Kapitel 2.

Die Finger, mit denen ich meinen Koffer hinter mir herziehe, sind eiskalt. Mein Blick springt hektisch durch die Flughafenhalle, doch das einzige mir bekannte Gesicht ist das meines Sitznachbarn, der mir noch einmal zuwinkt, bevor er in der Menge verschwindet.

Eigentlich hätte meine Agentin mit mir fliegen sollen, sie hatte ihren Flug jedoch kurzfristig verschieben müssen, da sowohl ihre kleine Tochter, als auch ihr Mann mit der Grippe kämpften und sie somit wirklich wichtigeres zu tun hatte, als mir an meinen ersten Tagen die Hand zu halten. Laut der Nachricht, die sie mir gestern Abend noch geschickt hatte, würde sie versuchen, in zwei Tagen nachzukommen.

„Keine Sorge, sie werden dir einen Fahrer schicken, der dich vom Flughafen abholt", hatte sie mir zugesichert.

Ich sehe zwar eine Menge Menschen, möchte jedoch keinem von ihnen unterstellen, dass er nur hier ist, um mich vom Flughafen ins Zentrum von London zu fahren. Langsam bewege ich mich durch das Terminal, bleibe aber im absehbaren Radius zu dem Gate, durch das ich soeben gekommen bin. Um mich herum gehen die Menschen entweder zielstrebig zu ihrem Bestimmungsort oder sie begrüßen diejenigen, die hier auf sie gewartet haben. Ich scheine die einzige zu sein, die sich unsicher herumdrückt und immer wieder den Blick durch die Menge streifen lässt.

Gerade, als ich darüber nachdenke, mir einfach ein Taxi zum Hotel zu nehmen oder meine Agentin anzurufen, eilt ein Mann auf mich zu.

„Alexandra Connor?", ruft er, etwas außer Atem, als er noch ein paar Meter von mir entfernt ist.

Ich nicke und ihm entgegen. In seiner Rechten erkenne ich beim Näherkommen ein weißes Pappschild, auf das jemand meinen Namen gedruckt hat.

„Ms. Connor, bitte verzeihen Sie. Der Verkehr war selbst für Londoner Verhältnisse katastrophal!"

Ich atme erleichtert auf und strecke ihm, ohne darüber nachzudenken, meine Hand entgegen. Ich weiß nicht, ob es üblich ist, sich seinem Fahrer vorzustellen, immerhin ist es das erste Mal, dass ich überhaupt auf einen treffe. Er stellt sich als Jack Crumbach vor und nimmt mir, nicht ohne eine weitere Entschuldigung, meinen Koffer ab.

„Waren Sie schon mal in London?", fragt er, als wir uns gemeinsam den Weg durch die Ankommenden und Abreisenden bahnen.

Ich bejahe seine Frage und versuche, mit ihm Schritt zu halten. Tatsächlich ist es gar nicht so lang her, dass ich genau durch diesen Flughafen gelaufen bin, damals allerdings an der Seite meiner Agentin, um einiges weniger aufgeregt und auf dem Weg, den Zug ins Zentrum zu nehmen.

Als wir schließlich am Auto, einem silberglänzenden Audi, angekommen sind, verstaut Mr. Crumbach meinen Koffer im Kofferraum und bietet mir einen Platz auf der Rückbank an. Ich zögere.

„Wäre es okay, wenn ich vorne neben Ihnen sitze? Auf der Rückbank hab immer ich das Gefühl, ich müsste wie die Königin dem Volk winken."

Sein Lachen kommt unerwartet und es macht ihn wahnsinnig sympathisch. Er öffnet mir die Beifahrertür und sitzt nur Momente später neben mir am Steuer.

„Ich glaube, vor Ihnen hat noch niemand darum gebeten, neben mir sitzen zu können ", sagt er, als er den Wagen aus dem Parkplatz lenkt und losfährt.

„Dann darf mir jetzt nichts Unangenehmes passieren", sage ich, während ich mich anschnalle. „Ich würd lieber als die Mitfahrerin in Erinnerung bleiben, die vorn sitzen wollte als die, die aus Versehen ihr Auto in Brand gesteckt hat."

„Passiert Ihnen das öfter? Versehentliche Brandstiftung?", fragt er und schmunzelt.
„Bei meinem fehlenden Geschick ist das wohl nur eine Frage der Zeit", gebe ich zurück.

Ich beobachte, wie er sich in den Verkehr einfädelt und greife nach meinem Handy, das irgendwo zwischen all meinem Krempel in meiner Handtasche liegt. Kaum habe ich es eingeschaltet, trudeln Nachrichten von meiner Agentin und einige Nachrichten von Freunden ein. Allen voran haben sie eines gemeinsam: alle wünschen mir wahnsinnig viel Spaß und Erfolg in London. Ich soll mich so bald wie möglich melden und alle lassen mich wissen, dass sie mich liebhaben. Jessica, meine Agentin, hat mir zusätzlich einige Unterlagen per Mail zukommen lassen, doch deren Sichtung verschiebe ich auf einen späteren Zeitpunkt.

„Haben Sie Lust auf Kaffee?"

Mr. Crumbach wirft mir einen schnellen Seitenblick zu, bevor er sich wieder auf den Verkehr vor sich konzentriert. Wie auf Kommando spüre ich die Müdigkeit, die direkt hinter meiner Nervosität auf den richtigen Moment für ihren Einsatz gewartet hat.

„Sie können das nicht wissen, aber in meiner Welt ist das lediglich eine rhetorische Frage", antworte ich.

Er grinst und biegt in eine Nebenstraße, statt auf dem direkten Weg ins Zentrum zu bleiben. Vor einem kleinen Café bleibt er schließlich stehen und schnallt sich ab. Als ich Anstalten mache, es ihm gleich zu tun, schnalzt er mit der Zunge und schüttelt den Kopf.

„Sie bleiben schön hier. Was darf ich Ihnen mitbringen?"

„Den größten Milchkaffee, den Sie finden. Ohne Zucker", antworte ich, ohne nachdenken zu müssen. „Und ein Wasser wäre super."

Als er die Autotür hinter sich zugeworfen hat, ziehe ich nochmal mein Handy aus der Tasche und öffne das Nachrichtenfeld von Jessica und mir. Ich nutze die Minuten, in denen ich allein im Auto bin, um ihr eine Sprachnachricht aufzunehmen, in der ich eigentlich nichts anderes sage, als dass ich gut angekommen und auf dem Weg ins Hotel bin. Ich sage ihr, dass ich hoffe, dass sowohl ihre Tochter als auch ihr Mann auf dem Weg der Besserung sind und dass ich mich darauf freue, wenn sie bald nachkommt. Meine Nervosität erwähne ich nicht. Ich kenne Jessica mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass mich daraufhin nur eine ihrer endlosen Moralpredigten darüber erwarten würde, dass ich mich gefälligst nicht so anstellen solle.

Gerade, als ich auch meiner besten Freundin eine Nachricht aufnehmen möchte, kommt Mr. Crumbach zurück zum Auto. Er reicht mir einen großen Pappbecher, aus dem es verführerisch nach Kaffee durftet und eine Flasche Wasser. Seinen eigenen Kaffeebecher klemmt er in eine Vorrichtung am Armaturenbrett. Als er sich wieder hinter das Lenkrad gesetzt hat, reicht er mir außerdem eine kleine Papiertüte, auf die das Logo des Cafés gedruckt ist.

„Ich hab gehört, dass das Essen in Flugzeugen immer noch gewöhnungsbedürftig ist. Und dieses Café macht sicherlich die besten Schokomuffins im Umkreis."

„Sie glauben gar nicht, wie dankbar ich Ihnen bin", sage ich, und stelle die Papiertüte in meinen Schoß. „Sie sind damit ganz offiziell schon jetzt mein Lieblingsmensch in ganz London!"

Mr. Crumbach, den ich nach der Hälfte der Fahrt Jack nenne, weil wir uns das Du angeboten haben, schafft es ganz unverkrampften Smalltalk aufrecht zu erhalten. Ich unterhalte mich gern mit ihm und verliere zwischen seinen Fragen und Anekdoten vollkommen die Zeit aus dem Blick. Als er schließlich vor einem Hotel anhält, habe ich das Gefühl, gerade erst zu ihm ins Auto gestiegen zu sein. Der leere Kaffeebecher und die wenigen Krümel, die von meinem Muffin übriggeblieben sind, sind jedoch ein eindeutiges Zeichen dafür, wie lange ich tatsächlich schon neben ihm sitze. Ehe ich mich versehe, hat er mir die Tür aufgehalten und einem Hotelangestellten mein Gepäck in die Hand gedrückt.

„Wenn Sie", er stoppt und räuspert sich leise. „Wenn du mich brauchst, gib einfach an der Rezeption Bescheid. Ich stehe dir während deines Aufenthalts zur Verfügung."

Ich nicke, bedanke mich bei ihm für die angenehme Fahrt und folge dem Hotelangestellten zum Empfang.

Es hat in meinem Leben nur wenige Momente gegeben, in denen ich mich ähnlich fehl am Platz gefühlt habe, wie in diesem. Ich rieche nach Flugzeug, meine Kleidung ist verknittert und mein Make-up flugzeuggeschädigt. Ich trage Klamotten, in denen ich mich wohl fühle und die mir das Reisen so angenehm wie möglich machen, die aber nur bedingt öffentlichkeitstauglich sind. In meiner rechten Hand halte ich immer noch den leeren Kaffeebecher und die kleine Papiertüte, in der bis vor kurzem noch ein Muffin gesteckt hat.

Die Hotellobby und all ihre Angestellten sind das genaue Gegenteil von mir: jeder von ihnen ist so akkurat gekleidet und zurecht gemacht, dass es schon unnatürlich wirkt. Der Boden ist so stark poliert, dass ich in seiner Spiegelung mein Make-up auffrischen könnte und die Einrichtung schafft es, in ihrem Minimalismus derart edel und kostspielig auszusehen, dass ich mir schwöre, bis zu meiner Abreise nichts in diesem Hotel anzufassen, was ich nicht zwingend anfassen muss. Jeder ist übermäßig freundlich, trotzdem fühle ich mich wie Unrat, den jemand von der Straße mit hereingetragen hat.

Ich kann mir ein leises „Oh, Lord!" nicht verkneifen, als ich endlich die Zimmertür hinter mir schließen kann. Für den Bruchteil einer Sekunde wünsche ich mich zurück auf den Beifahrersitz neben Jack. Oder besser noch: zurück nach Deutschland, wo jeder den Anblick von mir in einer Jogginghose kennt.

Das Zimmer ist eine kleine Ausgabe des Hotels. Weiße und graue Wände, hochwertige Möbel. Ich habe einen Wohn- und einen Schlafraum, beide mit großen Fenstern, die direkten Blick auf die Themse bieten. Das Bad ist ein Traum in grauem Marmor und so groß, dass mir allein dieser Raum für meinen Aufenthalt genügen würde. Auf dem Tisch im Wohnzimmer stehen frische Blumen und eine Platte mit dekorativ angeordnetem Obst und Pralinen. Unter normalen Umständen hätte ich ein Hotel wie dieses wohl nur dann von innen gesehen, wenn es Teil einer Dokumentationsreihe über die schönsten Hotelzimmer weltweit gewesen wäre.

Ich habe mich gerade für eine Sekunde auf die Couch gesetzt, als es an der Tür meines Zimmers klopft. Ich zucke bei dem plötzlichen Geräusch zusammen, denn so früh hatte ich mit niemandem gerechnet, andernfalls würde ich nicht hier sitzen, sondern im Bad stehen und meinen desolaten Zustand richten.

„Sekunde!", rufe ich in Richtung Tür und fahre mir schnell mit den Fingern durch die Haare. Ich fluche leise, als ich gleichzeitig versuche, die Falten meines Shirts glattzustreichen und meine Frisur wieder so aussehen zu lassen, wie sie ursprünglich einmal angedacht gewesen war.

Als ich die Tür öffne, blicke ich zunächst in das Antlitz eines großen, weißen Coffee-to-go-Bechers. Mein „Ja, bitte?" bleibt auf halbem Weg in meiner Kehle stecken. Stattdessen verlässt nur ein seltsames Keuchen meinen Mund. Hinter dem Kaffeebecher erscheinen mir nur allzu bekannte braune Locken.

Das ist es, denke ich. Jetzt geht der Zirkus los.

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