8.

279 Tage

„Ich denke du wirst doch nicht solange Single bleiben", murmelte Grayson lächelnd vor sich hin und stopfte sich sein letztes Sandwich-Stück in den Mund.

„Was soll das heißen?", runzelte ich seine Stirn und bereitete währenddessen eine Bestellung vor. „Ich habe doch ganz normal – total normal, mit ihm Zeit verbracht. Vielleicht werden wir ja noch beste Freunde?", grinste ich Grayson an, denn ich wusste so etwas würde ihm überhaupt nicht passen.

„Ha ha", schenkte er mir ein falsches Lächeln und fuhr mit vollem Mund fort: „Meinen Platz nimmt keiner ein und das weißt du."

„Wenn du mich weiterhin für deine so tolle Freundin versetzt, dann schneller als du denkst", schenkte nun ich ihm ein falsches Lächeln und nahm die Teller in meine Hände. Während ich um die Theke ging, behielt ich den Augenkontakt mit Grayson. Ich machte mich auf den Weg zu Tisch fünfzehn und bediente die Kunden, danach nahm ich eine neue Bestellung auf und ging wieder zurück hinter der Theke.

„Ach komm schon", seufzte er und sah mich an. „Ich habe mich doch schon dafür entschuldigt. Jane wollte unbedingt zur Party! Wir haben dich doch auch gefragt ob du mitkommen möchtest", verteidigte sich nun mein bester Freund.

„Oh ja? Damit ich wie immer das fünfte Rad am Waagen spielen darf? Danke ich verzichte", lachte ich nun, weil er meinen Satz viel zu ernst nahm. „Du weißt ich mache nur Spaß. Ich wollte so oder so alleine sein."

„So ganz alleine warst du aber nicht", grinste er mich nun dreckig an worauf ich ihm einen wütenden Blick zu warf. „Ave, komm schon. Das würde doch perfekt passen! Genau dein Beuteschema – groß, gutgebaut, sportlich und ganz wichtig, ein Freund von deinem Bruder!"

„Oh Grayson, fahr zur Hölle", warf ich ihm erneut denselben Blick zu doch fing nach wenigen Sekunden an zu lachen. „Es war einfach nett mit einem Gleichgesinnten Zeit zu verbringen."

Mein bester Freund runzelte die Stirn und sah mich fragend an: „Gleichgesinnt? Ich dachte wir wären hier die Seelenverwandten." Er griff sich auf sein Herz und tat auf verletzt.

Ich rollte meine Augen und tippte di eBestellung in die Kasse ein. „Du weißt was ich meine", schmunzelte ich über Grayson's kindische Art. „Es war einfach nett."

„Nett", nickte mich Grayson lächelnd an. Irgendetwas ging ihm durch den Kopf, während er mich anstarrte und noch immer leicht grinste.

„Ja nett?", kam eher wie eine Frage aus meinem Mund.

„Ich verstehe", besaß er noch immer dasselbe Lächeln auf seinen Lippen.

„Fahr zur Hölle!", lachte ich nun laut und schoss ihn mit einem Tuch ab, danach drehte ich mich um und ging in die kleine Küche, wo bereits John die Bestellungen anrichtete. Ich erzählte Grayson nicht Alles – ich verschwieg ihm die Sache mit dem Songtext. Irgendwie wollte ich ihm nicht davon erzählen, weil – nun ja ich wusste selber nicht genau wieso! Grayson würde dies wieder total anders interpretieren und eine große Sache daraus machen.

....

278 Tage

„Hey Mom", schnappte ich mir ein Karotten-Stück vom Schneidebrett, welches vor meiner Mutter lag und gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Riecht echt toll!", machte ich ihr ein Kompliment, während ich einen Biss von der Karotte nahm und in den Ofen sah.

„Oh ja Mom, ich verhungere!", meinte Grayson und drückte meine Mutter ebenfalls einen Kuss auf die Wange. „Mir ist letztens aufgefallen, dass ich tatsächlich öfters hier esse, als bei mir zuhause", fing er an zu lachen und machte sich auf den Weg zum Kühlschrank und holte sich eine Dose Cola heraus.

Meine Mutter lachte und sah zu meinem besten Freund: „Kannst du bitte diese Tüten mit zu dir nehmen? Deine echte Mom hat mich darum gebeten für sie Einkaufen zu gehen." Das ganze Gemüse tat sie in einen Topf und sah dann mit demselben Lächeln zu mir. Unter ihren Augen sah ich die tiefen Augenringe –während Grayson's Mutter nur Teilzeit in einem Unternehmen beschäftigt war, arbeitete meine Mutter Vollzeit in einer Fabrik um uns diesen Lebensstandard finanzieren zu können. Grayson's Mutter war trotzdem eine schwerbeschäftigte Frau. Sie arbeitete ehrenamtlich in diversen Orten und war sehr involviert in unserer Stadt. Mein bester Freund bekam nie wirklich die Aufmerksamkeit seiner Eltern, die er brauchte. Weswegen meine Mutter und ich denken, dass er diese bei meiner Mutter suchte. Mom hatte nie etwas dagegen ab und an ein weiteres Kind im Hause zu haben, denn seit Anfang an liebte sie Grayson wie ihren eigenen Sohn. 

„Hast du geschlafen?", fragte ich nun meine Mutter besorgt. „Du hast doch heute deinen freien Tag – du hättest wirklich nicht für uns kochen müssen. Wir hätten uns Etwas von John's holen können!"

Meine Mutter rollte die Augen und lächelte mich an. „Ich habe wirklich versucht einen Mittagsschlaf zu machen – doch du kennst mich Ave! Ich kann nicht still halten und ich wusste, dass Grayson hungrig sein wird!", sie rührte das Gemüse um und fragte: „Wie war euer Tag? Wie waren die Kinder?"

Heutzutage zählte ein guter High School Abschluss nicht mehr viel, weswegen ich seit einiger Zeit ehrenamtlich Kinder bei ihren Aufgaben und beim Lernen half und an manchen Tagen griff ich Bobby in seiner Suppenküche für Bedürftige unter die Arme. Um ehrlich zu sein, tat ich all diese Dinge anfangs bloß nur, weil ich es tun musste um überhaupt in Frage für ein Stipendium in meinen Wunschuniversitäten zukommen. Doch mittlerweile tat mir das ehrenamtliche Arbeiten sehr Spaß. Ab und an waren die Kinder ein Wenig anstrengend, doch die Erfolge, die ich bei manchen Schülern sah, gaben mir immer mehr Motivation. Grayson begleitete mich öfters, weil er sonst Nichts zutun hatte. „Sehr toll! Das Mädchen Annie, falls du dich noch erinnern kannst, sie war auf ihrer letzten Englisch-Arbeit eine der Besten!"

„Das freut mich total!", strahlte meine Mutter über beide Ohren. „Und bei dir Grayson?", fragte sie nun meinen besten Freund.

„Meeh", verzog er sein Gesicht und sah mich dann an, worauf ich dann mein Lachen verkniff. „Komm schon, lach doch einfach noch einmal darauf los", warf er mir nun einen bösen Blick zu.

Meine Mutter sah lachen zwischen uns hin und her, worauf ich tief ausatmete und sagte ohne zu lachen: „Komm schon Grayson erzähl Mom was passiert ist."

Er rollte seine Augen und sah dann zu Mom. „Charlie McClancy is passiert", verzog Grayson sein Gesicht als er den Namen sagte. „Ich habe mir bevor wir anfingen vom Automaten einen Schokoriegel geholt – Charlie, der Junge dem ich heute half, hat mich gefragt ob er vielleicht ein Stück haben kann. Du weißt, ich teile sonst nie mein Essen, aber ich habe mir gedacht „Ach wieso nicht?"  und habe ihm die Hälfte gegeben. Als ich die Verpackung wegschmeißen ging, hat er ein Stück seiner Hälfte auf meinen Stuhl gelegt – was ich natürlich nicht wusste. Und dann bin ich zwei Stunden auf der geschmolzenen Schokolade mit meinen hellblauen Jeans gesessen. Das Schlimmste an der Sache war ja, dass er seinem Freund gesagt hat ich hätte mir in die Hosen gemacht! Die beide haben die ganze Zeit gelacht und ich wusste nicht wieso – jeder hat gelacht, bis Ave dann den Fleck auf meinem Hintern sah."

Sofort fing ich laut an zu lachen, als ich die Bilder in meinem Kopf hatte wie ihn kleine Kinder auslachen und Grayson mich verzweifelt ansah. Meine Mutter versuchte sich ihr Lachen zu verkneifen und umarmte Grayson: „Ach Grayson das tut mir leid. Was hast du dann gemacht?"

„Ach Mom du kannst ruhig loslachen – so wie es alle anderen getan haben", seufzte mein bester Freund und setzte sich auf die Kochinsel. „Nachdem Ave aufgehört hat zulachen, hat sie mir ihr Kapuzenpullover gegeben und ich habe mir den um die Hüfte gebunden ...", sah er beschämt zu Boden.

„Mom!", holte ich tief Luft undversuchte mein Lachen nun zu verkneifen. „Du hättest Grayson sehen sollen – es war göttlich!" Bevor ich weiterreden konnte, vibrierte mein Handy in meiner Hosentasche. Sofort zuckte ich es aus meiner Tasche und las Harrys Namen.

Very Lynn – We'll Meet Again

Refrain.

Sofort öffnete ich Google und tippte den Song ein, danach suchte ich nach dem Liedtext.

We'll meet again. Don't know where, don't know when. But we'll meet again some sunny day.

Ich lächelte vor mich hin und fügte den Song gleich danach zu meiner Spotify-Bibliothek hinzu. Danach kam schon die nächste Nachricht von ihm:

Bist du heute in der Stadt-Bar? Gute Musik, Bier und ein Musik-Liebhaber mit dem du über Musik philosophieren kannst? Ich bin jedenfalls dort und vergiss nicht – ich bin Medizinstudent. x

Leicht lächelte ich vor mich hin und rollte meine Augen. „Ave?", hörte ich Grayson meinen Namen sagen. Sofort sah ich ihn fragend an, worauf ich zwei neugierige Blicke geschenkt bekam. „Was ist so viel wichtiger als meine Tirade über Charlie?", zog er eine Augenbraue hoch. Grayson wusste genau wer mir eine Nachricht schrieb. „Weißt du Mom, sie hat einen neuen Verehrer."

„Grayson!", warf ich ihm einen wütenden Blick zu. An manchen Tagen verhielt er sich tatsächlich wie ein pubertierender Teenager. Ich erzählte ungern meiner Mutter von meinem Liebesleben. Natürlich wusste sie damals von Alex und meiner Beziehung und bis heute verstand sie nicht wieso wir nicht mehr zusammen waren. Meine Mutter band sich sehr schnell an neue Menschen und sie vergötterte Alex. Für sie war mein Ex-Freund der perfekte Schwiegersohn – sie wusste nicht was für ein Arschloch er eigentlich war. Keiner wusste es, außer Grayson und mir.

„Wer?", fragte meine Mutter nun neugierig. Laut meiner Mutter muss man jemanden im Leben haben um glücklich zu sein. Sie meinte Liebe wäre Alles heutzutage. Wenn ich sie jedoch fragte wieso sie solche Gefühle keinem gegenüber verspürte, schwieg sie.

„Mom vergiss es, Grayson erlaubt sich wiedermal einen Spaß", sah ich meine Mutter an und schüttelte den Kopf. Danach warf ich Grayson einen weiteren wütenden Blick zu und meinte: „Stimmt's?"

Er sah zwischen meiner Mutter und mir hin und her und gab schlussendlich nach. Grayson nickte und lächelte mich dann an. „Ach schade!", meinte nun meine Mutter und sah mich etwas traurig an. „Ich dachte schon du hättest wen Neues gefunden. Ist bestimmt nicht leicht jemanden zu finden wie Alex, der dich solange ausgehalten hat", scherzte meine Mutter und kochte weiter.

Ich sah auf den Boden und spürte Etwas in mir, was ich schon Monate nicht mehr verspürte– Trauer. Meine Mutter hatte zur Hälfte recht und zur Hälfte unrecht. Es gab Millionen Jungs, die besser waren als Alex. Doch sie hatte recht, dass ich vielleicht nie jemanden finden werde der tatsächlich zu mir passte. Liebe kam mit Schmerz und ich hatte keine Lust erneut verletzt zu werden. Grayson schien meine Gefühle zu spüren, weswegen er zu mir kam und seine Hand auf meine Schultern legte, danach zog er mich fest an sich und drückte mir leicht einen Kuss auf meinen Haaransatz.

...

Ich bat Grayson dazu mich in die Bar zu begleiten. Natürlich schleppte er in letzter Minute Jane mit. Irgendwie war ich genervt, weil ich schon lang keinen gemütlichen Abend mit meinem besten Freund verbrachte und doch zur selben Zeit war es okay für mich. Ich wollte seinen Abend nicht mit meiner heutigen schlechten Laune verderben. Auch, wenn ich sie hasste, machte Jane ihn überglücklich und Grayson verdiente jegliches Glück der Welt.

Vor der Bar ließ uns der Türsteher wie immer hinein. Drinnen trennte ich mich direkt vom Liebespaar und holte mir ein Bier an der Bar. Wie immer sah mich die Barkeeperin misstrauisch an – weswegen ich sie nur umso mehr anstrahlte. Das Selbstbewusstsein, welches ich immer vor dieser Theke ausstrahle, irritiert viele Barkeeper und deswegen schenken sie mir trotz Mistrauen, Alkohol ein. Ich bedankte mich herzlich bei ihr und gab ihr auch ein großzügiges Trinkgeld, worauf ihre Miene sich veränderte und mir ein wahrhaftiges Lächeln schenkte – die hatte ich wohl nun auch auf meine Seite.

Tanzend begab ich mich auf die Tanzfläche und stand, wie sonst auch immer, alleine mitten auf der Tanzfläche umgeben von Fremden. Doch dies störte mich nie, denn so konnte ich die Musik genießen. Grayson fragte mich sonst immer nach den Songtitel, was einem nach einer Zeit etwas auf die Nerven ging. „Ich wusste, dass ich dich hier finden werde", spürte ich plötzlich eine warme Hand auf meiner Hüfte. Sofort sah ich hoch und erkannte Harry. Er nahm einen großen Schluck von seinem Bier und lächelte mich danach an, die Hand ruhte noch immer auf meinem Rücken. Aus irgendeinem Grund verunsicherte mich die Geste.

„Hey", lächelte ich ihn an und versuchte mir Nichts anmerken zu lassen. Danach sah ich geradeaus und versuchte mich auf die Liveband zu konzentrieren.

„Ride von The Vines", sagte Harry neben mir. Zuerst dachte ich, ich würde mir seine Stimme einbilden, doch dann spürte ich seinen Blick auf mir ruhen. Fragend sah ich ihn an und versuchte nach wie vor seine Hand auf meinem Rücken zu ignorieren. Sein kleiner Finger und Ringfinger berührten meine Haut. Ich hatte ein schwarzes Tanktop an, welches mir ein wenig zu kurz war. Weswegen ein kleines Stück zwischen meinem Hosenbund und meinem Tanktops frei war und genau diese Stelle, an meinem Rücken, berührten zwei seiner Finger. Eigentlich war es nichts Schlimmes, doch aus irgendeinem Grund ließ mich die Geste ... komisch fühlen? „Du sahst so verwirrt aus, deswegen habe ich gedacht du würdest den Songnicht kennen." Endlich ließ er mich los und schubste mich leicht.

Als ich seine Hand nicht mehr auf meinem Rücken spürte, verschwand auch das komische Gefühl wieder und ich fühlte mich wieder normal. „Natürlich kenne ich dieses Lied – was glaubst du wer ich bin?", lachte ich und nahm einen Schluck aus meiner Flasche.

„Welches Album?", forderte er mich grinsend auf und nahm ebenfalls einen Schluck.

Ich zog meine Augenbraue in die Höhe und antwortete ohne nachzudenken: „Winning Days."

Er atmete zufrieden aus und meinte: „Ach Naveen ich wusste, dass du mich nicht enttäuschen wirst."

Wir unterhielten uns weiterhin und tranken unsere Getränke. Während ich mir immer Bier und andere alkoholischen Getränke als Nachschub holte, verzichtete Harry nach seinem ersten Bier auf den Alkohol und griff zur Coke. Irgendwann spürte ich wie ein Hauch von Alkohol meine Laune hob und jegliche Hemmungen von mir nahm. Neben Harry hüpfte ich auf und ab zur Musik und tanzte sogar mit ihm. Es war kein Tanzen, wie die ganzenanderen Jungs und Mädchen rund um uns herum. Wir tanzen wie verrücktmiteinander, hielten, aus irgendeinem Grund, unsere Hände und bewegten uns zur Musik. In dem Momenten hörte ich auf an Alles zudenken und genoss den Moment gerade. Keine Sekunde verschwand ich an Alex, Schule, Zukunft oder Liebe.

Als ich die Anfangsmelodie von Mr.Brightside von The Killers hörte, legte ich meine Hände auf seine Schulter, warf meinen Kopf nach hinten und fing laut an die erste Strophe zu schreien, so wie alle Anderen rund um mich herum. Als ich wieder zu Harry blickte, sah ich ihn wie verrückt lachen. Ich grinste ihn ebenfalls an und fragte: „Was?"

Er schüttelte lachend den Kopf und meinte: „Es ist so toll dich so unbeschwert zu sehen. Sonst scheinst du immer so tief in deinen Gedanken versunken zu sein."

„Weil einfach so Vieles durch meinen Kopf geht", antwortete ich offen, das Lächeln verschwand nicht von meinen Lippen während ich ihn ansah.

„Verständlich, aber du bist viel zu jung um dir ständig Gedanken um irgendetwas zu machen. Genieß deine jungen Jahre. Nichts auf dieser Welt kann so wichtig sein, dass man jeden Tag daran denken muss", lächelte er mich an. Erst jetzt spürte ich seine Hände an meinen Hüften. Doch dieses Mal irritierten sie mich nicht.

„Universität? Zukunft?", sah ich ihn fragend an. Beschäftigten ihn diese ganzen Fragen nicht? Wie konnte er nicht an die Zukunft denken? Mir kam es so vor, als würde ich ständig daran denken oder ständig etwas dafür tun. Wenn ich nicht in John's Café arbeitete, dann half ich ehrenamtlich oder lernte. Ich kannte kein anderes Leben.

„Schon vergessen, ich bin ja schon Medizinstudent", zwinkerte er mir zu und lächelte. Für einen kurzen Moment zauberte er mir ebenfalls ein Lächeln ins Gesicht. Als wir uns so in die Augen starrten, wurde mir warm. Ich spürte wortwörtlich die Schweißperlen auf meiner Stirn.

„Frische Luft", meinte ich plötzlich während unserem Starr-Wettbewerb. Er runzelte die Stirn, weil er sich nicht sicher war, ob er mich richtig verstand oder nicht. „Ich brauche frische Luft", wiederholte ich mich und ließ seine Schultern los. Ich schaukelte ein Wenig nach hinten, doch fand schnell mein Gleichgewicht zurück. Das nächste Mal werde ich bestimmt nicht mit dem Alkohol so übertreiben, zumal wir auch morgen Schule hatten.

Draußen angekommen, tat die frische Brise sehr gut. Ich atmete tief ein und aus und zog mir meine Jeansjacke an. „Alles okay?", fragte Harry plötzlich hinter mir.

Sofort drehte ich mich um und nickte lächelnd: „Ich brauchte nur etwas frische Luft. Drinnen wurde es von einer Sekunde auf die andere total stickig." Ganz ungelogen war dies nicht – es wurde echt unerträglich drinnen. „Und ich sollte mich so oder so auf den Nachhauseweg machen – morgen beginnt die neue Woche ... hurra!" Ich verzog mein Gesicht und sah in die Leere– hurra? habe ich das gerade wirklich gesagt?

„Komm, ich fahre dich nachhause", nahm er seine Schlüssel aus seiner Hosentasche und bot mir seine Hand an.

Ich starrte ihn an und dachte an das letzte Mal, als er mich nachhause fahren wollte nach der Bar. Harry war genauso betrunken, doch heute verzichtete er darauf. „Du hast nicht getrunken", stellte ich laut fest.

„Ich habe nicht getrunken", wiederholte er lachend und sah mich erwartungsvoll an. „Kommst du?" Erneut bot er mir seine Hand an, die ich aus irgendeinen Grund annahm. Als wäre es das Normalste auf dieser Welt, ging ich mit ihm Hand in Hand zu seinem Auto. Ich versuchte das Gefühl in meinem Bauch zu ignorieren und schob es auf den Alkohol. Zugegebenermaßen, war ich ihm dankbar, dass er mir seine Hand anbot, denn ich spürte, dass er mir half das Gleichgewicht zu halten.

„Wieso hast du nicht getrunken?", fragte ich ihn erst jetzt als er mir die Tür zu seinem Auto aufhielt.

Bevor er die Tür schloss, lächelte er mich an und zwinkerte mir zu. „Damit ich dich nachhause fahren kann." Nachdem er die Tür schloss, spürte ich die Röte in meinen Wangen steigen. Dieser ganze Abend konnte doch nicht Realität sein.

Um die Situation zu überspielen, fing ich das alte Thema wieder an. „Du hast meine Frage nicht beantwortet. Naja, es war nicht wirklich eine Frage, aber du hast nicht geantwortet."

Er startete das Auto und parkte aus.„Die wäre?", fragte er schließlich.

„Denkst du nicht an die Zukunft? An die Universität?", sah ich ihn fragend an während seine Augen auf der Straße konzentriert waren.

„Wieso beschäftigt dich dieses Thema so? Nicht jeder denkt ständig an die Universität Ave", veränderte sich seine Stimme plötzlich. Und erst jetzt fiel mir auf, dass ich ihn tatsächlich sehr oft darüber ausgefragt habe und immer wieder machte er ein großes Geheimnis daraus. Was ich auch bemerkte war, dass er mich nicht Naveen nannte.

„Es tut mir leid", entschuldigte ich mich sofort bei ihm. Die Rest der Fahrt verbrachten wir das erste Mal schweigend und ich verfluchte mich selber für meine ständige Neugier.

Vor meinem Haus, wollte ich den ersten Schritt machen und mich bei ihm dankend verabschieden, doch Harry fing an zu sprechen. „Weißt du Naveen, ich bewundere dich tatsächlich für deine ganzen Ziele und ich hoffe sie gehen alle in Erfüllung. Aber nicht jeder kann für seine Ziele so kämpfen."

Ich sah ihn stirnrunzelnd an und schüttelte den Kopf: „Was meinst du?"

„Manche Dinge werden für einen entschieden und meine Eltern halten Nichts davon studieren zu gehen – jedenfalls nicht mein Vater. Er möchte, dass ich dasselbe tue wie er und in seine Fußstapfen trete. So wie er es für seinen Vater tat und mein Großvater für seinen."

„Welchen Beruf übt dein Vater aus?", stellte ich die nächste Frage.

Er lächelte leicht und sah aus dem Fenster. Harry wusste nicht ob er es mir sagen sollte oder nicht. Gott sei Dank entschied er sich dafür, denn es schien ihn sehr zu belasten. „Mein Vater war Soldat bei der U.S Army. Er möchte, dass ich auch einer werde."

Mein Atem stockte. Ich schüttelte erneut meinen Kopf: „Möchtest du das denn auch?"

Nun sah Harry zu mir und lächelte – es war nicht eines wie sonst. Es war ein trauriges Lächeln. „Ist das relevant?"

„Für mich schon", meinte ich ohne nachzudenken und griff nach seiner Hand. Ich wusste nicht wieso, doch der Gedanke, dass er einmal zur U.S Army geht, war mir nicht egal.

Harry lächelte mich einige Sekunden an und starrte dann auf unsere Hände. „Gute Nacht Naveen, wir sehen uns Morgen", beendete er das Thema.

Ich nickte und atmete aus. „Gute Nacht Harry, danke für den Abend", lächelte ich und ließ seine Hand los. Während ich zur Tür ging, wollte der eine Gedanke nicht weg. Harry und Soldat?

Ohne mich umzudrehen, ging ich durch meine Haustür und schloss diese auch hinter mir ab. Wieso war mir diese neue Information über Harry nicht egal? Wie konnte ein Vater seine Prioritäten vor die seines Sohnes stellen? Und wieso zur Hölle entschied er über seine Zukunft? Ich konnte nicht Anders, als wütend zu sein. Harry wäre ein verlorenes Talent. Er war nicht nur sportlich, musikalisch sondern auch klug – wieso sahen seine Eltern nicht das Potential in ihm?

Als ich nach meiner Routine im Bett lag, leuchtete mein Handy auf. Harry.

I Saw Her Standing There – Beatles

4 Strophe.

Gute Nacht. x

Die Wut in mir verschwand und ein Lächeln bildete sich plötzlich auf meinen Lippen. Sofort öffnete ich den Songtext auf Google.

When I saw her standing there. Well, my heart went boom. When I crossed that room and I held her hand in mine. Well, we danced through the night.

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