe die Tür ins Freie auf, meine Bewegungen stocken jedoch abrupt und ich bleibe im Türrahmen stehen, denn plötzlich habe ich das Gefühl, meine Anwesenheit würde einen furchtbar intimen Moment zerstören.

Harry sitzt am gleichen Platz wie gestern, nur dass er heute nicht gedankenverloren auf die Themse blickt. Er ist über ein Notizbuch gebeugt, das aufgeschlagen vor ihm auf dem Tisch liegt. Zunächst schreibt er etwas auf, scheint dann kurz nachzudenken und greift schließlich zu der Gitarre, die bisher an sein Bein gelehnt dagestanden hatte.

Was er spielt gleicht nur im Ansatz einer Melodie. Es ist wie ein Herantasten an die richtigen Töne. Ich erkenne was er meint, meine die Melodie hinter den Versuchen zu erahnen, so wie man manchmal instinktiv weiß, was der andere sagen will, ohne dass man die passenden Worte dazu formen könnte.

Ich weiß nicht, ob ich mich bemerkbar machen und ihn damit unterbrechen, oder ob ich einfach unbemerkt den Rückzug antreten und ihn allein lassen soll. Er wirkt so vertieft in das, was er tut, und ich möchte nicht diejenige sein, die ihm diesen Moment zerstört.

Harry nimmt mir die Entscheidung ab, indem er plötzlich aufschaut und so zielsicher meinem Blick begegnet, dass ich es kaum für einen Zufall halten kann. Ich meine, ihn lächeln zu sehen, auf die Entfernung und bei den Lichtverhältnissen lässt sich das aber unmöglich mit Sicherheit sagen. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, denn Harry ist einer von diesen Menschen, die viel und ehrlich lächeln.

„Ich kann mein Bier auch woanders trinken", sage ich und winke mit der Flasche in meiner Hand.
Harry zeigt, ohne zu zögern auf den Stuhl neben sich. „Mi casa es su casa. Ich hätte dich nicht nach hier oben bestellt, wenn ich dich dann gleich wieder wegschicken würde."

Sobald ich sitze, streife ich mir die Schuhe von den Füßen und nehme einen Schluck von meinem Bier. Harry sieht mich von der Seite an.

„Du warst noch ziemlich lange am Set."

Ich zucke die Schultern. „Ich war, glaube ich, eine der letzten dort. Mein Arbeitsmodus ist furchtbar."

Es ist lange her, dass mich jemand auf eine solche Sache aufmerksam gemacht oder sich gar darüber gewundert hätte. Jeder, der mich kennt weiß, dass ich dazu neige, mich mit Arbeit zu überhäufen. Ich bin oft die erste die kommt, die letzte, die geht und eine von denen, die immer noch ein klein wenig Zeit für eine weitere Aufgabe findet.

Harry stellt die Gitarre zur Seite und ich bedaure es fast ein bisschen, ihm nicht weiter zuhören zu können.

„Du musst nicht aufhören", sage ich und deute auf meine Tasche. „Ich hab Arbeit dabei und könnte was schreiben."

Womit wir wieder beim Arbeitsmodus wären. Er schüttelt leicht den Kopf, spart sich aber jeden Kommentar in diese Richtung.

„Möchtest du denn schreiben?"

Ich weiche seinem Blick aus, indem ich meinen über die Themse wandern lasse. Falsche Frage. Oder eher: richtige Frage, schmerzhafte Antwort.

„Ich würde wahnsinnig gern schreiben", gebe ich leise zu. „Aber die Worte in meinem Kopf sind wahnsinnig sperrig und ich krieg sie da nicht richtig raus. Um ehrlich zu sein, habe ich seit der Manuskriptabgabe nichts mehr Zusammenhängendes aufs Papier bringen können."

Ich weiß, dass das idiotisch klingt und dass das wohl zu diesen Dingen gehört, die einiges an Sinn einbüßen, sobald sie meinen Kopf verlassen, aber ich kann es nicht anders umschreiben. Eine ganze Weile schon macht mich eine leere Seite unangenehm nervös, statt mich auf eine positive Art herauszufordern, denn ich weiß, dass ich es nicht schaffe, sie zu füllen.

Zu meiner Überraschung nickt er bloß und deutet auf sein Notizbuch.

„Ich hab seit Ewigkeiten diesen Song im Kopf. Teile davon. Aber ich krieg ihn einfach nicht hin. Als wäre da eine Barrikade, über die man nicht hinwegkommt."

Wir schweigen ein paar Minuten und hängen unseren eigenen Gedanken nach. Ich habe selten, nein eigentlich nie, mit anderen Künstlern zu tun und merke erst jetzt, dass Harry eine andere Art von Verständnis für meine vermeintlichen Probleme hat. Gleichzeitig glaube ich, dass es mir mit seinen ähnlich gehen könnte. Schließlich sage ich, was ich vorher noch niemandem gesagt habe, weil mir allein der Gedanke furchtbar undankbar vorkommt.

„Der Verlag möchte einen zweiten Teil vom Buch und hat mir einen Haufen Geld dafür geboten. Sie glauben, das würde funktionieren. Ich bin mir aber nicht sicher", ich seufze, als mir die ewigen Gespräche mit Jessica und den Verlagsvertretern in den Sinn kommen. „Ich bin kein Fan von Fortsetzungen und dem krampfhaften Auserzählen von Geschichten. Ich habe diese Geschichte genau so erzählt, ich wie sie hatte erzählen wollen und hätte ich sie weitererzählen wollen, dann hätte ich das getan. Eine Fortsetzung fühlt sich gewollt an."

Harry nickt, als wüsste er genau, wovon ich da rede. Er ist entweder verdammt gut darin, Verständnis vorzutäuschen oder aber ich brauche zum ersten Mal keine Energie daran verschwenden, dass meine Gedanken vielleicht schwachsinnig klingen könnten.

„Ich weiß auch gar nicht, wie ich jemals nochmal sowas riesiges schreiben soll. Eigentlich will ich gerade einfach nur eine dumme Fanfiktion schreiben und mich wie mein sechzehnjähriges Ich über jeden einzelnen Kommentar freuen."

Harry lacht trocken und wischt sich eine Haarsträhne aus der Stirn. „Ich weiß nicht, inwiefern du weißt, was ich so mache..."

Kiwi ist mein Dance-it-out-Song, ich wollte das nur nicht raushängen lassen. Also bitte, fahr fort."

„Was ist ein Dance-it-out-Song?"

Die Grübchen um seine Mundwinkel herum sind tiefer geworden.

„Grey's Anatomy. Wenn du meinst, dass alles scheiße ist und über dir zusammenbricht, musst du es raustanzen. Ich hab diese Momente mehrmals täglich, und, naja. Aber wir schweifen gerade ab."

„Du hast Recht. Aber die Vorstellung, wie du in diesem befleckten Schlafanzug tanzt, von dem du bei unserem ersten Pressetermin erzählt hast..."

Ich boxe ihm leicht gegen die Schulter und er hebt beschwichtigend die Hände. „Schon gut, schon gut. Also, werden wir wieder ernst."

Um seine Worte zu untermauern setzt er sich kerzengerade auf und versteinert seine Mimik. Allein die Geste als solches ist so übertrieben, dass ich grinsen muss.

„Dieses erste Album war riesig. Und alles was danach passierte war unglaublich. Immer wenn ich glaube, es geht nicht mehr, geht es doch noch weiter, wird größer. Und ich möchte unbedingt diese Energie nutzen, die daraus resultiert, und etwas schaffen, was daran anknüpft. Gleichzeitig fühle ich mich wahnsinnig leer und müsste eigentlich ganz weit weg davon, um mich all dem wieder annähern zu können. Aber ich will dieses Gefühl, das alles jetzt gerade, nicht verlieren."

„Wir sind Idioten, wenn ich das so sagen darf", sage ich und trinke einen großen Schluck.

Zu meiner Überraschung greift er nach der Flasche in meiner Hand, kaum dass ich sie abgesetzt habe, führt sie zu seinem Mund und nimmt einen mindestens genauso großen Schluck.

„Darauf trink ich."

Jetzt nimmt er doch wieder die Gitarre auf und spielt ein paar unzusammenhängende Akkorde. Ich lege den Kopf in den Nacken, damit ich den Himmel sehen kann, und lasse mich einige Zentimeter tiefer in meinen Stuhl sinken. Nächte haben immer schon diese beruhigende Wirkung auf mich gehabt. Ich konnte stundenlang einfach in den Sternenhimmel sehen, ohne mich zu langweilen. Mir genügt das vollkommen, um mich gut zu fühlen. Und auch wenn ich es abstreiten würde: Harrys Wirkung auf mich fühlt sich ähnlich an. Er beruhigt mich auf eine tiefgreifende, sanfte Art, einfach damit, dass er anwesend ist.

„Was würdest du tun, wenn du jetzt nicht hier, sondern zuhause wärst?"

Ich wiege kurz den Kopf hin und her, aber eigentlich muss ich gar nicht groß über diese Frage nachdenken.

„Ich würde schreiben, wenn ich könnte. Da ich das aber derzeit offenbar nicht kann, würde ich wohl mit meinen Freunden in einer Kneipe sitzen, reden, Bier trinken, Billard spielen und einfach einen entspannten Abend haben."

Seine Finger ruhen auf den Gitarrensaiten, als er mich einen Moment von der Seite mustert, bevor er spricht.

„Wir haben nächste Woche einen freien Abend und am nächsten Tag späten Drehbeginn. Vielleicht sollten wir genau das tun."

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