Kapitel 17.

Ich will uns gerade zwei neue Pints an der Bar organisieren und eine Revanche verlangen, als Jack den Pub betritt. Er hält zielstrebig auf Harry zu, legt ihm eine Hand auf die Schulter und redet schnell auf ihn ein. Harry nickt ein paar Mal, dann blickt er auf und bedeutet mir mit einem Handzeichen, dass ich zu ihnen kommen soll.

„Was ist los?", frage ich ohne Umschweife. Man muss kein Genie sein, um zu merken, dass Harrys Stimmung von ausgelassen zu ernst umgeschlagen ist. Ich habe gerade noch genug Zeit, nach meiner Jacke und meiner Tasche zu greifen, bevor Harry meine Hand nimmt und mich ohne eine Antwort hinter sich und Jack herzieht. Jack sorgt dafür, dass wir ohne Schwierigkeiten aus dem Pub kommen und joggt die wenigen Meter bis zum Auto, um uns die Tür zu öffnen. Spätestens jetzt ist auch meine Ausgelassenheit in Hektik und Verwirrung umgeschlagen.

Harry lässt mir den Vortritt und eilt dann um das Auto herum, um auf der anderen Seite einzusteigen. Als er sich auf den Platz neben mir fallen lässt und die Tür zuzieht, mache ich keine Anstalten, mich anzuschnallen.

„Nochmal, was ist los?", frage ich, diesmal mit Nachdruck.

Er fährt sich mit einer Hand durch die Haare, mit der anderen hält er wieder meine Hand. Am Rande meiner Aufmerksamkeit bekomme ich mit, wie Jack einsteigt und den Wagen in den Verkehr einfädelt.

„Jemand hat ein Bild von uns in der Bar getwittert. Mit Ortsangabe."

Ich lasse mich in den Sitz sinken. Für einen Moment liegt mir so etwas wie ein „Na und?" auf den Lippen, doch im nächsten Moment wird mir erneut bewusst, mit wem ich hier eigentlich unterwegs bin. Hier geht es nicht um mich, sondern viel mehr um Harry, der mit mir unterwegs ist. Jetzt wird mir klar, warum Jack im Pub bloß mit Harry geredet hat und warum Harry darauf bedacht war, dass ich so schnell wie möglich im Auto sitze. Die beiden haben Routine. Sie wissen, mit diesen Situationen umzugehen. Ich wette keiner von beiden dachte als ersten Reflex: „Na und?"

Bevor ich antworten kann, meldet sich Jack vom Vordersitz.

„Auch, wenn so eine Flucht sehr spannend ist, ich muss Sie beide bitten, sich anzuschnallen. Nur für den Fall, dass wir gleich in eine Verfolgungsjagd geraten."

Er lächelt uns über den Rückspiegel hinweg an und nimmt dem Wort 'Verfolgungsjagd' damit seine Schärfe, trotzdem lösen Harry und ich unsere Hände voneinander, um nach den Anschnallgurten zu greifen. Wir werden fast gleichzeitig fertig, doch statt wieder nach der Hand des anderen zu greifen, legen wir sie nun zwischen uns auf den Sitz. Nah genug, dass sich unsere Finger fast berühren.

„Wäre es wirklich so schlimm? Wie viel Presse kann London schon auftreiben, spät abends und unter der Woche? Würde es nicht eine Weile dauern, bis überhaupt jemand das alles mitkriegt?" frage ich schließlich doch, nachdem wir einige Minuten schweigend verbracht haben und sich das flaue Gefühl in meinem Magen immer mehr verfestigt hat. Jack fährt gerade in die Straße unseres Hotels ein, als ich sie sehe.

Eine Antwort erübrigt sich damit, denn selbst spätabends und unter der Woche hat London offensichtlich eine verdammte Masse an Paparazzi zu bieten. Und sie alle lecken sich die Finger nach einer guten Story.

„Soll ich das Hotel anfahren, oder sollen wir ein paar Runden um den Block fahren und hoffen, dass sie in der Zwischenzeit verschwinden?", fragt Jack an Harry gewandt.

Harry zögert. Ich jedoch beuge mich nach vorne, bis mein Kopf auf Höhe von Jacks Rückenlehne ist, und funkle die Menschentraube, der wir uns langsam, aber sicher, nähern, böse an.

Wir hatten Spaß. Wir haben gelacht und diesen freien Abend genossen. Für ein paar Stunden konnten wir einfach wir selbst sein, heraustreten aus diesen Rollen, in denen wir tagsüber zwangsläufig feststecken. Ich hatte das erste Mal seit meiner Ankunft nicht das Gefühl gehabt, dass ich mich zurückhalten müsste und auch Harry hatte so wahnsinnig gelöst gewirkt.

„Am besten tauschen wir die Plätze, Jack", knurre ich leise. „Ich würde denen liebend gern über die Füße fahren."

„Bei aller Unterstützung, die du von meiner Seite hättest, Alex, würde ich dich diesen Wagen fahren lassen, würde ich Probleme mit der Versicherung bekommen und ich stehe echt auf dem Kriegsfuß mit Papierkram."

Ich spüre Harrys Hand auf der Schulter, die mich sanft zurück auf den Sitz zieht.

„Bleib hier hinten", sagt er leise. „Sie können uns höchstens durch die Frontscheibe fotografieren. Fahren Sie direkt zum Hotel, wahrscheinlich haben sie uns sowieso schon gesehen."

Als Jack die Paparazzi erreicht, die die Zufahrtsstraße zum Hotelparkplatz blockieren, kann ich nicht anders, als seine Engelsgeduld zu bewundern. Langsam und bedächtig lässt er den Wagen durch die Menschen, die nur widerwillig Platz machen, rollen und verzieht keine Miene, als das Blitzlichtgewitter losgeht. Dabei bekommt er da vorne am meisten davon ab. Ich höre sie rufen, kann jedoch keine einzelnen Worte ausmachen.

Harry versucht sein Gesicht so gut es geht mit einem Arm abzuschirmen und drängt sich so weit wie möglich in seine Ecke der Rückbank. Weil ich es nicht besser weiß und blind darauf vertraue, dass er sich in einer solchen Situation sicherlich angemessen verhält, imitiere ich sein Verhalten auf meiner Seite der Rückbank.

Es dauert, bis wir schließlich das Parkplatztor erreichen und Jack uns mithilfe eines kleinen Plastikausweises Zugang zum Parkplatz verschafft. Bedächtig schwingt das Tor vor uns auf, doch obwohl es ausreichend Gelegenheit dazu gibt, folgen sie uns nicht.

„Der Parkplatz gehört zum Hotel, sie machen sich strafbar, wenn sie das Gelände unbefugt betreten", erklärt Jack, als hätte er meine Gedanken gelesen.

Ich habe noch immer einen riesigen Klumpen Wut im Bauch. In meinem Leben kommt es hin und wieder vor, dass mich jemand fotografiert, wenn ich privat unterwegs bin. Ich wurde schon einige Male unvorteilhaft abgelichtet und fand am nächsten Tag einen Bericht darüber, dass ich schon wieder verkatert und wie ein Sack Kartoffeln in einem Biergarten gesessen habe, obwohl ich an dem Tag einfach nur vergessen hatte, meine Allergietabletten zu nehmen und dementsprechend fertig aussah.

Jedoch übertrifft die Szenerie vor dem Hotel alles, was ich bisher erlebt habe und sie übertrifft vor allem auch alles, was ich mir je hätte ausmalen können.

Und, dieser Umstand wird mir schlagartig bewusst, es ist für Harry nicht neu. Im Gegenteil, er nimmt das Ganze mit so viel pragmatischer Ruhe, dass man das Gefühl bekommt, er hätte einfach irgendwann vor diesen Menschen kapituliert.

Jack parkt den Wagen so weit wie möglich am Seiteneingang des Hotels, ein paar Meter Fußweg bleiben uns aber immer noch bis zur Tür.

Um nicht quer über die Rückbank klettern zu müssen – auch wenn man von Harrys Tür den kürzeren Weg zum Hotel hat -, öffne ich die Tür auf meiner Seite des Autos und erst jetzt wird mir klar, wie laut diese Menschen sind. Sie sind nicht einfach nur da, eine physikalische Wand aus Körpern, sondern sie machen mit allen verfügbaren Mitteln auf sich aufmerksam.

Sobald ich einen Fuß aus dem Auto setze, fangen sie an, wild durcheinander zu rufen, so dass ich nur einzelne Wortfetzen verstehen kann. Ich bin kaum ausgestiegen, als Jack bereits neben mir auftaucht.

„Keine Sorge, ich bringe Sie beide noch rein", sagt er und macht Anstalten, mich um das Auto herum zu lotsen, doch in dem Moment passiert, was viel zu oft passiert, wenn mich etwas wahnsinnig wütend macht.

Ehe mich Jack oder Harry zurückhalten können, ehe mein eigener Verstand mich hätte zurückhalten können, habe ich mich von dem Auto gelöst und trete aus dem Schatten des Parkplatzes heraus auf die wartende Masse zu. Sofort klicken alle Kameras und das Blitzlicht taucht mich in ein unangenehmes Flackern.

Wut hatte schon immer die Angewohnheit, mich leichtsinniger sein zu lassen, als ich es wirklich bin. Und wenn sich dazu das Gefühl der Ungerechtigkeit mischt, verliere ich die Fähigkeit, klar zu denken. Ich halte mich nicht mehr zurück und ich senke auch nicht mehr den Blick, weil mir die Situation unangenehm ist.

Als ich so nah bei den Paparazzi stehe, dass ich mir sicher sein kann, dass sie mich richtig hören und vor allem sehen, bleibe ich stehen und baue mich vor ihnen auf. Irgendwo hinter der Wut ist mir bewusst, dass viel zu viele Kameras diesen kleinen Ausfall meinerseits dokumentieren. Dass ich das sicherlich bereuen würde und dass das hier die absolut falsche Art ist, damit umzugehen. Vorerst ist mir das jedoch egal.

„Ziemliche Arschlochaktion!", rufe ich, laut genug, dass meine Worte dort ankommen, wo sie hinsollen. „Geht nach Hause zu euren Familien, euren Katzen oder eurem scheiß Fernseher und hört auf, anderen Leuten den Abend zu versauen."

Das allein würde reichen, um Jessica morgen auf die Palme zu bringen, denn es gehört zu den Dingen, die eine Autorin mit Vorbildfunktion nicht sagt. Aber da ich jetzt sowieso schon aus meiner Rolle gefallen bin, toppe ich meinen verbalen Ausrutscher, indem ich meinen Mittelfinger hebe und ihn den Paparazzi entgegenstrecke. Dieser Mittelfinger ist, glaubt man der deutschen Presse, mein Markenzeichen.

Die Botschaft ist simpel und eindeutig: Fickt euch.

Ich verharre vielleicht zwei Sekunden so, dann drehe ich mich um und gehe zurück zum Auto. Als ich zu Harry aufgeschlossen habe, schiebt uns Jack zusammen in Richtung des Hoteleingangs. Er flucht leise. Harry sagt gar nichts.

Erst als wir im Aufzug stehen, sicher vor etwaigen Kameras, atmet er tief durch und schüttelt den Kopf. Ein ganz kleines Lächeln hat sich auf seine Lippen gelegt.

Ich verziehe das Gesicht. „Wie ich bereits sagte, ich habe beim Pressetraining nicht aufgepasst."

Er antwortet nicht. Zumindest nicht so, wie ich es erwartet hätte. Statt Worte zu formen überbrückt er die zwei Schritte zwischen uns. Statt etwas zu sagen, legt der seine Hände links und rechts an mein Gesicht. Sein rechter Daumen fährt die Kontur meiner Lippen nach, als wolle er den Weg meiner Worte beschreiben.

Als er sich vorbeugt, um mich zu küssen, habe ich längst aufgehört zu atmen.

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