Kapitel 21.
„Harry!", rufe ich aus, denn ich spüre, wie mir schon wieder die Hitze in die Wangen steigt und ich erröte. Mittlerweile habe ich keine Ahnung mehr, welchen Film wir da eigentlich schauen, denn jedes Mal, wenn ich mich länger als eine halbe Minute auf das Fernsehbild konzentriere, spüre ich, wie sich die kleinen Härchen in meinem Nacken aufstellen und sich eine leichte Gänsehaut auf meiner Haut bildet. Scheinbar haben Harrys Blicke diese Wirkung auf mich.
Ich weiß, dass er das sehr bewusst macht, um mich zu provozieren, und ich falle tatsächlich immer wieder drauf rein. Er zieht mich auf, einfach weil ich einen halben Meter von ihm entfernt auf der Couch sitze und versuche, meine Unsicherheit damit zu kaschieren, dass ich dem Handlungsstrang einer relativ flachen Romcom aufmerksam folge. Oder es wenigstens in den kurzen Momenten versuche, in denen er mich nicht mit diesem Schmunzeln ansieht.
Statt wie die einhundert Mal zuvor demonstrativ mit den Schultern zu zucken und sich dann wieder dem Fernseher zuzuwenden, schlägt er seine Decke zurück und breitet die Arme aus.
„Komm endlich her. Dann hör ich auf."
Für den Bruchteil einer Sekunde zögere ich. Das schummrige Licht, die Wärme, Harrys Geruch, der durch seine Kleidung an meinem Körper viel zu intensiv ist. Das hier ist so etwas wie die kleine, intime Schwester unserer Verabredungen auf dem Dach. Anders intim eben. Nicht auf der Ebene, auf der wir offen und viel zu ehrlich miteinander reden, sondern dort, wo ich mein unkontrolliert schlagendes Herz verrate, wenn ich mich ihm noch weiter nähere.
Er zieht eine Augenbraue in die Höhe, legt den Kopf nach links und ich gebe nach. Etwas ungeschickt krabble ich zu ihm herüber und lege mich in seine ausgebreiteten Arme. Tue es ihm nach und breite mich der Länge nach aus, weil ich mein Gesicht so viel besser in seiner Halsbeuge verstecken kann. So würde er zumindest nicht mehr in mein Gesicht starren können.
„So kriegst du allerdings noch weniger vom Film mit."
„Harry, ich bin mir nicht mal mehr sicher, wer in diesem Film jetzt gerade versucht, wen zu kriegen. Als ob das jetzt noch einen Unterschied machen würde."
Er lacht leise, drückt mich an sich und küsst erst meinen Scheitel, dann meine Stirn.
Augenblicklich fällt die Anspannung von mir ab. Mein Herz schlägt immer noch zu schnell, aber ich werde immer ruhiger, so eingehüllt von Harrys Körperwärme. Als sich seine Finger dem Bund des Pullovers nähern, treffen sich unsere Blick.
„Okay?"
Ich nicke langsam. Will sein 'okay' erwidern, aber ich kann bloß an seine Fingerspitzen auf meiner nackten Haut denken und denken ist sowieso das falsche Wort, denn ab der Sekunde, in der er seine Hand unter den Stoff schiebt, denke ich überhaupt nichts mehr, ich spüre bloß und will auf keinen Fall aufhören, seine Hand auf meiner nackten Haut zu spüren, auch wenn das bedeutet, dass mir einfache Worte nicht mehr einfallen. Ich tue, wofür ich am Morgen noch zu feige war: ich recke mich ein paar Millimeter und küsse ihn.
Harry zu küssen heißt, dass er mich, obwohl kaum noch ein guter Gedanke zwischen uns passt, soweit an sich zieht, dass ich halb auf ihm liege und wir unsere Beine miteinander verschränken. Eine seiner Hände liegt still an meinem Gesicht, die andere fährt die Kontur meiner Wirbelsäule nach. Harry zu küssen ist langsam und innig und im nächsten Moment tief und intensiv. Harry zu küssen heißt, so viel auf einmal zu fühlen, dass ich vergesse, wo oben und unten ist. Harry zu küssen erschafft ein solches Chaos, dass Zweifel und gute Vorsätze darin verloren gehen.
Harry zu küssen ist alles.
Ich weiß nicht, wann ich seinen Pullover loswerde und er sein Shirt verliert. Ich weiß auch nicht, wann wir die Rollen tauschen und schließlich er derjenige ist, der mich unter sich begräbt. Ich habe keine Ahnung, wann ich das letzte Mal geatmet habe oder wie ich die Hitze aushalten soll, die unsere Körper erzeugen.
Es vergehen fünf Minuten, fünf Stunden oder vielleicht auch fünf Tage, bevor wir uns wieder voneinander lösen. Sein Gesicht trägt nun die gleiche Röte wie meins. Sein Herz rast. Ich kann es schlagen hören, als ich meinen Kopf auf seine nackte Brust lege und mit Zeige- und Mittelfinger die Kontur seines Bauches nachfahre.
Wir brauchen einen Moment, um uns zu beruhigen. Irgendwann bewegt Harry sich kurz unter mir. Das Fernsehbild erlischt, der Raum wird ein bisschen dunkler und im Hintergrund spielt wieder leise Musik. Langsam, aber sicher, glaube ich, meine Artikulationsfähigkeit zurückzugewinnen und bevor auch die Zweifel zurückkommen, räuspere ich mich.
„Kann ich dir was erzählen?"
Er zögert nicht. „Alles."
Meine Finger auf seinem Bauch kommen zur Ruhe. Ich atme noch einmal tief ein, dann beginne ich zu erzählen.
„Ich hatte diese Beziehung. Vor dem Buch. Fast sieben Jahre lang. Es war alles geplant. Wir hatte so etwas wie einen Zehnjahresplan mit Kindern, einem Eigenheim, einem Familienhund. Alles. Er hatte sogar schon die Fliesen für die Küche in unserem Haus ausgesucht, weil ihm die bei seiner Schwester so gut gefallen haben, und irgendwie waren wir darüber übereingekommen, dass ich Hausfrau sein würde, während er Karriere macht."
Ich stoppe kurz, überdenke meinen letzten Satz und ziehe dann die Stirn kraus. „Streich das. Das war keine gemeinsame Entscheidung. Ich hatte mich nie in der Rolle der Hausfrau gesehen. Er war, ich zitiere, einfach höher qualifiziert. Es war seiner Ansicht nach die logische Konsequenz, dass er dann irgendwann das Geld nach Hause bringen würde."
Einen Moment lang konzentriere ich mich bloß auf Harrys Atemzüge und seine Finger, die ganz langsam die Konturen meiner BH-Träger nachzeichnen. Er drängt mich nicht dazu, weiterzureden.
„All das wäre nicht schlimm gewesen, hätten wir in diesen grundlegenden Dingen zueinander gepasst. Ich glaube, er war kein schlechter Mann. Aber er war ein schlechter Mann für mich. Nur wollte ich das nicht wahrhaben, deshalb hab ich mich nach seinen Wünschen und Vorstellungen verbogen, bis ich nicht mehr ich selbst war", ich halte kurz inne. Ich hatte ein einziges Mal mit Laura dieses Gespräch geführt, kurz vor meiner Trennung. Danach war es nie wieder zur Sprache gekommen. Ich hätte nicht gedacht, dass ich es noch einmal wieder hochhohlen würde.
„Aber ich konnte das Schreiben nicht lassen. Eine Weile schon, die ersten paar Jahre. Aber irgendwann hat es zu sehr in mir gebrodelt. Er hatte keinen richtigen Sinn für Literatur und hielt das, was ich tue, für Zeitverschwendung. Also tat ich es heimlich. Statt nachts neben ihm zu liegen, saß ich über meinen Laptop gebeugt in der Küche. Statt Zeit mit ihm zu verbringen, flüchtete ich mich in Cafés um an »3 am« zu arbeiten. Irgendwann saßen wir abends bei einem Bier auf unserem Balkon. Er erzählte die einhundertste Geschichte aus der Kanzlei, in der er arbeitete. Als er fertig war, sagte ich ihm, dass ich da dieses Manuskript schreiben würde. Und dass ich es veröffentlichen wollen würde."
Es hatte nach Grillkohle gerochen an diesem Abend und während er die immer gleichen Geschichten erzählte, hatte ich die Fledermäuse gezählt, die hektisch durch den Hinterhof flatterten. Es waren vier.
„Einen Moment sagte er nichts. Ich dachte, er würde vielleicht darüber nachdenken oder hätte mich nicht richtig verstanden. Dann fing er mit der nächsten Kanzleigeschichte an. Einfach so. Er hatte aufgehört, mich kleinzureden war nun dazu übergangen, mich einfach zu ignorieren. Und ich glaube, in diesem Moment habe ich aufgehört ihn zu lieben."
Ich hebe meinen Kopf ein bisschen, um Harry ansehen zu können. Sein Blick ruht auf mir, vollkommen wertfrei und ebenso warm, wie eh und je.
„Weißt du, ich hatte das alles. Mein Leben war klar; es gab diesen Plan. Ich habe so viele Jahre mit diesem Mann verbracht und danach hatte ich bloß noch dieses Manuskript. Ich kam bei Freunden unter, schrieb Tag und Nacht, und als ich es schließlich an Verlage verschickte und auf eine Antwort wartete, hatte ich nichts mehr. Keinen Plan, keine Perspektive", ich seufze.
„Und dann passierte auf einmal alles ganz schnell. Dieses Buch wurde gefühlt über Nacht zu etwas ganz Großem und hat seitdem mein Leben bestimmt. Ich hab keine Wohnung und keine Ahnung, was ich tun soll, wenn dieses Filmding, alle Lese- und Pressetermine vorbei sind. Ich hab keine Ahnung, wie es weitergehen soll. Wo es weitergehen soll. Und was ich überhaupt will. Bisher hab ich mich davon aber recht gut ablenken können."
Ein paar Minuten schweigen wir. Ich habe mich leergeredet und Harry scheint über das nachzudenken, was ich ihm erzählt habe. Als er schließlich beginnt zu reden, ist seine Stimme so weich, dass sich etwas in meinem Körper zusammenzieht.
„Du tust was du liebst."
Er sagt das leise und ohne mich aus den Augen zu lassen. Eine simple Wahrheit. Er sagt das wie jemand der weiß, wovon er redet.
„Eigentlich ist es ganz einfach. Du tust, was du liebst. Und alles andere wird sich fügen. Du hast dich für dieses Manuskript und damit fürs Schreiben entschieden und dich damit für die Sache entschieden, die dich glücklich macht. Sei mutig genug, das immer wieder zu tun. Du bestimmst, wie es von hier aus weitergeht. Niemand sonst."
Ich beiße mir unwillkürlich auf die Unterlippen, denn er trifft mit dem, was er sagt, so verdammt zielsicher ins Schwarze, dass es fast weh tut. Sein Blick flackert von meinen Augen zu meinem Mund und er schließt die Augen.
„Tu das nicht."
„Hm?"
Er räuspert sich leise, bevor er die Augen wieder öffnet.
„Die Sache mit deiner Lippe. Du hast keine Ahnung, wie sehr ich dich küssen will, wenn du dir auf die Unterlippe beißt."
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