Kapitel 25.
Ich versuche ein zweites Mal gegen den Bass anzureden, doch die Fragezeichen in Evelyns Gesicht bleiben die gleichen. Sie kommt mir auf der Tanzfläche noch ein bisschen weiter entgegen, beugt ihr Ohr in meine Richtung, doch alles, was ich sage, verliert sich zwischen uns, so wie wir Jessica vor einer Weile verloren haben. Schließlich deute ich auf mich und dann in die ungefähre Richtung, in der sich die Toiletten befinden. Ihr Gesicht hellt sich auf und sie nickt, bevor ich sie sich wieder dem Gewühl der Tanzfläche hingibt und mit einem breiten Lächeln im Gesicht weitertanzt.
Auf dem Weg zur Toilette schiebe ich mich an unzähligen Körpern vorbei, entschuldige mich wann immer möglich und weiß eigentlich, dass mich sowieso niemand hört. Kurz vor meinem Ziel greift eine junge Frau nach meinem Arm und realisiert erst auf den zweiten oder dritten Blick, dass ich ganz offensichtlich nicht die Person bin, die sie am anderen Ende des Armes erwartet hat. Ihrem Gesicht nach zu urteilen, ruft sie mir eine Entschuldigung entgegen, doch ihre Worte kommen genauso wenig an wie meine. Ich lächle, sie zuckt die Schultern, dann driften wir auseinander. Erst als die Tür zu den Toilettenräumen schwer hinter mir ins Schloss fällt, wird die Musik so dumpf, dass ich wieder Stimmen hören kann und erst hier wird mir klar, wie laut die Musik tatsächlich ist.
Die Damentoilette ist groß genug, dass es zu keinen endloslangen Schlangen kommt. Kaum habe ich mich in einer der Kabinen eingeschlossen wird mir bewusst, wie viele Gin Tonics ich da heute Abend eigentlich schon getrunken habe und was sie mit meinem Kopf anstellen. Das ist immer so. Alles ist laut und lustig und entspannt - bis man allein auf die Toilette geht, im Bus sitzt oder einen Türsteher davon überzeugen muss, dass man echt noch nüchtern genug für den Club ist.
Ich widerstehe dem Drang, meinen Kopf gegen die Kabinenwand zu lehnen, die Augen zu schließen und mich dem Drehen in meinem Kopf hinzugeben. Stattdessen ziehe ich umständlich mein Handy aus meiner Hosentasche. Harry hat geschrieben, vor einer Stunde bereits. Ein Foto mit dem Ausblick von der Dachterrasse, in einer Hand hält er mein Buch. Er hat das Foto mit „ziemlich guter Stoff" kommentiert und ein zwinkerndes Emoji angefügt. Ich muss unwillkürlich grinsen.
„Der alte Schinken?"
Seine Antwort kommt sofort.
„Hatte gar nicht mehr in Erinnerung, wie gut Kapitel 20 ist."
Mein Gehirn rattert und bevor die Antwort auf meine ungestellte Frage mein Bewusstsein erreicht, steigt mir bereits die Hitze in die Wangen. Kapitel zwanzig ist die einzige explizite Sexszene im gesamten Buch. Es hatte mich einiges an Überzeugungsarbeit gekostet, damit ich sie nicht hatte rauskürzen oder umschreiben müssen, denn der Verlag war davon überzeugt gewesen, dass mich diese eine Szene im Buchhandel auf Tische katapultieren würde, die selten gut geschriebenen Schmuddelromanen vorbehalten sind. Wir hatten besagte Tische trotz Verlagseinschätzung umschifft und niemand hatte sich je über dieses eine Kapitel pikiert.
Ich tippe etwa zehn Satzanfänge, die ich nach wenigen Worten schon wieder lösche. Mein Kopf bekommt es nicht verarbeitet, was genau Harry da gerade geschrieben hat und der Gin Tonic, der mein Denken zusätzlich hemmt, ist ein furchtbarer Berater. Noch während ich mich damit abmühe, eine halbwegs schlagfertige Antwort zu finden, kommt bereits die nächste Nachricht an.
„Jetzt sag mir nicht, dass ich dich verlegen gemacht habe!"
Nur mit Mühe und Not kann ich einen seltsamen Ton zwischen Lachen und Quietschen im Inneren meiner Kehle ersticken. Ich lasse das Handy sinken, schließe die Augen und atme drei Mal tief durch. Der Wirbel in meinem Kopf legt sich kein bisschen, das flaue Gefühl in meiner Magengegend, das definitiv nicht vom Alkohol herrührt, bleibt.
„Ich bin viel zu betrunken, um schlagfertig zu sein! Viel Spaß mit deiner Lektüre, wir sehen uns morgen. Xo!"
Ohne eine Antwort abzuwarten, stecke ich mein Handy wieder zurück und verlasse die Kabine. Ich versuche, mich nicht allzu genau im Spiegel zu betrachten, denn auch wenn das Licht hier schmeichelhaft ist, weiß ich doch, dass ich verschwitzt bin, dass meine Haare das letzte Mal vor ein paar Stunden wirklich gut aussahen und dass mir die Mascara vermutlich mehr unter den Augen statt auf den Wimpern klebt. Vor allem aber möchte ich die verräterische Röte in meinem Gesicht nicht sehen. Als ich die Toilette verlasse und mich in Richtung Bar bewege schwöre ich mir, für den Rest der Nacht bei Wasser zu bleiben.
Im Taxi hält mich schließlich nichts mehr davon ab, meinen Kopf anzulehnen. Jess neben mir döst ebenfalls und hat ihr Handy bloß als Alibi in der Hand. Ich hatte sie schließlich an der Bar gefunden, oder viel mehr sie mich, und nach einer viel zu überschwänglichen Wiedersehensumarmung hatte sie mich ohne Umschweife wieder auf die Tanzfläche gezogen.
Das Wasser und das Tanzen haben mich soweit klar gemacht, dass mein Gehirn gemächlich den Betrieb wieder aufnimmt. Ich bin müde und gleichzeitig tiefgreifend zufrieden: das war der erste Abend seit Langem, an dem ich ausgelassen feiern war. Ohne Deadlines im Kopf, ohne den Gedanken an Dinge, die ich gerade eigentlich zu tun hätte. Ich hatte keine Ahnung gehabt, wie sehr mir diese ausgelassenen Abende gefehlt haben.
Während Jess und ich unserer Müdigkeit nachhängen, unterhält sich Evelyn vorne munter mit dem Fahrer. Sie hätte wahrscheinlich noch Stunden weitertanzen können und hätte den Off Day morgen trotzdem mit einer Joggingrunde im Morgengrauen begonnen. Ihre Energie ist fast schon unmenschlich.
Kurz vor dem Hotel hole ich mein Handy hervor. Es ist drei Uhr morgens und Harrys Antwort auf meine letzte Nachricht ist zwei Stunden her. Ohne darüber nachzudenken tippe ich ein „Sind gleich im Hotel angekommen. Bist du noch wach?" ins Nachrichtenfeld. Mir entgeht die Ironie der Uhrzeit nicht. Zu meinem Erstaunen antwortet mir Harry, noch bevor ich mein Handy wieder wegstecken kann mit einem simplen „Komm rüber!".
„Ich werde nie wieder trinken!", murrt Jess, kurz nachdem Evelyn und ihr Fahrer uns an unserem Hotel abgesetzt haben, und legt ihre Stirn gegen die kühle Wand des Aufzugs. Ich würde mich ihr gern anschließen, habe aber in den letzten Jahren gelernt, dass ich mich an solche Vorhaben sowieso nicht halte. Außerdem weiß ich ganz genau, dass es ihr da ähnlich geht, auch wenn sich ihre kleinen Alkoholausflüge, seit sie Mutter geworden ist, auf ein paar wenige beschränken.
„Du nimmst gleich eine Schmerztablette und trinkst noch ein großes Glas Wasser, bevor du ins Bett gehst. Zieh die Vorhänge zu und stell alle technischen Geräte lautlos. Wir haben morgen nicht umsonst Off Day."
Sie wirft mir aus dem Augenwinkel einen amüsierten Blick zu. „Ja, Mama."
Als sich die Fahrstuhltüren auf ihrer Etage öffnen, zieht sich mich in eine kurze, etwas heftige Umarmung und verschwindet dann nach links. Bevor sich die Türen gänzlich geschlossen haben, höre ich sie „Viel Spaß mit deinem Popsternchen" durch den Flur flöten.
Mein Magen zieht sich merklich zusammen, als ich bloß Momente nach meinem zaghaften Klopfen Harrys Schritte hinter der Tür vernehme.
„Na, Nachtschwärmerin?"
„Na, Nachtschwärmer?"
Er trägt bloß eine Jogginghose, die ihm zu tief auf den Hüften hängt, und als ich an ihm vorbei ins Hotelzimmer gehe, kann ich nicht anders, als seinen nackten Bauch mit meinen Fingerspitzen zu berühren.
Das Licht im Zimmer ist gedimmt. Auf dem Tisch liegen Harrys Notizbuch und einige lose Zettel, die von einem leeren Tumbler beschwert werden. Es läuft leise, schwermütige Musik im Hintergrund.
„Hast du gearbeitet?"
Ich lehne mich an die Couch. Die Atmosphäre im Raum ist viel zu gespannt, als dass mich einfach setzen könnte. Harry tritt an mich heran, so nah, dass er sich links und rechts von mir auf der Couchlehne abstützt.
„Hab ein paar Kapitel in deinem Buch gelesen. Und dann selbst noch was geschrieben.", brummt er und sein Atem streicht meinen Hals. Ich meine, einen Hauch Whiskey darin zu riechen und allein der Gedanke eines halbnackten Harrys, der ein Buch und ein Glas Whiskey in den Händen hält, lässt den Schwindel in meinem Kopf wieder an Fahrt aufnehmen.
„Kapitel zwanzig, hm?"
Ich glaube zu erkennen, dass einige seiner Haarsträhnen noch feucht sind, so als wäre er erst vor kurzem aus der Dusche getreten.
Er hebt den Blick, trifft den meinen und alles woran ich denken kann ist, dass all die schlechten Metaphern von durchbohrenden Blicken wahr sind. Meine Finger streichen über sein Kinn, ich kann spüren, wie er die Zähne erst zusammenbeißt und dann leicht den Mund öffnet. Und dann denke ich an nichts mehr.
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