Kapitel 18.

Das Adrenalin rauscht mit einer solchen Geschwindigkeit durch meinen Körper, dass ich mir sicher bin, dass nicht nur ich es hören kann. Ich spüre Harrys Lippen auf meinen, obwohl wir mittlerweile den Fahrstuhl verlassen haben und zu meinem Zimmer gegangen sind. Er ist mir wie selbstverständlich gefolgt und ich habe ihn nicht davon abgehalten. Hätte er gezögert, hätte er abgewartet – ich hätte ihn so oder so darum gebeten, mich noch nicht allein zu lassen.

Meine Finger zittern, als ich meine Schlüsselkarte aus meiner Hosentasche ziehe, um die Tür zu entriegeln. Ich gehe direkt durch ins Wohnzimmer und bleibe erst vor der Fensterfront stehen, wo ich die Arme verschränke und ins dunkle London schaue. Von hier aus kann ich den Parkplatz nicht sehen, aber ich bin mir sicher, dass sie noch immer da unten stehen und auf einen zweiten Akt warten, während sie sich die Finger wund tippen, um die richtigen Adjektive für meinen kleinen Wutausbruch zu finden.

Ich höre Harry hinter mir werkeln. Dann knarzt das Sofa. Ich weiß, dass er sich daraufgesetzt hat, während ich hin und her gerissen bin zwischen meiner Wut und dem, was im Aufzug passiert ist.

„Wie hältst du das aus?", frage ich schließlich leise und drehe mich zu ihm um. Wie erwartet sitzt er auf dem Sofa. Offensichtlich hat er sich die Schuhe abgestreift und wie durch Zauberhand zwei Flaschen Bier herbeigeschafft. „Und wo kommen die jetzt her?"

Er klopft neben sich auf das Sofa und ich folge seiner Aufforderung, verliere auf dem Weg zu ihm meine Schuhe und hinterfrage nicht, dass es sich nur richtig anfühlt, jetzt neben ihm – in seinem Arm – auf diesem Sofa zu sitzen. Er reicht mir eine Bierflasche und stößt mit seiner Flasche leise gegen meine.

„Du hast eine Minibar", sagt er und deutet auf einen Teil des dunklen Schranks, der die lange Seite des Zimmers dominiert, und den ich bisher für genau eines gehalten habe: einen dunklen Schrank. Es würde mich nicht wundern, befände sich hinter einem der Möbelstücke der Zugang zur Winkelgasse und ich würde es niemals herausfinden, weil ich sie einfach nur für Möbelstücke halte.

„Aber um deine eigentliche Frage zu beantworten: an manchen Tagen gar nicht", das Bier schwappt leise, als er die Flasche zum Mund führt. Ich höre ihn schlucken, dann lehnt er seine Wange an meinen Kopf. „Es gibt Bilder von mir, wie ich heulend durch New York laufe, weil es mir einfach zu viel ist und weil diese Menschen nicht nur einen Haufen Fotos machen, sondern auch keine Scheu haben, dir ihre Meinung zu deiner Person immer und immer wieder entgegen zu schreien."

Meine Finger fahren die Kontur seiner Hände nach. Obwohl wir gegenüber des großen Panoramafensters sitzen, mit dieser atemberaubenden Aussicht praktisch direkt vor den Füßen, habe ich keinen Blick mehr für das nächtliche London mit seinen Lichtern und seinem Zauber, sondern konzentriere mich einzig und allein auf das, was er erzählt, auf die Art und Weise, wie er sehr bedächtig Worte formt und wie sich sein Brustkorb unter diesen Worten hebt und senkt. Es ist nicht das erste Mal, dass mir auffällt, wie sehr Harrys Art zu sprechen und dieser britische Dialekt einander ergänzen.

„Aber es gibt diese Momente, wenn ich vor, keine Ahnung, zehntausend Leuten spiele, und plötzlich singt die ganze Halle. Sie lachen und feiern und singen, was ich geschrieben habe. Diese zehntausend Menschen und ich sind an diesem Abend für neunzig Minuten glücklich. Ich kann bewirken, dass sich Menschen auf der ganzen Welt besser fühlen. Ihnen und mir einen Safe Space erschaffen, in dem wir sein können, wer wir sein wollen. Sollen sie kommen mit ihren Kameras und Gerüchten. Ich weiß, wer ich bin und was ich tue."

Wir schweigen. Dann und wann trinken wir einen Schluck. Ich lasse ihn auf mich wirken, wie er in einem Moment noch locker ist und lacht und dann solche Dinge sagt, die einen nur erahnen lassen, wie reif er hinter seiner Fassade wirklich ist.

So nah an ihn gelehnt kann ich sein Parfum und den frischen Geruch seiner Kleidung riechen. Wenn ich meine Gedanken zu weit schweifen lasse, dann kann ich immer noch spüren, wie sein Daumen über meine Unterlippe gefahren ist. Der gleiche Finger fährt jetzt immer wieder über die nackte Haut an meinem Arm und beschert mir eine fast schmerzhafte Gänsehaut.

„Kann ich bleiben? Oder schickst du mich gleich zurück in die Kälte?", fragt er plötzlich.

Ich setze mich auf und kann gerade noch sehen, wie er ein Gähnen unterdrückt.

„Dein Zimmer ist gleich den Gang runter, Harry", lache ich, doch er legt nur den Kopf schief und schiebt die Unterlippe vor.
„Du weißt doch, dass ich mich in diesem Hotel immer verlaufe. Und ich verspreche, nicht zu schnarchen!"

Ich denke daran, dass ich nachts viel zu oft nicht schlafen kann. Dass ich durchs Zimmer laufe, Licht und eine Aussicht brauche, dass ich plötzlich wie eine Irre auf die Tastatur meines Laptops eintippe, weil mich diese eine Szene nicht loslässt. Dass ich meistens schon vor dem Wecker wach bin. Dass ich einer dieser Menschen bin, deren innere Unruhe selbst andere wachhalten könnte.

Es gibt wahnsinnig viele Gründe, wegen derer ich viel besser dran bin, seitdem ich mir mein Bett nicht mehr mit jemand anderem teilen muss.

Trotzdem nicke ich. „Okay. Aber wenn du doch schnarchst, schmeiß ich dich raus."

Ich lasse ihm den Vortritt im Bad und achte darauf, ihn nicht zu offensiv anzustarren, als er plötzlich nur in Boxershorts bekleidet mitten im Raum steht. Sein müdes, fast jungenhaftes Gesicht steht im Kontrast zu den Tattoos und den Muskeln, die sich unter seiner leicht gebräunten Haut abzeichnen.

Als ich an ihm vorbei ins Bad gehen möchte, greift er nach meinem Arm und hält mich zurück.
Er lächelt.
„Nur eine Übernachtung, okay?"

„Mist", rufe ich aus, denn ich würde niemals zugeben können, wie sehr mich seine Worte beruhigen. „Dabei hatte ich mir schon in aller Deutlichkeit ausgemalt, wie ich über dich herfalle."

Er zieht mich zu sich und mit nur einem holprigen Schritt stehe ich wieder so nah vor ihm wie im Aufzug. „Falls du diesen Frotteeschlafanzug trägst, lass ich mich vielleicht umstimmen."

Wir berühren uns nicht. Er liegt links, ich rechts, diese Matratze kommt mir auf einmal wahnsinnig schmal vor und meine Augen sind weit aufgerissen, weil sie versuchen, etwas Licht aus der Dunkelheit zu filtern.

Ich höre alles.

Harrys Atem, der stetig ruhiger wird. Die Decke, die immer dann raschelt, wenn er sich bewegt. Seine Hände, die über das Laken streichen. Dann bewegt er sich nicht mehr und ich höre nur noch seinen Atem.

Ich lasse einige Minuten vergehen, warte darauf, dass sein Atem ganz tief wird und ich sicher sein kann, dass er schläft, dann setze ich mich vorsichtig auf.

Ich bin erschöpft, aber mein Kopf ist brechend voll.

Durch einen Spalt im Vorhang erhasche ich einen Blick auf London bei Nacht, während ich nach meinem Notebook greife und es einschalte.

Wäre ich gewissenhaft, würde ich meine Schlaflosigkeit für die Dinge nutzen, die mein Verlag von mir sehen möchte. Aber ich bin schon immer unvernünftig gewesen und es sind die Geschehnisse des Abends, die mich letztlich nicht mehr loslassen und die sich, ganz selbstverständlich, in meinem Kopf zu Worten formen.

Das hier ist einer dieser Momente, die in letzter Zeit so selten, ja eigentlich nie, passiert sind. Ich muss nicht groß nachdenken, nicht konstruieren. Die Worte sind schon da, bevor ich sie bewusst hervorbringe. Ich tippe, bevor ich denke und das ist die schönste Art des Schreibens.

Ich habe gerade zwei Absätze geschrieben, als es neben mir raschelt und Harrys verschlafenes Gesicht zwischen den Kissen und der Decke auftaucht.

„Entschuldige, wenn ich dir zu laut bin kann ich rüber gehen."

Er schüttelt den Kopf und murmelt etwas, das ein bisschen wie „schon okay" klingt. Sein Blick wandert zwischen mir und dem Notebook hin und her. Im nächsten Moment rutscht er an mich heran, schließt damit die Lücke zwischen unseren Körper und schiebt seinen Arm um meine Taille. Sein Kopf lehnt auf meinem Bauch und ich bilde mir ein, seinen Geruch plötzlich überdeutlich in der Nase zu haben.

„Mach nur weiter", nuschelt er unter einem Gähnen und ich glaube, dass er höchstens halbwach ist. „Sei großartig. Mach großartige Dinge. Ich bin hier."

Ich lächle, auch wenn mir diese Geste einen bösen Stich versetzt. In einem anderen Leben, in dem davor, hatte ich genau diese Geste gebraucht und niemals bekommen. Und jetzt, meilenweit von meinem Leben und meinem Zuhause, meilenweit entfernt von dem Menschen, von dem ich immer ausging, dass ich das war, bekomme ich sie. Die kleine große Geste. Ungefragt und von einem Menschen, der bis vor kurzem keine Rolle in meinem Leben gespielt hat, außer dass sich einige seiner Songs in meiner Playlist befinden.

Ganz vorsichtig hebe ich eine Hand von der Tastatur und fahre über Harrys Haare. Er regt sich ein bisschen unter meiner Berührung, seufzt, wacht aber nicht nochmal auf.

Und plötzlich ist sie da. Als hätte sich ein Schalter umgelegt spüre ich diese Art von Müdigkeit, die sich sonst nur selten blicken lässt.

Ich klappe das Notebook zu, einfach so, mitten im Satz und ohne es anständig herunterzufahren, und stelle es zurück auf den Nachttisch. Harry bewegt sich nur minimal, als ich mich tiefer unter die Decke schiebe. Sein Griff um meine Taille lockert sich, so dass ich mich bequem hinlegen kann, er wird aber sofort wieder fest, als ich schließlich meine Position gefunden habe. Er rutscht an mich heran und weil mein Shirt verrutscht ist, spüre ich seinen nackten Bauch an meinem Rücken. Sein Kopf liegt auf meinem Kissen, direkt hinter meinem, und sein Atem streift immer wieder die Haut hinter meinem Ohr.

Ich bin eingeschlafen, noch bevor sich ein weiterer Gedanke in meinem Kopf gebildet hat.

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