Kapitel 24.
Ich schreibe über Wölfe, über reißende Zähne und Körper, die in einer Masse von anderen Leibern verschwinden. Über rückwärtslaufende Uhren und schöne Hände. Meine Schrift ist so krakelig, wie sie es sonst nur dann ist, wenn ich mir hektische Notizen während eines Telefonats mache; das Kratzen des Stifts auf dem Papier ist fast rhythmisch. Das, was ich schreibe, hat nichts mit dem zu tun, was ich zuletzt geschrieben habe und woraus letztendlich mein Roman entstanden ist. Viel mehr erinnert es mich an die frühen Dinge, die ich geschrieben habe. Es ist sehr roh, stilistisch dunkel und sehr viel unklarer. Nichts von dem, was ich da zu Papier bringe, würde wirklich als stringente Erzählung durchgehen. Noch nicht. Viel mehr sammle ich Schlaglichter, in denen vorerst nur ich einen Zusammenhang erkenne. Wenn es gut läuft, dann wird sich das mit der Zeit geben, dann werde ich Konnektoren finden, die die einzelnen Elemente verknüpfe und vielleicht, ganz am Ende des Prozesses, würde ich etwas Fertiges in den Händen halten. Und sollte das nicht der Fall sein, so hielt ich wenigstens meinen Geist und meine Finger beschäftigt, bis ich diese Idee finde, die den gesamten Prozess durchlaufen würde. Ich –
„Ich glaube, ich weiß, wie du dich fühlst. Ich hab mich auch so gefühlt.", sagt Harry unvermittelt und unterbricht damit die einvernehmliche Stille, die zwischen uns geherrscht hatte.
Ich lege den Stift zur Seite und setze mich ein bisschen auf, so dass ich Harry direkt ansehen kann. Das Wetter hat uns einen Strich durch unseren Dachterassenabend gemacht. Nur zehn Minuten, nachdem wir uns dick eingepackt nach draußen gesetzt hatten, hatte es zu regnen angefangen. Statt also draußen zu arbeiten, liegen wir nebeneinander in meinem Bett und kritzeln abwechselnd in unsere Notizbücher oder führen Gespräche, die kaum lauter sind als der Regen, der von draußen an die Fensterscheiben schlägt. Harry tut es mir gleich und schiebt sein Notizbuch ebenfalls bei Seite.
„Wir haben da damals alle einfach irgendwie mitgemacht, aber keiner von uns hatte eine Vorstellung davon, wie groß One Direction werden würde. Wie hätten wir uns das auch ausdenken können? Und plötzlich stehst du vor deinem Leben und denkst dir: wie zur Hölle ist das jetzt passiert? Und wie gehe ich damit um?"
Er redet langsam und durchdacht. Überhaupt scheint es ständig, als würde Harry jeden Satz, vielleicht sogar jedes Wort, abwägen. Ihm rutscht nicht einfach so eine Dummheit heraus. Wenn es darum geht, bin ich so viel hitzköpfiger als er. Ich glaube, die Ruhe in seinen Worten ist das, was mich ihm so gern zuhören lässt und der Inhalt der Dinge, die er von sich gibt, sind angesichts seines Alters fast schon zu reif.
„Das Gute war, dass wir so jung waren", erzählt er weiter. „Es war einfach ein riesiges Abenteuer und der Reiz bestand darin zu sehen, wie weit wir damit kommen würden. Als das mit der Band dann vorbei war, stand ich wieder da, diesmal älter und mit sehr viel mehr Hirn und Verstand, und dachte: Fuck. Was jetzt? Wie geh ich von hier aus weiter? Denn man startet ja nicht mehr bei Null."
„Genau", ich greife nach der Kordel seines Hoodies und wickle sie mir um den Zeigefinger.
„Ich war von jetzt auf gleich nicht mehr einfach Alex, sondern die Autorin mit diesem unwirklichen Erfolg. Und jetzt bin ich nicht mehr einfach nur eine Autorin, sondern man erwartet nicht mehr von mir als einen eben solchen Erfolg. Nur leider hat mir niemand gesagt, wie diese Art Leben funktioniert."
Ich ließ mir das, was er gesagt hatte, noch einmal durch den Kopf gehen. Diese Dinge hatten die Angewohnheit, zu einer Mauer zu werden. Ganz unbemerkt von einem selbst baut und baut und baut man, und es verhält sich ähnlich wie mit Höhenangst: wenn man nur nicht hinsieht, ist es nicht so schlimm. Ich hingegen, so wie Harry damals, sehe nun hin, ich sehe, was sich da aufgetürmt hat, und der damit einsetzende Schwindel vernebelt mir die Sicht auf alles, was schön sein könnte.
„Erwartet irgendwer diesen Erfolg oder erwartest du ihn?"
Ich verdrehe die Augen und zupfe an der Hoodiekordel. „Ganz schön anstrengend, dass du so clever bist."
Bevor er auf meine Frechheit eingehen kann, küsse ich seinen Mundwinkel und drehe mich dann auf den Rücken. Von dieser Position aus kann ich einen Teil des Londoner Nachthimmels zwischen den vielen, am Fensterglas herabperlenden Regentropfen erahnen. Das wenige Licht, das sich in den Wassertropfen bricht, lässt die feuchten Spuren wie eine fade Kopie des Sternenhimmels aussehen, den ich so oft vom Dach aus gesehen habe. Harry legt sich neben mich, nimmt meine Hand in seine und für eine Weile sagen wir einfach nichts.
Wir funktionieren mit Worten, doch manchmal beschleicht mich das Gefühl, dass wir ohne sogar noch besser funktionieren. Er kann mich quer durch einen Raum ansehen und es ist so, als würden wir uns kurz beieinander versichern, ob alles okay ist. Wir können in einem zu großen Bett nebeneinander liegen und nichts sagen, uns darüber wundern, wie langsam der jeweils andere atmet oder darüber nachdenken, an wie vielen Stellen unsere Körper sich gerade eben berühren – und trotz der Stille herrscht so etwas wie Einverständnis zwischen uns. Nach einer Weile bin ich fast versucht zustimmend zu nicken, ganz so, als würde ich seinen Gedanken zustimmen wollen.
„Hast du schon mal daran gedacht, dass du deinem alten Leben vielleicht entwachsen bist?", fragt er schließlich.
„Was meinst du?"
Ich sehe Harry an, der wiederum weiter in den Himmel schaut. Seine Stirn legt sich kurz in Falten, während er sich zurechtlegt, was er sagen will, dann klärt sich sein Blick wieder.
„Immer, wenn ich nach Hause komme, ist das wahnsinnig schön. Aber es ist auch wahnsinnig beengt, als wäre das alles irgendwie geschrumpft. Ich bin einfach nicht mehr der Mensch, der ich dort mal war. Das ändert nichts daran, wie ich zu den dazugehörigen Menschen stehe, es ist bloß das Leben, das jetzt ein anderes ist. Und manchmal ist es genau andersrum. Dann werden mir L.A., New York und die ganze Welt zu groß und ich muss nach Hause."
Ich nicke langsam, obwohl Harry das gar nicht sehen kann und denke an zuhause. An die Kneipen und die Straßen, die mich schon immer nach Hause geführt haben. An den Geruch in den U-Bahnen, der mich längst nicht mehr stört, und die Kassiererinnen im Supermarkt, mit denen ich mittlerweile per Du bin. All die Dinge, die seit Jahren da waren. Meine Sicherheiten. Alles was ich nun irgendwie unbequem anfühlt, während ich in dieser Reise, in dieser Arbeit, so etwas wie eine neue Normalität gefunden habe. Ich würde immer wieder nach Hause zurückkehren können, würde diese neue Normalität ein Ende finden. Aber genauso gut konnte ich mir woanders ein neues, ein zweites Zuhause suchen. Immerhin hatte niemand gesetzlich festgelegt, dass jeder Mensch nur ein Zuhause würde haben können.
Ohne, dass er es jemals direkt ausgesprochen hat, ohne, dass mich einer meiner Freunde jemals damit konfrontiert hat, weiß ich, dass ich mit angezogener Handbremse fahre. Denn es könnte schief gehen. Ich könnte Pläne machen, könnte neue Dinge versuchen, ein neues Leben versuchen – um am Ende festzustellen, dass es nicht funktionierte und mich auch dieser Versuch mit leeren Händen hinterließ.
Diesmal breche ich die Stille. „Harry?"
Er regt sich ein bisschen neben mir. Die Matratze bewegt sich, als er sein Gewicht verlagert. Er schließt seine Hand fester um meine und ich kann nur an der Art, mit der meine Haut beginnt zu prickeln, festmachen, dass er mir nun sehr viel näher ist als noch vor einer Minute.
„Alex?"
Ich muss ein bisschen darüber schmunzeln, wie wir uns ständig wie selbstverständlich bei unseren Namen nennen.
„Du sagst das aber nicht bloß, um mich leichter in deine etwas einschüchternde Harry-Styles-Welt zu locken, oder?"
Er lacht und liegt so plötzlich auf mir, dass mir ein Keuchen entfährt.
„So berechnend wäre ich niemals. Außerdem hab ich dafür andere Mittel."
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