Kapitel 4.
Ich trage nicht die richtigen Schuhe. Spätestens, als der Mann, der uns in Empfang genommen hat, etwas von einer Führung sagt, verfluche ich leise die Absätze, auf denen ich stehe.
Harry grüßt immer mal wieder jemanden, tauscht einige Worte mit anderen aus, weicht allerdings nicht von meiner Seite, während wir zusammen mit einem Dutzend anderer Menschen durch verschiedene Kulissen geführt werden. Der Mann, der uns vorausgeht, wirft mit Fakten um sich, deutet in verschiedene Himmelsrichtungen, auf Türen, Räume und manchmal einfach richtungslos in den Himmel – doch ich kann mir nichts von dem merken, was er uns erzählt. Es ist das erste Filmstudio, das ich von innen sehe, und ich bin, gelinde gesagt, vollkommen erschlagen von den Ausmaßen. Fünf Minuten nachdem wir losgegangen sind, hätte man mich hier aussetzen können – ich hätte wohl nicht mehr zum Ausgang gefunden.
„Das ist schon ein bisschen einschüchternd, oder?", flüstert mir Harry zu.
Ich nicke. „Ein bisschen ist gut. Ist nicht dein erstes Filmstudio, oder?"
„Nein, aber ich bin auch meilenweit davon entfernt, dass das für mich Routine sein könnte."
Als unsere Führung schließlich vor einem großen Besprechungsraum endet, schwirrt mir der Kopf. Allein um die Eindrücke der letzten zwanzig Minuten verarbeiten zu können, bräuchte ich mindestens eine Woche. In dem Besprechungsraum sitzen nochmal mindestens ein Dutzend Menschen und ich erkenne auf Anhieb nur ein Gesicht: Katherine, die Produzentin, mit der ich einige Male telefoniert hatte, bevor ich nach London gekommen war.
Als sie Harry und mich erblickt, winkt sie uns zu sich.
„Alexandra, es ist großartig, dass es geklappt hat!"
Sie begrüßt mich mit einem Küsschen links und rechts und deutet auf den Platz links neben sich. „Du sitzt direkt bei mir. Gleich neben Harry."
Bei der Erwähnung seines Namens wendet sie sich ihm zu, und begrüßt ihn auf die gleiche Weise.
„Wollt ihr was trinken?"
„Kaffee, bitte", kommt es unisono aus unseren Mündern.
Katherine wendet sich einem jungen Mann in Kellneruniform zu, um unseren Getränkewunsch weiterzuleiten. Ich habe mich gerade hingesetzt, als sich Harry zu mir beugt, um nicht gegen das allgemeine Gemurmel anreden zu müssen. Er deutet auf eine der kleinen Wasserflaschen, die überall auf den Tischen verteilt stehen.
„Möchtest du Wasser?"
Sein Atem streift meinen Hals und ganz automatisch bildet sich eine Gänsehaut, die meinen gesamten Nacken herunterwandert. Ich nicke und danke ihm, als er zunächst mein und dann sein Glas befüllt.
Die Tische sind zu einem U aufgestellt und so langsam, aber sicher, füllen sich die einzelnen Plätze. Einige der Gesichter kommen mir vage bekannt vor, bei anderen bin ich mir wiederrum sicher, sie noch nie in meinem Leben gesehen zu haben. Jeder scheint irgendwen zu kennen, alle plaudern munter miteinander und ich möchte mir gar nicht ausmalen, wie deplatziert ich mir ohne Harry vorgekommen wäre.
Mein Blick bleibt an der jungen Frau hängen, die neben Harry Platz genommen hat. Sie erwidert mein Lächeln sofort und streckt mir ihre Hand entgegen.
„Evelyn French. Deine Protagonistin."
Bevor ich etwas erwidern kann, funkt mir Katherine dazwischen.
„Na kommt, kennenlernen könnt ihr euch später noch, wollen wir erstmal den offiziellen Teil rumkriegen!", sagt sie und räuspert sich dann laut.
Augenblicklich wird es still im Raum. Evelyn zuckt die Schultern und formt „ich liebe dein Buch" mit den Lippen. Ich forme ein lautloses „Danke" und wende mich dann Katherine zu. In der Zwischenzeit hat jemand jeweils eine Tasse Kaffee zusammen mit einem Milchkännchen und mehreren Beuteln Zucker vor Harry und mir abgestellt.
„Also", beginnt Katherine und lässt ihren Blick durch die Runde schweifen. „Ich darf alle Anwesenden ganz herzlich zur Produktion von »3 am« begrüßen!"
Alle, ich selbst eingeschlossen, applaudieren leise. Kreuz und quer werden Blicke gewechselt. Die Kellner huschen hier und da zwischen den einzelnen Plätzen hin und her, um die letzten Getränke zu bringen.
„Und ganz besonders begrüßen möchte ich die Frau, ohne deren Buch wir heute nicht hier sitzen würden: Alexandra Connor."
Wieder Applaus. Anders als eben setzt Katherine beim Versiegen der Geräusche aber nicht an, um weiterzureden, sondern sieht mich erwartungsvoll an.
„Ein paar Worte? Eine Begrüßungsrede?" murmelt sie mir zu und übergeht meine hochgezogenen Augenbrauen komplett.
„Hi, also, erst einmal vielen Dank für den warmen Empfang", beginne ich, lächle nervös und streiche mir durch die Haare – eine Angewohnheit, die immer dann zum Vorschein kommt, wenn mich mehr als drei Menschen gleichzeitig anstarren, während ich versuche, halbwegs funktionale Sätze aufzusagen.
„Als ich dieses Buch geschrieben habe, hatte ich meistens einen Schlafanzug an, auf dem man Flecken meiner letzten drei Mahlzeiten finden konnte", ich stoppe kurz, denn einige lachen amüsiert.
„Es fühlt sich ein bisschen so an, als wäre das erst ein paar Stunden her und, ehrlich gesagt, ist es für mich unbegreiflich, dass ich jetzt hier bin und an diesem Projekt mitwirken darf. Ich freue mich wahnsinnig, Sie alle kennenzulernen und mit Ihnen zu arbeiten. Und ich hoffe, ich werde nicht zu oft im Weg rumstehen."
Wieder Lacher. Wie Katherine zuvor schenken sie auch mir einen kleinen, höflichen Applaus. Ich nicke noch einmal in die Runde, dann wende ich mich Katherine zu und hoffe inständig, dass diese paar Worte ihrer Definition einer kleinen Rede gerecht wurden.
Als Katherine wieder das Wort ergreift, beugt sich Harry erneut zu mir.
„Ich würde sagen, du hast deine Feuertaufe gemeistert", um seine Worte zu untermauern lässt er seine Tasse sacht gegen meine klirren, als würde er mit mir anstoßen wollen. Ich folge seinem Beispiel, hebe meine Tasse an und proste ihm vorsichtig zu, bevor ich Katherine weiter zuhöre.
Diese erste Besprechung dient tatsächlich nur dazu, das Team untereinander bekannt zu machen und den Rahmen festzulegen. Viele der Informationen, die Katherine mit allen teilt, hatte sie Jessica bereits zukommen lassen, so dass ich bei der ein oder anderen Stelle wissend nicken kann. Wir bekommen Pläne, die die Abläufe der nächsten Tage beinhalten und uns ganz genau sagen, wann wir wo zu sein haben. Die Teammitglieder werden einzeln und nach Funktion vorgestellt, der grobe Verlauf der nächsten Wochen wird abgesprochen.
Als niemand mehr eine Frage hat und scheinbar alle Punkte auf Katherines imaginärer Liste besprochen sind, legt sie ihre Unterlagen bei Seite und blickt in die Runde.
„Wenn soweit alles klar ist, lasse ich jetzt die Presse rein. Sie haben zehn Minuten für Fragen, dann machen wir Fotos. Sie werden die Einladung alle erhalten haben, aber für heute Abend habe ich uns Tische reserviert, damit wir auf unseren Einstand anstoßen können. Ich hoffe also, dass Sie sowohl Hunger als auch Durst mitgebracht haben."
Widererwartend komme ich ohne große Blessuren durch die kurzen Interviews. Pressetermine waren nie meine Stärke.
„Du bist zu zynisch", hatte mir Jessica nach einem meiner ersten Interviews erklärt. Das würden die Leute nicht verstehen, oder sie würden es nicht verstehen wollen, um mir die Worte im Mund herumdrehen zu können. Bisher hatte ich es nicht geschafft, mir eine Routine für Pressetermine anzueignen, daher übe ich mich auch heute in Zurückhaltung und lasse den anderen beim Beantworten der Fragen den Vortritt. Nur dann, wenn man mich direkt anspricht, versuche ich einige der Phrasen zu reproduzieren, die Jessica mir vor meiner Abreise in den Mund gelegt hat.
Im Anschluss an die Interviews lassen wir in jeder denkbaren Konstellation Fotos machen: ich allein, Katherine und ich, Evelyn und ich, Harry und ich, wir drei gemeinsam. Die gesamte Crew, nur ausgewählte Crewmitglieder. Ich gehe von links nach rechts, um mich genau dort zu positionieren, wo die Fotografen mich haben wollen, lächle, als wäre ich der entspannteste Mensch im Raum und schimpfe dabei innerlich erneut über mein Schuhwerk.
Als die Presseleute endlich zusammenräumen habe ich das Gefühl, als würde sich ein Muskelkater in meinem Kiefer und meiner Stirn bilden. Ich sehe mich nach Harry um, der ist jedoch am anderen Ende des Raumes in ein Gespräch mit Evelyn vertieft. Bevor ich diesen Umstand bedauern kann, schiebt sich Katherine in mein Sichtfenster.
„Entschuldige, ich hatte mich eigentlich nach deiner Landung bei dir melden wollen, aber du weißt ja, wie das manchmal ist. Es hat aber soweit alles geklappt, ja? Der Fahrer, das Hotel, alles zu deiner Zufriedenheit?"
Ich nicke. „Ja, total. Vielen Dank, dass ihr euch alle so eine Mühe gebt. Mir hätte ein Zimmer in einem Hostel gereicht, alles darüber hinaus fühlt sich so luxuriös an."
Katherine schüttelt den Kopf, als würde sie meine Einwände nicht hören wollen.
„Na hör mal, das ist doch das Mindeste. Du sollst dich während deiner Zeit hier wohlfühlen. Ich weiß nicht, ob deine Agentin dir die Einladung weitergeleitet hat, aber wir essen heute Abend in dem Hotel, in dem unter anderem Harry und du untergebracht sind. Wie wäre es, wenn wir erst morgen darüber reden, was deine Aufgaben sein werden, was ich, oder vielmehr wir, erwarten, und wie ich mir die Zusammenarbeit im Detail vorstelle?"
„Das klingt nach dem besten Vorschlag des heutigen Tages!", erwidere ich und meine es tatsächlich so.
Die Erleichterung darüber, heute nicht noch mehr Professionalität und Perfomance abliefern zu müssen, steht mir vermutlich ins Gesicht geschrieben. Und mit der Gewissheit, dass ich für den Rest des Abends einfach nur ich selbst würde sein muss, fällt zum ersten Mal die Nervosität endgültig von mir ab.
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