Kapitel 1.

Ich bin niemand, der in ein Flugzeug steigt und nach dem Flug noch annähernd so geordnet aussieht, wie beim Betreten des Fliegers. Im Gegenteil.
Während all meiner Flugreisen habe ich es niemals geschafft, eine halbwegs angenehme Sitzposition zu finden, was regelmäßig dazu führt, dass mein Nacken steif wird. Die klimatisierte Luft entzieht meiner Haut jede Feuchtigkeit, mein Make-up setzt sich in Lid- und Lachfalten ab und meine Wimperntusche bröselt scheinbar innerhalb der ersten Minuten von meinen Wimpern. Wenn ich Glück habe, wische ich mir im Laufe des Flugs mit meinem Ärmel über das Gesicht, um das unangenehme Gefühl loszuwerden und verlängere damit meinen Lidstrich bis hinter meinen Haaransatz. Außerdem stellt die Luft irgendwas mit meinen Haaren an, so dass sie sich, egal wie gepflegt sie am Morgen im Spiegel noch aussahen, am Ende der Reise zu störrischen, widerspenstigen Locken gemausert haben.

Der Flugbegleiter, der mir beim Betreten des Flugzeuges schon erklärt hat, wo ich meinen Platz finden würde, fragt mich, ob ich später ein Sandwich mit Schinken oder Käse haben möchte.
„Weder noch", gebe ich zurück und rutsche in meinem Sitz von links nach rechts. „Aber könnte ich einen doppelten Wodka bekommen? Ohne Eis?"
„Selbstverständlich", sagt er, deutet eine Verbeugung an und eilt auf den Vorhang zu, hinter dem er eben erst hervorgekommen ist.

Ich seufze. Es ist nicht das Fliegen, weswegen ich mir Mut antrinken muss. Tatsächlich, abgesehen von dem desolaten Zustand, in den es mich versetzt, mag ich Fliegen sehr. Es ist das Ankommen, das mir dieses Mal Kopfzerbrechen bereitet und weswegen ich den Drink mit einem dankbaren Lächeln annehme. Die letzten Monate meines Lebens waren, um es milde auszudrücken, turbulent, und die nächsten Wochen würden dem Ganzen nochmal die Krone aufsetzen. Alles würde heute beginnen, und zwar ziemlich genau in dem Moment, in dem dieses Flugzeug am Heathrow Airport landen würde.

Ich bin viel zu aufgeregt. In mir wütet eine Nervosität, die ich so noch nie in meinem Leben verspürt habe und die mich dazu veranlasst, einen großen Schluck Wodka zu trinken. Ich verziehe das Gesicht, als sich der Alkohol seinen Weg in meinen Magen brennt, entspanne mich jedoch ein bisschen, als das Brennen von alkoholtypischer Wärme abgelöst wird. Hätte man mir vorhergesagt, dass sich mein Leben gleich mehrere Male um 180° wenden würde, dann hätte ich mir vielleicht zwei Mal überlegt, ob ich diesen Weg einschlagen wollen würde.

Alles hatte mit diesem Buch begonnen. Mein erstes. Es war kein Zufallsprodukt, keine glückliche Fügung. Ich wurde nicht zufällig auf der Straße von jemandem entdeckt, der mir mein Talent an der Nasenspitze ansah, ich hatte hart dafür gearbeitet.
Jahrelang hatte ich Beiträge für Literaturwettbewerbe geschrieben, hatte mich Literaturmagazinen vor die Füße geworfen und hatte vermutlich keine Gelegenheit ausgelassen, mein Geschriebenes an den Mann zu bringen. Die Absagen hatte ich im Laufe der Zeit in einer Kiste unter meinem Bett gesammelt, für die Veröffentlichungen reichte eine kurze Liste an meiner Pinnwand.
Ich gehörte schlichtweg nicht zu denen, die jedes Wochenende auf einem anderen Poetry Slam poetisch von den Ängsten und Wünschen ihres Lebens erzählten und sich dabei eine seltsame Silbenbetonung aneigneten. Stattdessen hatte ich mir in den Kopf gesetzt, einen ernsthafteren Weg einzuschlagen, der mich viel öfter verzweifeln ließ, als dass er mich glücklich machte. Tagsüber ging ich zur Schule, zur Universität, zur Arbeit; nachts schrieb ich.
Gerade in den letzten Jahren, als ich das Gefühl bekam, mir würde langsam, aber sicher die Zeit davonlaufen, schrieb ich immer mehr und wusste manchmal selbst nicht, wann ich noch Zeit finden würde, um ein paar Stunden zu schlafen.
In einem meiner ersten Interviews hatte man mich gefragt, was ich mir für die Zeit danach vorgenommen hatte, wenn alle Presseevents und Lesungen vorbei waren und ich einfach mal freie Zeit haben würde.
„Ich plane, eine Woche lang durchgehend zu schlafen" hatte ich trocken erwidert und alle Anwesenden hatten gelacht.

Bisher hatte es diese Woche nicht gegeben.

Ein Ruck geht durch das Flugzeug und reißt mich aus meinen Gedanken. Von mir unbemerkt hat sich ein Mann in Anzug zu mir in die Reihe gesetzt. Er lächelt mir verhalten zu, als er meinen verwirrten Blick bemerkt.
„Mich schläfern diese Sicherheitsanweisungen auch immer ein", sagt er.
Ich erwidere sein Lächeln und nicke. „Noch ein paar Flüge mehr und ich steh da vorne und kann das Programm durchziehen."
„Aber bitte reden Sie dabei genauso furchtbar monoton. Sonst hört Ihnen noch jemand zu."
„Glauben Sie mir, ich werde alle mit meiner Performance einschläfern. Dann wird es ein entspannter Flug ohne viel Arbeit."
Er lacht als ich mich von ihm abwende und aus dem Fenster blicke.

Die Landebahn zieht immer schneller an uns vorbei. Die Starts mag ich am meisten. Ich liebe es, wenn das Flugzeug immer schneller wird und ich das Gefühl bekomme, ich müsste mich mit ihm anspannen, damit wir abheben würden. Jedes einzelne Mal gibt es diesen kleinen Moment, in dem ich denke, dass wir es nicht schaffen, als würde das Flugzeug rollen und rollen und irgendwann einfach langsamer werden und wieder zum Stillstand kommen. Doch jedes Mal heben wir wieder ab, in dem Moment, in dem ich es am wenigsten erwarte. Ich entspanne mich in meinem Sitz und nippe erneut an meinem Drink.

„Arbeit oder Vergnügen?"
Offenbar hat der Mann neben mir unsere Konversation noch nicht aufgegeben.
Eigentlich bin ich keine großer Rednerin. Tatsächlich habe ich sogar mein Notebook in der Handtasche und den festen Plan im Kopf, zumindest ein bisschen Arbeit geschafft zu kriegen. Andersrum: es liegen eineinhalb Stunden Flug vor mir und wenn ich fünf Minuten davon mit Reden verbringe, wird das meinen Durchschnitt kaum versauen.
„Primär Arbeit. Allerdings bereitet sie mir Vergnügen, von daher sage ich: beides. Und Sie?"
„Ich lebe und arbeite in London. Also würde ich sagen: ebenfalls beides", er verzieht das Gesicht ein bisschen, so dass sein Lächeln gequält aussieht. „Nur hab ich heute ein langweiliges Meeting nach dem anderen. Heute ist es also Arbeit."
Ich überlege kurz, ob ich meine Antwort vielleicht auch noch mal spezifizieren möchte, aber ich habe keine Ahnung, wie ich das, was mich erwartet, auf einen, höchstens zwei, Sätze herunterbrechen könnte, ohne dass es so wirkt, als würde ich versuchen, ihm zu imponieren.

Denn der Umstand ist der: ich habe dieses Buch geschrieben. Und nachdem ich jahrelang an sämtliche Türen geklopft hatte, hat mir endlich jemand geöffnet. Eh ich mich versah, ging ich Anmerkungen durch, die mir meine Lektorin zu praktisch jedem Satz meines Manuskripts gemacht hatte. Ich rechnete damit, dass das Aufregendste an der Sache werden würde, dass ich mein eigenes Buch irgendwann im Regal oder zumindest auf dem Grabbeltisch eines Buchladens finden würde. Dass ich damit meilenweit verkehrt gelegen hatte, beweist der Umstand, dass ich auf dem Weg in ein Filmstudio in London bin, in dem mein Buch verfilmt werden soll. Und dass die Nervosität, jedes Mal, wenn mir dieser Fakt bewusstwird, wie eine Welle über meinem Kopf zusammenschlägt.

Mein Sitznachbar hat sich mittlerweile seiner Tageszeitung zugewendet, so dass ich ohne schlechtes Gewissen mein Notebook hervorziehen kann. Ich habe mir vorgenommen, einige längere E-Mails vorzuschreiben, so dass ich sie später ganz einfach per Copy and Paste beantworten kann. Außerdem habe ich von einem österreichischen Magazin einige Interviewfragen zugeschickt bekommen. Zwar erwarten sie meine Antworten erst zum Ende der Woche, da ich jedoch keine Ahnung habe, wie sich meine Woche nach der Ankunft in London gestalten wird, wollte ich vorsorgen.
Ich öffne mein Schreibprogramm und die Datei mit den einzelnen E-Mails und schaffe es tatsächlich, die wichtigsten E-Mail-Antworten herunter zu tippen. Mit einem Blick auf die Uhr verlässt mich meine Konzentration jedoch schlagartig. Ein weiterer Blick auf die Monitore vor uns bestätigt meine Befürchtung: ich habe sehr viel länger für diese E-Mails gebraucht, als ich dachte. Wir würden in weniger als dreißig Minuten landen.

Die Nervosität ist wieder da. Nur, dass es diesmal keine Nervosität ist, sondern Angst, die ihre eiskalten Finger um mein Rückgrat legt. Ich presse mich in den Sitz, meine Finger verharren über der Tastatur und ich suche verzweifelt nach einem Gedanken, der mich beruhigen könnte. Es ist so wahnsinnig viel passiert, ohne dass ich auch nur eine freie Minute hatte, um das alles zu realisieren, und jetzt bin ich auf dem Weg zum nächsten, großen Schritt, und in all der Aufregung und dem Trubel und der Freude über den Erfolg meines Buches ist mir eine Sache entgangen: ich bin nicht bereit. Ich fühle mich nicht wie jemand, der nach London fliegt und in ein Filmstudio fährt; Menschen berät, die sehr viel mehr Ahnung von ihrem Job haben als ich und, obendrein, all diese Menschen trifft, für die dieses Leben, an das ich mich nur schwer gewöhne, absolute Normalität ist.

„Alles okay?"
Ich schlucke trocken und versuche zu nicken, mein Kopf schüttelt sich aber ganz automatisch. „Mir ist gerade bewusst geworden, was mein Job ist. Und jetzt habe ich Panik."
Mein Sitznachbar brummt leise. „Oh, das passiert mir ungefähr zehn Mal am Tag. Und noch öfter, wenn wir ein neues Produkt auf den Markt bringen."
Ich hebe meinen Blick und bin ein bisschen überrascht diese Worte von einem Mittfünfziger in einem teuren Anzug zu hören.
„Nun schauen Sie nicht so, ich glaube, wir haben alle hin und wieder mal Panik. Ich hoffe allerdings für uns, dass der Pilot dieses Flugzeugs die Ausnahme ist."
Er entlockt mir tatsächlich ein Schmunzeln. Mit einem Kopfnicken deutet er auf den Rest meines Wodkas.
„Trinken Sie den aus. Atmen Sie durch. Sofern Sie nicht auf dem Weg sind, ein Herz zu transplantieren, ist es fast schon egal, ob sie brillieren oder nicht. Es gibt einen Grund, warum sie diesen Job machen sollen. Unsicherheit im Auge der Herausforderung ist normal, und nach viel zu vielen Jahren Berufserfahrung kann ich Ihnen nur einen Rat mitgeben: Augen zu und durch."

Ich nicke und befolge seinen Rat, indem ich nach meinem Drink greife und den letzten Schluck auf Ex trinke. Ich schließe die Augen, und atme ein Mal, zwei Mal, drei Mal tief durch. Und gerade, als ich die Augen wieder öffne, knacken die Lautsprecher des Flugzeugs.

"Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Passagiere, bitte beachten Sie, dass wir in wenigen Minuten mit unserem Landeanflug auf London Heathrow beginnen. Die Ankunftszeit beträgt voraussichtlich 12:00 Uhr Ortszeit. Bitte bringen Sie Ihre Sitze in eine aufrechte Position und klappen Sie Ihre Tische hoch. Im Namen all meiner Kollegen bedanke ich mich bei Ihnen für Ihr Vertrauen in unsere Airline. Bitte bleiben Sie solange angeschnallt sitzen, bis die Anschnallzeichen über Ihnen erloschen sind. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt und hoffen, Sie bald wieder an Board unserer Airline begrüßen zu dürfen."

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