Kapitel 19.
Harrys Gesicht ist das erste, was ich am nächsten Morgen sehe. Ich erwache sanft, nicht annähernd so schlagartig wie sonst, und als ich das erste Mal ganz langsam die Augen öffne, sind es seine, denen ich begegne.
Er liegt auf dem Bauch, hat den Kopf auf seinen verschränkten Armen abgelegt und betrachtet mich mit einem Blick, dem man den Schlaf noch ansieht.
„Morgen", sagt er, rau und dunkel und so verdammt angenehm.
„Guten Morgen. Wie spät ist es?"
„Gleich sieben."
Ich runzle unwillkürlich die Stirn. „Ich schlafe nie länger als sechs. Außerdem wecken die vom Hotel mich immer."
„Ja", er schmunzelt. „Diesen Anruf hab ich entgegengenommen. Du hast nämlich einfach friedlich weitergeschlafen."
Ich reibe mir übers Gesicht, um die morgendliche Verwirrung zu vertreiben. Ich habe keine Ahnung, wann ich das letzte Mal, für meine Verhältnisse, derart lang und ohne Unterbrechung geschlafen habe. Selbst an Wochenenden, an denen ich den Wecker ausschaltete, schlug ich immer weit vor sieben das erste Mal die Augen auf. Und obwohl ich praktisch meine gesamte morgendliche Arbeitszeit verschlafen habe, habe ich es nicht eilig, aufzustehen. Im Gegenteil. Ich möchte, dass Harry noch einmal den Arm um mich legt, wenn auch nur für eine Minute. Und ich möchte ihn wieder küssen, würde aber niemals die Initiative ergreifen, weil es etwas anderes ist, am Abend geküsst zu werden als am Morgen.
„Hast du gestern noch was geschafft?", fragt er und nickt in Richtung des Laptops.
„Ja und nein. Ich bin sehr schnell müde geworden. Aber es war das erste Mal seit Wochen, dass ich etwas schreiben wollte."
Und sie ist noch da. Diese kleine Geschichte der gestrigen Nacht hängt noch wie Tau zwischen meinen Fingern und ich weiß, dass ich sie werde aufschreiben können, wenn ich mich hinter die Tastatur oder einen Stift klemme.
Ich erwidere Harrys Lächeln und beobachte, wie er eine meiner Haarsträhnen um seinen Zeigefinger wickelt. Es ist das erste Mal in diesem danach, dass ich neben einem Mann eingeschlafen und aufgewacht bin.
„Ich werde es dir irgendwann erzählen", sage ich leise und lasse ihn dabei nicht aus den Augen. „Warum ich keine Wohnung habe und warum das alles so eine große Sache für mich ist. Lass mich einfach nur..."
Seine Finger berühren ganz leicht meine Wange, als er sich vorbeugt und seine Lippen auf meine legt. Leicht und warm und ganz langsam – anders als im Aufzug und doch so, dass es mich das Atmen vergessen lässt.
„Es ist okay", flüstert er gegen meine Lippen und wahrscheinlich wäre das erst der Anfang dieses Morgens gewesen, würde uns nicht ein Klopfen aus diesem Moment reißen.
Die Schläge sind kurz. Und viel zu kräftig für diese Uhrzeit. Ich weiß genau, wer dort hinter der Tür wartet und anders als sonst muss ich diesmal nicht darüber nachdenken, welchen Fehler man mir gleich wohl vorhalten würde.
Ich seufze. „Zeit aufzustehen."
In der kurzen Zeit, die Harry und ich brauchen, um uns wenigstens ansatzweise anzuziehen, hat Jessica vermutlich eine ordentliche Kerbe in die Tür gehämmert.
„Du solltest gehen, das wird ziemlich hässlich werden", sage ich, doch Harry schüttelt den Kopf und lässt sich auf die Couch sinken.
„Mitgehangen, mitgefangen. Oder nicht?"
„Du!", sagt Jessica laut, als ich die Tür öffne und drängt sich an mir vorbei. Sie ist bereits im Wohnzimmer, bevor ich überhaupt die Tür wieder schließen kann. Ihr Blick fällt auf Harry, der sich hinter seinem Smartphone versteckt, auf die leeren Bierflaschen, die noch immer auf dem Couchtisch stehen und dann, kaum dass ich den Raum betrete, auf mich. Sie muss gar nicht erst eins und eins zusammenzählen, sie weiß auch so Bescheid. Und wenn ich es nicht besser wüsste, dann würde ich sagen, dass sie für den Bruchteil einer Sekunde lächelt.
„Ich bin mir gerade nicht sicher, ob ich dich beglückwünschen soll", knurrt sie leise. Dann wird ihr Gesicht wieder ernst. „Hast du mir irgendwas bezüglich der letzten Nacht zu erzählen?"
Ich zucke die Schultern. „Eigentlich nicht."
Jessica hat wirklich zu viel von meiner Mutter, als dass ich nicht in die Rolle des trotzigen Teenagers rutschen könnte.
„Wie war das gleich? Ach ja! 'Oh Jessica, keine Sorge, ich halte mich von den britischen Jungs fern und werde mich der Presse gegenüber wie ein Mensch mit Hirn benehmen'! So in etwa?!"
„Meine erste Idee war es, ein paar von diesen Arschlöchern umzufahren", ich verschränke die Arme vor der Brust und lehne mich gegen die Wand. „Ich schätze, wir sind alle noch ganz gut weggekommen."
Harry schnaubt, verstummt aber sofort, als Jessica drohend einen Finger in seine Richtung ausstreckt. „Von dir will ich gar nichts hören."
Als sie sich wieder mir zuwendet ist die wilde Wut in ihrem Blick einer berechnenden Kälte gewichen.
„Dir ist klar, dass du es damit für dich nicht einfacher gemacht hast? Die Medien sind voll mit deinem kleinen Ausraster. Weißt du, wie das für die anwesende Presse ausgesehen hat?"
Jessica lässt ihre Fragen einen Moment im Raum stehen. Ich weiß, dass sie keine Antwort von mir erwartet. Dies hier ist rhetorischer Natur und bloß der Einstieg in eine Moralpredigt, die sich gewaschen hat.
„Die Buchautorin, die sich mit dem Hauptdarsteller vergnügt und dann angepisst ist, weil ihr die Presse dazwischenfunkt. Vielleicht ist es dir nicht aufgefallen, aber wir sind hier nicht mehr in Deutschland, wo diese Szene mit einem x-beliebigen Mann nichts weiter als eine unschöne Randnotiz gewesen wäre."
Ihr Blick flackert zwischen Harry und mir hin und her.
„Du weißt, ich habe nicht das allergrößte Problem mit schlechter Publicity, aber in diesem Moment spekulieren die Onlinemedien und sämtliche Klatschspalten nur über eine einzige Frage. Willst du wissen, welche das ist?", sie deutet erst auf Harry, dann auf mich. „Wer von euch beiden nach unten fickt. Also, herzlichen Glückwunsch, wenn es das war, was du gern über ihn und dich lesen wolltest. Ich für meinen Teil kann nur sagen, dass ich sowas nicht über dich lesen wollte. Und jetzt geh ich mir einen Kaffee holen und sehe zu, wie ich die Suppe auslöffle, die du mir eingebrockt hast."
Ich bleibe stocksteif stehen als sie an mir vorbeistürmt und die Tür hinter sich zuknallt. Ich bin unsere, mitunter sehr lauten, Wortgefechte gewohnt und weiß, dass wir spätestens morgen darüber werden lachen können, aber ihre letzte Bemerkung hat gesessen. Ein klassischer Tiefschlag, der mich mit dem Kiefer mahlen lässt, um die Wut, von der ich gehofft hatte, sie sei mittlerweile verflogen, zu unterdrücken. Ich hatte Harry nicht schaden wollen, niemals, aber da ich oft genug eine Idiotin bin, ist offensichtlich genau das eingetreten.
„Es tut mir leid", presse ich nach einem stillen Moment hervor und ich brauche alle Kraft, um meine Stimme wenigstens annähernd ruhig zu halten. „Es lag sicherlich nicht in meinem Interesse, dass die Presse über sowas spekuliert."
„Laut der Presse hab ich schon, ich zitiere deine Agentin, in so viele Richtungen gefickt, dass ich selbst nicht mehr weiß, mit wem ich gerade eigentlich für welchen Vorteil verkehre. Solange mir nicht schwindelig wird, ist das okay."
Trotz der Wut bricht ein bellendes Lachen aus mir heraus. Mit nur einer einzigen Bemerkung hat er die Anspannung gebrochen. Kopfschüttelnd setze ich mich neben ihn auf die Couch.
„Sweet Jesus", rufe ich aus und verdrehe die Augen. „Mit dieser Nummer könnten Jess und ich eigentlich im Fernsehen auftreten."
„Kriegt ihr das wieder hin?"
„Klar", sage ich, und reibe mir die Schläfen. „Es ist nicht das erste Mal, dass ich unter Beweis stelle, dass ich einfach nicht für die Öffentlichkeit gemacht bin. Und unsere Arbeitsbeziehung war schon immer ..."
„Laut?", schlägt er vor und grinst.
„Leidenschaftlich. Wäre Jessica ein Mann und ungebunden würden wir vermutlich irgendwann übereinander herfallen und könnten uns danach nicht mehr ins Gesicht schauen."
Ich stehe auf und gehe rüber ins Schlafzimmer, um über das Telefon auf dem Nachttisch Kaffee für Harry und mich zu bestellen. Als ich zurück ins Wohnzimmer komme, hält mir Harry sein iPhone entgegen.
„Also, mag sein, dass sich die Presse gerade das Maul zerreißt. Aber ein paar Leute feiern dich auch ziemlich."
Ich nehme das Handy entgegen und finde mich augenblicklich in Harrys Twitterfeed wieder. Fremde Menschen bezeichnen mich als badass und lassen sich darüber aus, dass diese Paparazzi genau diese Ansage verdient hätten. Ich grinse, denn nicht nur einer von ihnen merkt an, dass Harry endlich mal eine Frau mit einem funktionierenden Gehirn an seiner Seite hat. Und so geht es immer weiter. Die wenigen bösen Kommentare gehen in einer Flut von Zuspruch unter. Als es an der Tür klopft, gebe ich Harry sein Handy zurück und lasse den Hotelmitarbeiter das Tablett mit dem Kaffee hereintragen. Dieser kurze Blick auf all diese Nachrichten hat ausgereicht, um meinen Kopf ein wenig zu erleichtern.
Ich setze mich neben Harry und verliere mich im Ausblick auf London, das heute klischeehaft regnerisch vor uns liegt. Ich hatte mich schon gefragt, wo der Regen geblieben war, denn bisher hatte es nicht einen einzigen Regentag gegeben. Dafür ziehen sich jetzt Bindfäden über die Fensterscheibe. Irgendwann zwischen gestern Nacht und heute Morgen scheint es sich eingeregnet zu haben.
„Kein gutes Dachwetter", murmle ich gedankenverloren.
„Hm", Harry brummt zustimmend. „Dann komm doch heute Abend zu mir. Wir bestellen uns fettiges Essen, gucken Filme und lassen den Regen einfach Regen sein."
Ich wende meinen Blick von der Fensterscheibe ab. Harry sitzt vollkommen entspannt im Schneidersitz auf der Couch und nippt an seinem Kaffee, als wäre es das normalste der Welt. Ich verstehe nicht, wie er immer so derart entspannt sein kann, wo doch meine Nerven seit der ersten Sekunde blank liegen.
„Warum nicht", sage ich. Wir sind über Punkt hinaus, an dem ich mich künstlich gegen das zur Wehr setze, was hier gerade passiert. „Vielleicht können wir zusammen herfahren. Ich glaube, wir haben ziemlich zeitgleich Schluss."
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top