Kapitel 30.
All diese Dinge, die man im Nachhinein besser weiß. Die einem vielleicht für immer bitter aufstoßen werden. Ich hatte mich nie entschieden. Für irgendwas. Weil mir der Mut fehlte oder aus anderen fadenscheinigen Gründen. Ich hatte einfach gewartet, bis sich alles irgendwann irgendwie ergeben hatte und mich dann wiederum den Umständen ergeben. Hatte das Einfache gewählt, das Bekannte. Wie falsch das war, gehört zu all den Dingen, die man im Nachhinein besser weiß. Was von Harry und mir bleibt, als ich die Tür hinter ihm ins Schloss fallen höre, ist Leere und die Gewissheit, einen riesigen Fehler gemacht zu haben.
Ich verlasse mein Hotelzimmer bloß noch, wenn es absolut nötig ist. Jessica bescheinigt mir am nächsten Tag, dass ich absolut scheiße aussehe, alle anderen, mit denen ich im Laufe der folgenden fünf Tage zu tun habe, sind höflich genug, mir mein Äußeres nicht unter die Nase zu reiben. Wenn ich keine Termine am Set habe oder mit Jessica neue und nächste Schritte durchgehe, packe ich wahlweise mein Leben zurück in meinen Koffer oder liege einfach nur im Bett, starre die Vorhänge an und warte darauf, dass die Tage vergehen.
Harry und ich begegnen uns. Immer wieder. Am Set und im Hotel, und jedes Mal fühlt es sich so an, als hätte jemand einen Hochleistungsstrahler auf mich gerichtet und mir dann befohlen, dass ich die Helligkeit um jeden Preis ignorieren müsste. Ich glaube, seine Anwesenheit selbst durch die Wände des Hotels zu spüren. Und vor allem spüre ich, dass ich ihn verletzt habe. Auch wenn er professionell genug ist, diesen Umstand für alle Anwesenden zu überspielen – seine Stimme ist stets belegt und rau, die Schatten unter seinen Augen sind tief und die winzigen Blicke, die er mir zuwirft, wenn niemand hinsieht, erwischen mich wie unerwartete Ohrfeigen.
Für meinen letzten Abend – der gleichzeitig der letzte Abend von vielen anderen ist – lädt Katherine erneut zu einem Dinner. Als ich Jessica am Nachmittag des gleichen Tages schreibe, dass ich mir wohl den Magen verdorben habe und am Abend lieber im Bett bleiben sollte, dauert es keine zwei Minuten, bis mich ihr wütendes Klopfen aus dem Delirium reißt. Ich habe die Hotelzimmertür gerade mal einen Spalt geöffnet, als sie schon ins Zimmer stürmt. Ihrem Blick nach zu urteilen, stehe ich kurz vor einer tatsächlichen Ohrfeige.
Sie mustert das Zimmer und den Teil vom Schlafzimmer, den sie von hieraus sehen kann, den Koffer, in dem nur noch wenige Teile fehlen und schließlich mich, mit meinen ungewaschenen Haaren und der ungesund fahlen Gesichtsfarbe.
„Ich habe keinen Schimmer, was zwischen dem Popsternchen und dir vorgefallen ist, und ich werde es dir nicht aus der Nase ziehen", beginnt sie. „Aber du wirst diese Sache hier anständig zu Ende bringen. Das bist du dir schuldig."
Die Überzeugung in ihrer Stimme erstickt meinen mühsam zurechtgelegten Protest im Keim. Einen Moment lang stehen wir uns gegenüber, taxieren uns, warten ab, ob diese Ansage einseitig bleibt, und als ich nicht protestiere, wendet sich Jess von mir ab und geht ins Bad. Einige Sekunden später höre ich das Rauschen von Wasser. Dann kommt sie zurück.
„Du stellst dich jetzt unter die Dusche und ziehst das volle Programm durch. In der Zeit leg ich dir ein Outfit zurecht und lasse uns zwei Drinks bringen."
Wir reden nicht über Harry und mich. Überhaupt rede ich nur sehr wenig, dafür redet Jess sehr viel, vor allem über Dinge, die mich ein bisschen von dem Ablenken, was heute noch auf mich zukommen wird. Nach dem ersten Drink bestellen wir einen zweiten und als sie mir schließlich sagt, dass Harry und ich heute nebeneinandersitzen werden, exe ich den dritten Drink in dem Moment, in dem sie ihn mir reicht.
„Aber wieso?", keuche ich und verziehe des Gesicht.
„Ihr könntet euch gleich in großen roten Lettern TRENNUNG auf die Stirn tätowieren. Ich will nicht, dass man sich über dich das Maul zerreißt. Das geht die alle nämlich nichts an."
Ich nicke. Der Alkohol hat meine Abwehrhaltung erschöpft. Alles an mir fühlt sich müde an und ich würde alles dafür geben, einfach zurück ins Bett kriechen zu können, statt in die von Jess bereitgestellten High Heels zu schlüpfen und ein letztes Mal mein Outfit im Spiegel kontrollieren zu müssen.
Das Fahrstuhllicht wirft harte Schatten auf mein Gesicht, trotzdem kann man mir anrechnen, dass ich im Vergleich zu den letzten Tagen wenigstens wieder annähernd wie ich selbst aussehe. Bevor sich die Fahrstuhltüren im Foyer öffnen, drückt Jess noch einmal meine Hand, dann lässt sich mich los und ich muss ohne ihre physische Stütze auskommen.
Meine Knie zittern, als ich ihr in einen der Nebenräume des Restaurants folge, in dem wir an diesem Abend in kleiner Runde essen würden. Mehr als einmal verliere ich auf meinen High Heels fast den Halt und ich bin heilfroh, als ich mich schließlich bemüht lässig an die kleine Bar lehnen und mir einen weiteren Drink bestellen kann. Ich weiß, dass ich es langsam angehen sollte, doch ich ersticke jede Stimme der Vernunft. Ich kann Harry nirgendwo entdecken, dafür werde ich von Evelyn entdeckt und sogleich in Beschlag genommen. Mir fällt auf, dass wir uns zum letzten Mal beim Feiern gesehen und danach stets am Set verpasst haben.
Sie erzählt mir gerade von dem Kurztrip nach Paris, den sie für sich und ihren Freund gebucht hat, als Harry den Raum betritt. Er sieht mich nur kurz an, zögert vielleicht einen Moment in seiner Bewegung, dann steuert er zielstrebig auf das andere Ende der Bar zu. Ich sage es Evelyn nicht, aber ich könnte ihr kaum dankbarer dafür sein, dass sie unsere Distanz zueinander einfach unkommentiert im Raum stehen lässt und mit ihrer Anwesenheit dafür sorgt, dass ich nicht allein und wie auf dem Präsentierteller hier herumstehe.
Jessica hatte mir zuvor gesagt, dass man ein paar Worte von mir erwarten würde. Da ich plane, spätestens beim Hauptgang betrunken zu sein, bitte ich beim Servieren der Vorspeise um einen kurzen Moment der Aufmerksamkeit.
Ich versuche zu ignorieren, dass Harry so nah neben mir sitzt, dass ich glaube, seinen Atem hören zu können, während ich von Dankbarkeit für dieses Erlebnis rede. Ich kann die Tränen, die seit ein paar Tagen praktisch ständig in meinen Augen stehen, auf eine allgemeine Ergriffenheit schieben und muss mich nicht rechtfertigen, als ich schließlich ende und mir mit der Servierte über die Augenwinkel wische. Evelyn legt mir für einen Moment einen Arm um die Schultern, dann konzentrieren sich alle auf das Essen. Ich konzentriere mich auf meinen Drink.
Irgendwo zwischen dem Hauptgang und der Dessertauswahl habe ich das Zeitgefühl verloren. Ich weiß nur, dass ich spätestens, als sie uns diverse Süßspeisen servieren, etwa zwei Gin Tonics zu viel habe und dass selbst diese zwei Drinks zu viel nicht dafür sorgen, dass auch nur ein einziges Gefühl in mir betäubt wird. Genauso gut hätte ich Wasser in mich schütten können, der Effekt wäre der gleiche gewesen. Ich ertrage es kaum, neben Harry zu atmen.
Die Umarmungen, die ich schließlich mit allen austausche, sind eine Spur zu herzlich, dauern einen Moment zu lang und irgendwann habe ich den Überblick über die Menschen im Raum verloren. Als ich im Fahrstuhl stehe weiß ich zwar nicht, wie viel Uhr wir haben, doch ich weiß, dass diese Nacht zu schnell vergehen wird. In ein paar Stunden werde ich in einem Flieger sitzen. Ich versuche, nicht an Harry zu denken. An die Art, wie er neben mir gesessen hat. Wie sich unsere Hände mehrfach fast berührt hätten. Dass ich viel zu oft nach ihm hatte greifen wollen.
Ich versuche nicht an Harry zu denken, als ich meine Schlüsselkarte nicht auf Anhieb finde und ich versuche, nicht an Harry zu denken, als ich die Tür schließlich hinter mir ins Schloss fallen lasse. Ich versuche, nicht an Harry zu denken, als ich auf mein Handy schaue, und dann höre ich auf zu versuchen, nicht an Harry zu denken. Denn auf meinem Sperrbildschirm wartet seit drei Minuten eine Nachricht von ihm darauf, von mir gelesen zu werden.
„Du hast dich nicht von mir verabschiedet."
Innerhalb einer Sekunde fühle ich mich stocknüchtern. Mein Herz schlägt irgendwo außerhalb meiner Brust, während ich mein Zimmer sofort wieder verlasse und mit viel zu ausladenden, viel zu überzeugten Schritten zu Harrys Hotelzimmer eile. Ich klopfe, bevor ich es mir anders überlegen kann. Er öffnet mir, in der Hand ein Glas Whiskey und den Hauch von Überraschung im Gesicht.
„Alex."
„Du hast Recht. Ich hab mich noch nicht von dir verabschiedet."
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