Kapitel 5.
Ich schwanke ein bisschen und muss mich an der Wand neben dem Knopf für den Aufzug abstützen. Mühsam ziehe ich mir die High Heels von den Füßen und stöhne fast vor Erleichterung auf, als meine nackten Füße den kühlen Steinboden berühren. Unwillkürlich frage ich mich, wie viele Menschen wohl schon barfuß auf diesem auf Hochglanz polierten Boden gestanden haben.
„Gute Nacht, Alex!" ruft mir Evelyn zu und ich erwidere ihr Winken. Sie und einer der anderen Darsteller verlassen gerade als Nachhut einer größeren Menschentraube das Hotel. Ein Teil der Darsteller und der Crew sind nicht hier, sondern in einem Hotel zwei Straßen weiter untergebracht.
Es ist definitiv der Aufregung und meiner Müdigkeit geschuldet, dass ich, nach dem bisschen Wein, das es zum Abendessen gegeben hatte, einen leichten Schwips verspüre. Gerade als ich den Aufzug betrete und den Knopf für mein Stockwerk drücke, höre ich eine mir nur zu bekannte Stimme nach mir rufen. Ohne mich umzusehen strecke ich einen Arm aus, damit sich die Fahrstuhltüren nicht schließen können. Schon einen Augenblick später stehe ich nicht mehr allein im Aufzug.
„Danke!"
Harry ist ein bisschen atemlos, als er sich neben mich stellt. Die Schuhe, die ich an einem Finger baumeln lasse, und meine nackten Füße scheinen ihn zu amüsieren. Es ist eine dieser kleinen Angewohnheiten, die ich von mir auf die Protagonistin in meinem Buch übertragen habe: auch sie gibt sich ihren High Heels regelmäßig geschlagen und zieht sie außerhalb ihrer vier Wände aus. Vielleicht ist es dieses kleine Detail, das er gerade in seinem Kopf verknüpft. Obwohl er, wenn ich es richtig beobachtet habe, heute Abend bei Wasser geblieben ist, sind seine Wangen leicht gerötet.
„Hast du dich wohlgefühlt?"
Ich nicke. „Ja. Evelyn ist unglaublich nett. Die Crew ist unglaublich nett. Ihr seid alle unglaublich nett. Und das war ziemlich viel unglaublich nett in einer einzigen Aussage", ich unterdrücke ein Gähnen. „Und es gab Wein. Mehr brauch ich gar nicht."
Für vier Stockwerke herrscht Schweigen, in das sich die leise Fahrstuhlmusik einfügt, dann öffnen sich die Türen mit einem leisen Geräusch. Harry lässt mir den Vortritt, hält mich dann aber zurück.
„Ich muss in die Richtung", sagt er, und deutet in die entgegengesetzte Richtung meines Zimmers. Bevor ich es mir richtig überlegt habe, stelle ich mich auf die Zehenspitzen und ziehe Harry in eine Umarmung. Er erwidert die Geste, indem er seine Arme fest um mich schließt und mich für einen Moment näher an sich zieht. Ganz so, als hätten wir das hier schon tausend Mal gemacht. Als wären wir zwei Menschen, die ständig solche Gesten austauschen, statt zwei Menschen, die sich seit nicht mal 24 Stunden kennen.
„Vielen Dank fürs Überfallen heute Mittag", nuschle ich an seiner Schulter und er drückt mich noch ein bisschen fester an sich, bevor er mich loslässt und mir ein letztes, aufmunterndes Lächeln schenkt.
„Gute Nacht, Alex."
„Gute Nacht, Harry."
Als die Zimmertür hinter mir ins Schloss fällt und ich das Licht mit meiner Schlüsselkarte anschalte, verharre ich einen Moment mit dem Rücken gegen die Tür gelehnt und atme tief ein und aus, denn jetzt konnte ich mir sicher sein, nicht noch einer überwältigenden Überraschung ins Auge sehen zu müssen. Ich versuche gar nicht erst, etwas von dem zu verarbeiten, was da heute geschehen ist, aber ich lasse mir diesen einen Moment, nach einer gefühlten Ewigkeit unter anderen Leuten, um bewusst durchzuatmen.
Noch im Flur ziehe ich den Jumpsuit aus und gehe ins Bad, um mich abzuschminken. Im Anschluss ziehe ich mir einen bequemen Hoodie und eine Leggins an und greife zum ersten Mal seit meiner Ankunft, zu meinem Handy. Ich lasse mich auf die Couch sinken und öffne die einzelnen Nachrichten. Jessica bittet mich, sie morgen früh anzurufen und meine Freunde wollen alle Details des ersten Tages wissen. Ich antworte Jessica, indem ich ihr ein Emoji schicke, dass den Daumen nach oben zeigt. Die Nachrichten meiner Freunde lasse ich unbeantwortet.
Ich habe schlichtweg keine Worte, die ausdrücken könnten, was am heutigen Tag alles passiert ist. Vielleicht würde ich meine Erlebnisse irgendwann in angemessene Worte kleiden können, vielleicht würde ich sie sogar aufschreiben, doch für den Moment bin ich einfach ein bisschen zu sprachlos und erschöpft.
Mein Blick wandert zu den großen Fenstern und für einen Augenblick nimmt mich der Ausblick völlig für sich ein. Die Themse und ein Teil Londons liegen im Schein von unzähligen Straßenlaternen unter einem nahezu klaren Sternenhimmel. Langsam lasse ich das Handy sinken.
Statt Worte zu formen, die meinen Erlebnissen doch nicht gerecht werden würden, oder meiner Erschöpfung nachzukommen und ins Bett zu gehen, stehe ich auf, nehme mir eine Flasche Wasser vom Tisch und schlüpfe in bequeme Schuhe. Harry hatte eine Dachterrasse erwähnt und genau die ist es, wo ich jetzt hinmöchte.
Zur Sicherheit nehme ich mein Notizbuch und einen Stift mit, bin mir aber einigermaßen sicher, nichts zu Papier zu bringen.
Der Aufzug bringt mich bis in den zwölften Stock, von wo aus ich durch eine schwere Tür ins Freie trete. Direkt links von mir ist eine kleine Bar, die jedoch zu dieser Zeit offensichtlich geschlossen hat. Langsam bahne ich mir meinen Weg durch die Tische und Sitzgelegenheiten bis zum Rand der Terrasse und lasse die Aussicht auf mich wirken.
Der Wind bringt meine Haare durcheinander, während mein Blick den wenigen Autos folgt, die sich unter mir ihren Weg durch diese Metropole bahnen. Das Licht der Laternen bricht sich im Wasser der Themse und ich wette, dass man dort unten das Wasser leise von links nach rechts schwappen hören kann. Ich lehne mich so weit wie möglich über die Brüstung, um vielleicht noch ein bisschen mehr zu sehen.
Ich bin mir sicher, dass dies ein einzigartiger Anblick von London ist, und wenn ich ehrlich bin, ist mir all der Marmor, jedes teure Einrichtungsstück dieses Hotels vollkommen egal. Dieser Ausblick hier, das ist der wahre Luxus, denn er ist perfekt.
Als sich jemand leise im Halbdunkeln räuspert, fahre ich nicht erschrocken zusammen. Es überrascht mich nicht, dass Harry sich mir nähert, ebenfalls versunken in einem zu großen Hoodie und mit einem Ausdruck im Gesicht, als wolle er sagen hab ich's mir doch gedacht.
„Schlaflos?", fragt er, als er bei mir ankommt und seine Arme neben mir an die Brüstung stemmt. Sein Gesicht wirkt weich und entspannt. Er tut es mir gleich und lehnt sich ein bisschen vor.
„Immer. Und du?" antworte ich.
Er zieht zwei Stühle heran, platziert sie so, dass sie im besten Winkel zur Aussicht stehen und nimmt auf einem der beiden Platz. Mit einer Hand klopft er auf den freien Stuhl und bietet mir somit den Platz an.
„Ich komm abends gern nochmal hier hoch. Ist schön ruhig und man ist mal so komplett abgeschottet von dem ganzen Trubel."
Eine ganze Weile sagen wir gar nichts und genießen den Ausblick, der sich vor und unter uns erstreckt, saugen die Ruhe auf und speichern sie für den kommenden Tag irgendwo tief in uns. Letztlich ist es Harry, der das Schweigen bricht.
„Hast du das ernst gemeint? Dass ich perfekt für die Rolle wäre?"
Ich betrachte ihn vielleicht eine Sekunde zu lang, bevor ich antworte. Ich weiß, was er meint. In meinem Buch ist der männliche Protagonist älter als die weibliche Protagonistin und er ist vor allem sehr viel älter als Harry. Anfangs war ich gegen diese Änderung, hatte endlose Diskussionen darüber geführt, inwieweit eine Abweichung vom Plot sinnvoll wäre und warum man dieses Detail überhaupt hatte ändern wollen.
„Soll ich ganz ehrlich sein?"
Er nickt.
„Als man mir erzählte, dass sie dir die Hauptrolle gegeben haben, war ich skeptisch. Ich hatte Noah anders im Kopf. Dann hab ich dich erlebt, deine Art zu reden, deine Mimik, die Art und Weise, wie du jemanden ansiehst. Und ja, ich glaube, du wirst diese Rolle perfekt ausfüllen. Es wird ein anderer Noah sein als der in meinem Kopf. Aber ein guter."
Er nickt wieder. Statt mich anzusehen blickt er zur Themse.
„Ich, naja, war ein bisschen besorgt, ob das alles so passt und so. Nicht, dass du denkst, ich hab die Rolle nur, weil ich in anderen Bereichen Erfolg habe, oder so."
Ich folge seinem Blick. Das Licht, das Wasser, die Nacht, all das zusammen hat einen wahnsinnig beruhigenden Effekt.
Er befürchtet, die Rolle bekommen zu haben, weil er ein erfolgreicher Musiker ist; ich wiederrum befürchte, nur hier zu sein, weil ich einen wahnsinnig guten Rechtsvertreter hatte, der damals meinen Vertrag mit dem Verlag ausgehandelt hat. Im Gegensatz zu vielen meiner Kollegen besitze ich nämlich ein vertraglich zugesprochenes Mitspracherecht in allen Belangen, die das Buch betreffen und das weit über die üblichen Rechte hinausgeht. Und zu diesen Belangen gehört eben auch dieser Film.
„Ich kann Katherine immer noch sagen, dass sie dich feuern soll, wenn du es verkackst", sage ich trocken.
Harry prustet leise und schüttelt den Kopf, als würde er mir diese offensichtliche Lüge nicht abkaufen.
Als ich schließlich hinter vorgehaltener Hand gähnen muss weiß ich, dass ich jetzt endlich ins Bett muss. Harry schaut auf, als ich aufstehe, und lächelt.
„Ein zweites Mal gute Nacht?"
„Ich schlaf sonst hier draußen ein."
Ich glaube zwar nicht, dass ich etwas gegen diese Aussicht am frühen Morgen hätte, ich bin mir jedoch sicher, dass das Hotelpersonal wenig begeistert davon wäre. Und die Herbstkälte, die mir früher oder später in die Knochen wandern würde, wäre auch ein Argument gegen eine Übernachtung hier draußen.
Dieses Mal ist es Harry, der mich umarmt.
„Ruh dich aus, ja? Ich wette, morgen wird es anstrengend."
Kurz vor der Tür, die mich zurück ins Innere des Hotels führt, bleibe ich nochmal stehen und drehe mich um. Harry hat seinen Blick erneut der Aussicht zugewandt.
„Harry?", als er sich zu mir umdreht lächle ich ein letztes Mal. „Ich hab es heute schonmal gesagt, aber nochmal: danke."
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