Kapitel 11.

Die Buchhandlung, in der das Event stattfinden soll, und die Jessica in ihrer E-Mail als „typisch britisch" beschrieben hat, entpuppt sich als Paradies auf Erden. Rosie, eine der Eigentümerinnen, führt mich durch die beiden Etagen und erzählt mir, dass sie die Buchhandlung vor zehn Jahren zusammen mit ihren zwei besten Freundinnen aus dem Nichts heraus aufgebaut hat. Es war kein Geschäft, das sie alle drei reich machen würde, dafür aber ein Herzensprojekt, und genau das spürt man schon beim Betreten. Neben all der Neuerscheinungen gibt es einen Bereich mit gebrauchten Büchern und Antiquitäten. Überall stehen nicht zusammenpassende, teilweise stark zerschlissene Lesesessel und beide Etagen sind so verwinkelt, dass ich das Gefühl habe, immer wieder neue Ecken zu entdecken.

Ehe ich mich zurückhalten kann, liegen einige Bücher und Lesezeichen in meinem Arm. Rosie schmunzelt, als ich ein Regal mit gebrauchten Kriminalromanen mit Londoner Bezug durchsehe.

„Haben Sie mal in einer Buchhandlung gearbeitet?"

Ich halte in meiner Bewegung inne, betrachte meine Finger und muss ebenfalls schmunzeln. Ohne mir dessen bewusst zu sein, habe ich die Bücher bis an die Kante des Regals geschoben; die Bücher in der Auslage habe ich im Vorbeigehen so ausgerichtet, dass die alle parallel zueinander liegen.

„Erwischt", sage ich und lege ein weiteres Buch auf den Stapel in meinem Arm. „Es war nur ein kleiner Nebenjob für etwas mehr als ein Jahr, aber manche Dinge gehen einem so in Fleisch und Blut über, dass man sie scheinbar nicht mehr ablegt."

Das Ambiente beruhigt mich. Buchhandlungen waren schon immer ein Ort, an den ich mich zurückziehen und in dem ich stundenlang verschwinden konnte. Rosie und ihre Kolleginnen haben das Event mit so viel Liebe zum Detail geplant und ausgerichtet, dass ich mich von der ersten Sekunde an wohlfühlen kann.

Es gibt kein helles, kühles Licht, sondern mehrere indirekte Lichtquellen, die die obere Etage in warmes, heimeliges Licht tauchen. Die Stühle stehen nicht so dicht nebeneinander, dass man sich gegenseitig auf dem Schoß sitzt und an einer der langen Wände steht eine Art kleines Buffett mit Kaffee, Tee und Gebäck. Es riecht nach Büchern und Kaffee und ich erwische mich dabei, dass ich mich auf die kommenden zwei Stunden freue.

Die Presseleute lassen sich an einer Hand abzählen und entgegen meiner Erwartung sind sie ausgesprochen höflich und zurückhaltend. Nachdem sie mich begrüßt und einige Fragen zum Ablauf gestellt haben, nehme ich sie gar nicht mehr so richtig wahr und in dem Moment, in dem Rosie die Türen für die Leser öffnet, gleicht alles viel mehr einem Zusammentreffen von Menschen mit den gleichen Interessen, als einer offiziellen Veranstaltung.

Ich habe mir einen Kräutertee genommen und vor Kopf der Stuhlreihen Platz genommen. Es ist das klassische Arrangement einer Lesung, aber weil sich alle mit Getränken eindecken und entspannt miteinander plaudern, fühle ich keinen Druck, eine gewisse Leistung abzuliefern. Stattdessen bin ich gespannt auf den Austausch.

Es kommt mir immer noch seltsam vor auf dieser Seite des Raumes Platz zu nehmen, denn vor nicht allzu langer Zeit habe ich auf der anderen Seite gesessen, oftmals gar nicht so sehr wegen der Lesung an sich, sondern wegen der Chance, vielleicht einen Rat abzufangen, zu connecten oder einfach im Schreibprozess nicht nur einsam hinter meinem Laptop zu sitzen.

Gerade, als ich das Wort ergreifen und die Veranstaltung eröffnen möchte, schiebt sich Evelyns Kopf durch den Aufgang der Wendeltreppe. Sie grinst entschuldigend und huscht zu einem der Plätze in der letzten Reihe. Hinter ihr, und eigentlich sollte mich das nicht überraschen, geschweige denn nervös machen, erscheint Harry. Er zwinkert, bevor er sich auf den Stuhl neben Evelyn setzt.

Ein Raunen geht durch die Anwesenden, beinah alle Köpfe drehen sich zu den beiden um und die Fotografen beginnen sofort mit ihrer Arbeit.

Ich verstecke mein Grinsen, indem ich einen tiefen Schluck aus meiner Tasse nehme und lasse allen einen Moment, das Auftauchen der beiden zu verarbeiten. Tatsächlich bin ich ein bisschen erleichtert darüber, dass kein Tumult oder ähnliches ausgebrochen ist. Es fällt mir immer noch schwer, die Reaktion der Presse abzuschätzen.

„Hi", sage ich schließlich und im Raum kehrt automatisch Ruhe ein. Alle Augen sind auf mich gerichtet und noch unterdrücke ich den Impuls, meine Frisur zu richten. „Ich kann alle nur herzlichst willkommen heißen und mich bei Rosie und ihren Kolleginnen dafür bedanken, dass sie mich eingeladen haben. Decken Sie sich bitte alle mit Getränken und Gebäck ein, die Scones sehen hervorragend aus!"

Milder Applaus macht die Runde und ich warte einen Moment, bevor ich weiterrede.

„Außerdem, ich weiß, eigentlich hat es bereits jeder bemerkt, heiße ich Evelyn und Harry alias Amy und Noah willkommen. Vielen Dank, dass ihr einen Großteil der Aufmerksamkeit auf euch lenkt, das macht es mir sehr viel einfacher."

Der Applaus ist deutlich euphorischer. Evelyn und Harry heben die Hand zum Gruß und deuten schließlich lachend auf mich, um anzuzeigen, dass es letztlich doch eher um mich gehen sollte statt um sie.

„Ich hab mir für heute was überlegt: normalerweise habe ich einen Lesungsablauf und lese immer die Kapitel, die für die Story besonders wichtig sind. Ich dachte, heute machen wir das ein bisschen anders und ich lese nicht ganze Kapitel, sondern einzelne Abschnitte, die mir besonders wichtig sind. Oder mich besonders nerven, oder die ich heute ganz anders schreiben würde, und wir quatschen darüber. Oder", jetzt streiche ich mir doch durch die Haare. „Vielleicht habt ihr auch einzelne Stellen, die ihr gern bereden wollen würdet. Ihr habt die Möglichkeit, mich heute mit allem zu bombardieren, was euch so einfällt."

Seit ich mit meinem Buch unterwegs bin, sind zwei Stunden niemals derart schnell rum gegangen. Wir reden über alles, was uns in den Sinn kommt, angefangen von meiner Inspiration zu dem Buch bis hin dazu, wie man sein Manuskript am besten bei einem Verlag unterkriegt und wie wahnsinnig frustrierend das fehlende Echo ist, sobald man sein Geschriebenes, auf welche Art auch immer, in die Welt hinausträgt. Ich erzähle Anekdoten davon, wie ich versucht habe, in meinem Kleiderschrank, unter meiner Bettdecke, ein Hörbuch aufzunehmen und dabei fürchterlich gescheitert bin. Dass ich immer wahnsinnig neidisch auf jene Autoren war, die einfach mal eben so entdeckt wurden, einfach weil sie gerade in den Zeitgeist passten und dass ich, als ich erfahren habe, dass »3 am« gedruckt wird, nicht hatte aufhören können zu heulen.

Als Rosie die letzte Frage ankündigt fällt mein Blick vollkommen verwirrt auf die kleine Uhr gegenüber von meinem Platz. Tatsächlich haben wir die Zeit schon überzogen.

Ein Mädchen in der ersten Reihe meldet sich. Die Art, wie sie heute jedes meiner Worte verfolgt hat, wie sie mich mit wachen, aufmerksamen Augen ansieht, erinnert mich stark an mich selbst, als ich noch auf der anderen Seite gesessen habe.

„Warum kein Happy End? Ich weiß nicht, wie es den anderen geht, aber ich hatte bis zum Schluss das Gefühl, als müsste es ein Happy End geben, als gehörten diese beiden Menschen zusammen."

Der bittere Teil in mir regt sich: weil das Leben nicht nur aus Regenbögen und Schmetterlingen besteht und Liebe fürchterlich schief gehen kann, selbst wenn man alles tut, um das zu verhindern. Aber das sage ich nicht.

„Ehrlich gesagt hätte ich den beiden ihr Happy End gegönnt, auch wenn das komisch klingt, immerhin hab ich sie ins Verderben gestürzt", ich lächle. „Ich denke, ich wollte eine schöne Geschichte schreiben, die nicht gut endet. Wir haben genug Bücher, an deren Ende Hochzeit und Kinder und ewiges Glück steht, aber es gibt eben auch diese wunderschönen Geschichten, die nicht so enden. Das macht sie nicht weniger schön, man scheint sie nur ignorieren zu wollen, weil sie eben nicht so ausgehen, wie man es sich vielleicht wünscht."

In der Reihe derer, die sich ihr Buch signieren lassen wollen, ist sie schließlich die letzte. Ihre Finger zittern leicht, als sie mir ihre Ausgabe gibt.

„Sei bitte nicht nervös", sage ich und lächle sie an. „Als ich heute Morgen wach geworden bin, hab ich mir, beim Versuch mich aus der Bettdecke zu befreien, einen Kinnhaken verpasst. Ich bin also wirklich nicht die Art Mensch, die andere nervös machen sollte."

Sie erwidert mein Lächeln und verrät mir, dass sie Charlie heißt. „Vielen, vielen Dank für all die Tipps. Normalerweise halten sich alle immer so bedeckt was das alles angeht."

Ich nicke. „Du glaubst gar nicht, wie sehr mich das immer genervt hat. Als wäre das hier alles ein Staatsgeheimnis. Schreibst du auch?"

„Ja", sie verzieht das Gesicht. „Aber es ist schwierig, weil meine Eltern und Freunde und alle meinen, ich soll was Richtiges machen."

Sie setzt das 'Richtige' in Anführungszeichen und verdreht die Augen. Ich halte inne, bevor ich ihr ihre Ausgabe zurückgebe und ziehe meinen Terminkalender heran.
„Du schreibst doch sicherlich online irgendwo, oder? Schreib mir die Plattform und deinen Usernamen auf. Ich guck mir deine Sachen an."

Sie starrt mich an, als hätte ich ihr gerade offenbart, dass ich das Geheimnis des ewigen Lebens kennen würde. Ich grinse. „Nicht vergessen, ich bin die Frau, die sich selbst fast k.o. geschlagen hat."

Das Zittern ist wieder da, als sie mit meinem Kugelschreiber einen Usernamen in die Spalte des heutigen Datums schreibt. Ich habe sowas noch nie gemacht und Jessica hat mir mehr als einmal davon abgeraten, weil sich so etwas rumsprechen würde und dann hätte ich keine Ruhe mehr. Aber Jessica ist nicht hier und da ich im Moment sowieso nicht schreiben kann, kann ich zumindest lesen und das wenige Wissen, das ich habe, teilen.

„Lass dir von niemandem einreden, du solltest das nicht tun, ja?", sage ich, als ich ihr das Buch zurückgebe. „Sei mutig genug, genau das zu tun, was dich glücklich macht."

Harry tritt an den Tisch als alle gegangen sind und reicht mir eine zerlesene Ausgabe. „Evelyn hätte gern eine Widmung. Sie wäre selbst gekommen, aber sie musste kurz raus, telefonieren."
Als ich ihm Evelyns Ausgabe zurück gebe, legt er mir eine weitere, druckfrische, vor. „Und ich hätte auch gern eine Widmung."
Ich muss unweigerlich lachen. „Euch ist schon klar, dass wir uns täglich am Set sehen und ich euch da alles hätte unterschreiben können?"
Harry zuckt die Schultern. „Ist nicht das gleiche, Frau Autorin."

Ich schreibe ihm eine Widmung auf die erste Seite, von der ich hoffe, dass er sie nicht liest, während ich anwesend bin. Gerade, als ich meine Unterschrift daruntersetze, ergreift er wieder das Wort.

„Das war ziemlich cool, was du zu dem Mädchen gesagt hast. Und überhaupt, du hast heute allen gesagt, dass sie ihr Ding durchziehen sollen und bloß nicht auf andere hören sollen. Ich glaube, du hast hier heute einigen echt Mut gemacht."

Ich zucke die Schultern, als ich ihm sein Buch zurückgebe und darauf achte, dass er es nicht aufschlägt. „Ich hab nicht vergessen wie es ist, auf der Seite des Tisches zu sitzen. Und wenn ich eines damals gebraucht hätte, dann jemanden, der mir Mut macht."

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