18.

243 Tage

Still gingen wir nebeneinander zu seinem Auto. Harry und ich verbachten den restlichen Abend tanzend. Ich konnte nicht anders, als an meine heutige Erkenntnis zu denken. Das Kribbeln und das Gefühl, welches er in mir erweckte, konnte ich einfach nicht mehr verbergen. Spürte er denn dasselbe? Konnte ich Etwas dagegen tun? Ich konnte mich doch nicht erneut in den Freund meines Bruders verlieben. Dean war von Anfang an gegen die Freundschaft von Harry und mir. Eine Zukunft hatten wir nicht. Doch irgendwie wollte ich es nicht stoppen. Ich fühlte mich noch nie in der Gegenwart eines Mannes so. Noch nie erweckte jemand diese Seite und noch nie fühlte ich mich so akzeptiert und verstanden.

Weiterhin stillschweigen fuhr Harry mich nachhause. Bevor wir uns jedoch voneinander verabschiedeten, sah er mir tief in die Augen: „Möchtest du vielleicht noch eine Runde spazieren gehen?"

Da ich ebenfalls nicht wollte, dass der Abend ein Ende nahm, antwortete ich mit: „Ja, gerne." Ich wusste, dass ich Morgen einen sehr harten Arbeitstag vor mir hatte. Ganz besonders durch die Besucher des Pumpkin Patchs – doch ich wollte jede Sekunde mit ihm genießen. Denn in wenigen Monaten wird ihn seine Zukunft wo anders führen.

Einige Blöcke von meinem Haus entfernt, stiegen wir aus. Tief atmete ich die Oktoberluft ein und verschränkte meine Arme vor der Brust. „Wir können auch gerne einige Minuten im Auto sitzen, wenn dir kalt ist", strich mir Harry sanft über meinen Oberarm.

Bei seiner Berührung wurde mir sofort warm. Ich lächelte ihn an und schüttelte den Kopf. „Und schlechte Radiomusik hören? Da erfriere ich lieber", scherzte ich und atmete tief durch. „Und so kalt ist es gar nicht, sieh", fuhr ich fort und hob meine Hände. Ich wollte die Situation ein weniger lockern. Denn wir waren die ganze Fahrt über still und sprachen nichts. War er auch so in seinen Gedanken versunken?

Er lachte und sah mir zu wie ich rückwärts die leere Straße entlangging. „Naveen", lachte er und schüttelte seinen Kopf. „Was wird John wohl denken, wenn du morgen übermüdet in die Arbeit kommst?", kam er nun auf mich zu.

Zusammen gingen wir nebeneinander. „Ach, Joe hat vor einigen Jahren bei John gearbeitet. Und sie kam jedes Wochenende übermüdet in sein Café. Man könnte meinen, er würde nichts Anderes von unserer Familie erwarten", grinste ich vor mich hin.

Vielleicht war es der Alkohol in mir, doch aus irgendeinem Grund schweiften meine Gedanken zu unserem fast-Kuss. Im nächsten Moment spürte mein Körper die kühle Luft nicht mehr. Ganz im Gegenteil. Plötzlich erfüllte eine unglaubliche Wärme jeden Zentimeter in mir. „Danke für den Abend, Naveen", schien Harry meine Gedanken zu lesen. Meine Augen schweiften zu ihm. Worauf ich ein leichtes Lächeln auf seinen Lippen sah. „Ich habe einen unbeschwerten Abend mit dir gebraucht", griff er instinktive nach meiner Hand. Und ich ließ diese Berührung zu.

Eigentlich wusste ich, dass Harry nicht über seine Gefühle oder seine Situation sprach. Doch ich fragte: „Möchtest du darüber reden?" Seine Hand drückte ich leicht um ihm das Zeichen zu geben, dass es okay war darüber zu sprechen.

Vielleicht war es die kühle Oktoberluft und auch vielleicht eine Erkenntnis auf seiner Seite. Doch er gab mir tatsächlich eine Antwort. „Du weißt, dass dein Bruder kein großer Fan von dem hier ist, oder?", blieb er stehen. Doch meine Hand hielt er weiterhin in seiner.

„Was hat er mit diesem Abend zu tun?", runzelte ich meine Stirn und sah ihn fragend an. Natürlich wusste ich, dass mein Bruder mir am liebsten den Kopf abreißen würde. Ich erinnerte mich zurück an den Beginn des Abends. Harry war eigentlich mit Dean, Alex und anderen Freunden unterwegs. Doch entschied sich den Abend mit mir zu verbringen.

„Ich hatte heute eine kleine Auseinandersetzung mit Alex", sprach er plötzlich, während mein Herz stehenblieb. Wusste Harry wieso Alex und ich nicht mehr zusammen waren? „Dein Bruder hat Etwas davon mitbekommen", er runzelte seine Stirn und sah im nächsten Moment nicht mehr in meine Augen. „Irgendwer hat wohl Alex erzählt, dass ich nun mehr Zeit mit dir verbringe. Natürlich hat ihm das nicht gepasst. Er hat es dann schlussendlich deinem Bruder erzählt." Er brauchte einige Momente, doch irgendwann fanden seine Augen meine. „Er hat mir dann erzählt, dass du zu ihm meintest, wir wären bloß nur Schulfreunde und er sich um nichts Sorgen machen muss." Harry sah zwischen meinen Augen hin und her und lächelte leicht: „Was, wenn er sich doch Sorgen machen muss? Immerhin habe ich mich dann gegen einen Abend mit ihnen und einen Abend mit dir entschieden."

Ich erstarrte. Auf einer Seite, bekam ich die Bestätigung, dass Harry mich auch mochte. Doch auf der anderen Seite, erfüllte mich ein anderes Gefühl. Der Gedanke, dass Alex mit Harry über mich sprach, bereitete mir Bauchschmerzen. Ich wollte nicht mehr ein Teil von Alex's Leben sein.

„Wieso habt ihr Schluss gemacht, Naveen?", fragte mich Harry diese eine Frage.

Seine Hand ließ ich los. Ich war nicht bereit mit jemanden darüber zu sprechen. Zwar mochte ich Harry, doch ich wusste nicht ob er für die Wahrheit bereit war. Was, wenn er diese meinem Bruder erzählte? Ich wollte nicht der Grund für die Zerbrochenen Freundschaft sein. Etwas, wovor Dean immer Angst hatte. „Ich- uh", suchte ich nach den richtigen Worten. Unseren Augenkontakt unterbrach ich und ging einen Schritt zurück. Harry's intensiven Blick spürte ich auf mir ruhen. „Ich kann dir nicht davon erzählen. Zwar bin ich über ihn hinweg, doch ich kann dir nicht davon erzählen. Jedenfalls noch nicht", starrte ich auf unsere Füße und hoffte er war zufrieden mit dieser Antwort. Ich hoffte, dass ihn weder Alex noch mein Bruder einschüchterten. Oh Gott, ich hoffte, dass er weiterhin mit mir Zeit verbringen wollen würde.

Er schloss die Lücke zwischen uns, legte Sanft seine Finger unter meinen Kinn und hob meinen Kopf leicht. Nun sahen wir uns erneut in die Augen. „Ich möchte, dass du weißt, dass ich immer hier sein werde, wenn du bereit bist darüber zu sprechen. Denn ich habe mich nicht umsonst heute für dich entschieden, Naveen."

...

„Habe ich es dir nicht gesagt?", stopfte sich Grayson den dritten Kürbis-Muffin in den Mund. „Die Freunde deines Bruders sind genau dein Beuteschema."

„Grayson", seufzte ich und warf ihm einen bösen Blick zu. „Ich versuche gerade wirklich mit dir über ein ernstes Thema zu sprechen." Nun griff ich nach zwei frischen Tassen und legte sie auf mein Tablett. „Ich fühle mich sehr zu ihm hingezogen. Aber er ist der Freund meines Bruders und meines Ex-Freundes."

„Ich sehe absolut kein Problem darin", meinte Grayson locker und nahm einen Schluck von seinem Kaffee. Im nächsten Moment patzte er sich etwas auf seiner Arbeitsuniform an. Seinen Zeigefinger leckte er ab und versuchte den Fleck aggressiv aus seinem Hemd zu bekommen.

Ich warf ihm ein Tuch hin und meinte „Tupfen, nicht rubbeln, Grayson." Tisch sechs brachte ich ihre zwei Tassen Kaffee und nahm ihre Essensbestellung auf. Einen weiteren Tisch räumte ich schnell ab und machte ihn bereit für die nächsten Kunden. Danach ging ich um die Theke herum und rief John die Bestellung zu. „Also ich sehe ein sehr großes Problem", kam ich zurück zu Grayson's und meinem eigentlichen Gespräch zurück. Ich griff nach den Speisekarten und fuhr fort: „Mein Bruder hat die Beziehung zu Alex schon unglaublich gehasst. Und jetzt Harry? Wie soll ich meinem Bruder erklären, dass ich sehr gerne Zeit mit seinem besten Freund verbringe."

„So wie beim letzten Mal", grinste Grayson mich an.

Ich erinnerte mich zurück zu dem Moment, als mein Bruder Alex und mich beim Küssen erwischte. Er war eigentlich bei meinem Bruder zu Besuch, doch schlich sich in mein Zimmer um mir einen Gute-Nacht-Kuss zu geben. Bis zu diesem Zeitpunkt waren wir eigentlich sehr gut im Geheimhalten unserer Beziehung. Doch Dean machte sich auf den Weg zum Badezimmer und erkannte die leicht geöffnete Tür. „Weißt du manchmal bist du auch echt keine Hilfe", meinte ich zu meinem besten Freund und bediente die nächsten Kunden.

„Du könntest auch einfach ehrlich sein Ave", gab mir Grayson das erste Mal in den letzten Minuten eine ernsthafte Antwort. „Du bist bald 18 und kannst deine eigenen Entscheidungen treffen. Ihr seid im selben Jahrgang und euch verbinden weitaus mehr Sachen, als Alex und dich. Solang du dir sicher bist, kann es deinem Bruder vollkommen egal sein", stand Grayson auf und griff nach seinen Sachen. Ich übergab ihm sein Abendessen, eingepackt in einer Tüte. „Und du hast schon Gefühle für ihn entwickelt, ein Zurück gibt es so oder so nicht mehr."

Ich dachte über seine Worte nach und atmete tief durch. Irgendwie hatte Grayson doch recht. Harry und mich verbanden mehr Dinge als Alex und mich. Bei Harry fühlte ich mich anders, als in der Gegenwart von Alex.

„Ich find es echt schade, dass du heute die späte Schicht hast. Wie soll ich ohne dich zum Pumpkin Patch? Was, wenn irgendjemand unseren Rekord bricht?" Seitdem ich denken konnte, gingen Grayson und ich zusammen zum Pumpkin Patch. Als wir klein waren, gaben wir unser ganzes Taschengeld für die Stände und Süßigkeiten aus. Bei einem Schieß-Stand hielten wir sogar den Rekord.

„Wenn das der Fall ist, riskiere ich alles und laufe zum Pumpkin Patch", kam er um die Theke herum und gab mir eine Umarmung. „Ich sehe dich nach der Arbeit, Ave. Nimm mir bitte etwas von Mrs. Orton's Kürbistorte mit", schwärmte er. „Und ein Stück von Mrs. Nickels Torte, okay?"

Ich lachte und löste mich aus der Umarmung. „Mach ich Gray, wir sehen uns nach der Arbeit."

Nachdem Grayson aus dem Café ging, fand der Weg von unzähligen Gästen in John's Café. Da dieser unmittelbar neben dem Pumpkin Patch war. Aus dem Fenster sah ich viele kleine Kinder, mit geschminkten Gesichtern und Zuckerwatte herumlaufen. Wie jedes Jahr, gab es diversen Stände und ein großes Riesenrad. Grayson und ich blieben früher bei jedem Stand stehen – Grayson bediente sich meistens an den ganzen Mehlspeisen, während ich jedes Jahr ein neues Stofftier gewinnen wollte. Den Abend endeten wir meistens mit einer Fahrt auf dem Riesenrad.

Die Gäste wurden von Stunde zu Stunde mehr. Doch irgendwann wollten John und ich auch zum Pumpkin Patch. Pünktlich um fünf, schlossen wir die Türen und erledigten die restlichen Aufgaben. In Johns Haus, nebenbei, sprang ich schnell unter die Dusche und zog mir frische Sachen an. Zusammen mit John machte ich mich dann in das Geschehen, wo bereits meine Schwester, Oli und meine Mutter auf uns warteten. „Ich habe bereits Tortenstücke für Grayson mitgenommen", grinste meine Mutter mich an und deutete auf die Papiertüte in ihrer Hand. Ich lachte und bedankte mich bei meiner Mutter. Zusammen mit Oli und Joe drängelte ich mich durch die Menge, während meine Mutter und John einige Schritte hinter uns waren und die Zeit zusammen genossen.

Irgendwann fanden wir den Weg zur Bühne und zur Live-Musik. Oli und Joe gingen auf die Tanzfläche und fingen sofort wie ein frischverliebtes Paar an zu tanzen. Von meiner Mom und John fehlte jegliche Spur. Mit einem Lächeln stand ich auf der Seite und sah meinem Schwager und meiner Schwester, dabei klatschte ich im Takt.

„Wohl kein großer Country-Fan?", flüsterte plötzlich eine bekannte Stimme in mein Ohr.

Sofort wurde mir warm ums Herz. „Manchmal steh auch echt gern am Rand und sehe Leuten beim Tanzen zu", lachte ich und drehte mich zu Harry um. „Ich hätte echt nicht gedacht, dass ich dich hier sehen werde."

Harry schenkte mir ein schiefes Lächeln und antwortete: „Eigentlich wäre ich auch nicht hier. Doch vor einigen Tagen habe ich gehört, wie Grayson und du über den Pumpkin Patch gesprochen habt. Also wusste ich, dass du hier sein wirst und genau aus diesem Grund bin ich hier."

Ich spürte die Wärme in meinem Gesicht und das Kribbeln in meinem Bauch. „Mhh, oder vielleicht doch wegen Mrs. Orton's Torte?", sah ich ihn gespielt skeptisch an.

Ein breites Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus. „Erwischt", antwortete Harry. „Möchtest du deiner Schwester und ihrem Ehemann weiterhin beim Tanzen zusehen, oder möchtest du vielleicht eine Runde machen?" Ohne auf meine Antwort zu warten, griff er nach meiner Hand und führte mich durch die Menge. „Wie war die Arbeit heute?", fragte er mich als wir nun weg von der Menge waren und langsam von Stand zu Stand gingen.

Ich erzählte ihm von meinem Tag während wir durch die Masse schlenderten. Wir beide schienen die nächsten zwanzig Minuten vergessen zu haben, dass wir in der Öffentlichkeit waren. Denn keiner von Beiden ließ los – Hand in Hand spazierten wir durch die Menge. Die nächste volle Stunde verbrachten wir nicht nur sprechend, sondern blieben einige Male bei Ständen stehen. Zuerst holten wir uns etwas zum Essen und dann bedienten wir uns an den süßen Sachen. „Ich glaube, ich werde heute nicht schlafen können", deutete er auf seine Waffel und nahm dann einen großen Bissen. „Das letzte Mal habe ich mit zehn so viel Zucker zu mir genommen", lachte er.

Während Harry weitersprach, gewann eine Person hinter ihm meine Aufmerksamkeit. Ich bemerkte wie Joe einige Meter von uns entfernt mit jemanden sprach. Zuerst wollte ich Harry in ihre Richtung ziehen, doch dann sah ich die anderen Person rund um meine Schwester. Oli, Joe, Dean und Alex waren in einem Gespräch verwickelt. Zu viert lachten sie, während Joe und Dean sich eine Portion Pommes teilten.

„Alles okay?", schien Harry meinen Gesichtsausdruck zu bemerken. Langsam folgte er meinem Blick und bemerkte meinen Ex-Freund und seinen besten Freund nur einige Meter weiter weg stehen. „Möchtest du gehen?", fragte er vorsichtig.

Ich suchte nach den richtigen Worten, denn eigentlich wollte ich hier bleiben – mit Harry. Alex seine Gegenwart störte mich nicht mehr. Doch ich wusste, dass mein Bruder kein Fan von Harrys und meiner Freundschaft war. Ich wollte nicht der Grund für einen weiteren Streit sein. „Wenn es okay für dich wäre?", fragte ich Harry.

„Natürlich", lächelte mich Harry an und griff nach meiner Hand. In der nächsten Sekunde führte er mich durch die Menge und auf den Parkplatz zu. „Möchtest du nachhause oder..?", atmete er tief aus und sah zu mir. In seinen Augen bemerkte ich, dass er eigentlich nicht bereit war sich von mir zu verabschieden – und um ehrlich zu sein war ich es auch nicht.

„Am liebsten nur so weit weg wie möglich von hier", lächelte ich ihn schwach an und setzte mich in sein Auto.

„Wohin auch immer du möchtest, Ave", startete Harry das Auto und fuhr, ohne eine Sekunde zu zögern, los.

...

Zuerst fuhr Harry durch die Gegend und öffnete die Fenster. Obwohl wir bereits Oktober hatten, fühlte sich die kühle Luft sehr gut an. Während wir auf den Straßen durch leere Felder fuhren, ging die Sonne in der Weiter unter. Die ersten Minuten herrschte vollkommene Stille im Auto. Doch dann schaltete Harry seinen Lieblingssender ein und summte leise vor sich hin.

Zwar störte mich Alex seine Gegenwart nicht mehr, doch er hatte eine enormen Einfluss auf die Beziehung von Harry und mir. Denn Harry wusste nach wie vor nicht, wieso Alex und ich nicht mehr zusammen waren und wie die Situation zwischen uns eigentlich war. Aus irgendeinem Grund schämte ich mich unglaublich dafür. Denn das Fremdgehen von Alex, löste einiges in mir aus. Vor ihm, war ich eigentlich sehr zufrieden mit mir – natürlich hatte ich an manchen Tagen den Wunsch längeres Haar zu haben oder vollere Lippen, doch ich im Großen und Ganzen war ich eigentlich zufrieden mit meinem Erscheinungsbild.

Doch seit unserer Trennung sehe ich nur mehr Dinge die Falsch an mir sind – nicht nur optisch, sondern auch charakterlich. Ich gab nicht nur meiner spitzen Nase, sondern auch meinen Beinen und Oberkörper den Grund für Alex seine Taten. Ich hatte Angst davor, dass wenn Harry den Grund kannte, er all diese Dinge auch sah.

Erst als ich die Tür hörte, bemerkte ich, dass wir vor Harry's Haus waren. „Keine Sorge, meine Eltern sind nicht zuhause", lächelte er mich an und half mir beim Aussteigen. Er machte die Tür hinter mir zu und führte mich zu seiner Garage. „Es ist zwar nicht weit weg vom Pumpkin Patch, aber dennoch etwas abseits um ein wenig abzuschalten." Ich lächelte ihn an und setzte mich auf die Couch, während Harry etwas zum Trinken holte. „Möchtest du darüber reden?", überreichte er mir die Bier-Flasche und setzte sich neben mich hin. „Naja, du warst sehr still die letzte halbe Stunde", sprach er weiter als er meinen fragenden Blick bemerkte.

„Es tut mir leid, ich wollte deinen Abend nicht zer-"

„Wer sagt, dass du ihn zerstörst?", unterbrach er mich lächelnd und nahm einen Schluck aus seiner Flasche. „Den hat der Radiosender schon zerstört, in dem er nur schnulzige Lieder spielte", grinste er mich an. Ich lachte und schüttelte meinen Kopf. Doch meine Gedanken waren noch immer bei diesem einem Thema. „Ich wünschte, ich wüsste was dich bedrückt. Dann könnte ich dir vielleicht auch helfen", murmelte Harry nun ernst vor sich hin.

Ich atmete tief aus. Wie konnte ich ihm die Situation erklären, ohne wirklich darüber zu sprechen oder Alex erwähnen zu müssen? Ich wollte Harry doch Teil an meinem Leben haben und aus diesem Grund müsste ich doch in der Lage sein ihm irgendwie davon erzählen zu können, oder nicht? „Kennst du das, wenn du denkst du wärst nicht gut genug?", fing ich plötzlich an laut zu denken. Harry öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch tat es dann doch nicht. Er wollte wohl, dass ich weitersprach. „Ich habe oft das Gefühl, weißt du?", lächelte ich ihn schwach an und atmete tief aus. In diesem Moment öffnete ich mich das erste Mal seit Monaten einer anderen Person. „Ich habe Angst zu versagen und nicht gewissen Erwartungen zu entsprechen. Ich habe Angst davor, dass die Menschen, die ich noch in meinem Leben habe, eines Tages all meine Fehler sehen und gehen", starrte ich die Bier-Flasche in meinen Händen an und presste meine Lippen in eine Linie. „Das schwirrt eigentlich meistens in meinem Kopf herum. Manchmal nur für einige Minuten, manchmal dauert es auch Tage", atmete ich erneut tief aus und sah nun in Harrys Augen.

Einige Sekunden sahen wir uns stillschweigend an – hatte er nichts dazu zu sagen? Was, wenn ich ihn mit meiner plötzlichen offenen Art abschreckte? Bevor ich mich jedoch für meine ganzen Wort entschuldigen konnte, griff er nach meiner Hand und zog mich plötzlich auf die andere Seite der Garage – um genauer zu seinem zu seinem Flügel. Im nächsten Moment zog er die Abdeckung ab und richtete den Hocker. Harry atmet tief aus und setzte sich hin. „Komm her", meinte er ohne mich anzusehen. Völlig perplex, nahm ich neben ihm Platz. Einige Sekunden starrte er die weiße Tasten vor sich an – er dachte über irgendetwas nach. Doch man sah ihm an wie er diese Gedanken im nächsten Moment auf die Seite schob – seine Finger fanden den Weg zu den Tasten. Zuerst spielte er einige Tasten und atmete dann erneut tief durch. Die ersten richtigen Töne erfüllten die Garage und plötzlich fing Harry an „Vienna" von Billy Joel an zu singen. „Slow down you crazy child, you're so ambitious for a juvenile. But then if you're so smart tell me, why are you still so afraid?"

Mein Herz spielte verrückt – zuerst fühlte es sich an als wäre es stehen geblieben um dann dreifach so schnell zu schlagen. Ich schnappte nach Luft und starrte dann Harry von der Seite an, während seine Lippen sich bewegten und er die zweite Strophe sang. „Where's the fire, what's the hurry about? You better cool it off before you burning it out. You got so much to do and only so many hours in a day."

"But you know that when the truth is told, that you can get what you want. Or you can just get old. You're gonna kick off before you even get halfway through. When will you realize ... Vienna waits for you?"

Von Sekunde zu Sekunde bemerkte ich, wie Harry selbstbewusster wurde und jeden Ton, den er spielte genoss. Ich erinnerte mich zurück, an den Tag als er sagte, dass er seitdem Tod seines Großvaters nicht mehr spielte. Tränen bildeten sich in meinen Augen. Slow down you're doing fine. You can't be everything you want to be before your time. Although it's so romantic on the borderline tonight."

„Too bad, but it's the life you lead. You're so ahead of yourself that you forgot what you need. Though you can see when you're wrong, you know you can't always see when you're right"

Meinen Kopf legte ich auf seine Schulter, während ich seinen Finger auf den Tasten folgte und seiner Stimme lauschte. Tränen flossen über meine Wangen und prallten auf seiner Schulter ab. Ich war zutiefst gerührt – nicht nur von seinem unglaublichen Talent oder dieser tiefgründigen Geste, sondern von dieser emotionalen Situation in der wir uns beide befanden.

„You got your passion, you got your pride but don't you know that only fools are satisfied? Dream in but don't imagine they'll all come true", sang er während sich ein leichtes Lächeln auf seinen Lippen formte:„When will you realize ... New York is waiting for you", änderte er diesen Teil des Textes.

„Slow down you crazy child, take the phone off the hook and disappear for a while. It's alright you can afford to lose a day or two. When will you realize ... Brown waits for you?", änderte er erneut den Text und lächelte vor sich hin. Erst jetzt bemerkte ich, dass mein Kopf nicht mehr auf seiner Schulter ruhte, sondern erneut ihn von der Seite anstarrte.

In diese Moment sah ich nicht mehr den Harry, den ich bis jetzt sah. Sondern ich sah die wundervollste Person, die ich je in meinem Leben traf. Nach Alex, dachte ich, ich würde mich nie wieder öffnen geschweige denn verlieben. Doch das hier, war etwas vollkommen anderes. Die Gefühle, die ich für Alex damals hatte, waren nichts im Gegensatz zu den Gefühlen, die ich derzeit verspürte. Vielleicht hatte ich recht, vielleicht würde ich nie jemanden so lieben wie Alex – denn die Gefühle, die ich derzeit für Harry entwickelte waren etwas anderes, etwas viel größeres. Etwas, was ich in diesem Moment selber nicht erklären konnte.

„And you know that when the truth is told, that you can get what you want or you can just get old. You're gonna kick off before you even get halfway through. Why don't you realize, the world is waiting for you?", sang er sanft den letzten Teil des Songs.

Langsam spielte er die letzten Töne und sang ein letztes Mal „Why don't you realize, the world is waiting for you?"

Seine Hände legte er sanft auf seinen Oberschenkel ab und starrte den Flügel vor sich an. Einige Sekunden war er still und verarbeitete die letzten Minuten. Vorsichtig griff ich nach seiner Hand, da ich wusste, dass das Spielen ihm einiges an Mut kostete.

Langsam hob er seinen Kopf und sah nun in meine Augen – er bemerkte meine Tränen und wischte sie mit seiner freien Hand weg.

Mein Herz schlug wie verrückt, während ich in seine wundervollen Augen sah. „Danke", flüsterte ich mit einer heiseren Stimme, während ich versuchte meine Tränen unter Kontrolle zu kriegen.

„Wer auch immer dir das Gefühl gegeben hat, nicht gut genug zu sein, hat absolut keine Ahnung. Du hast keinen blassen Schimmer Naveen, wie glücklich ich bin dich in meinem Leben zu haben", sprach Harry sanft und sah mir dabei tief in die Augen. „Ich weiß nicht, was ich im Leben richtig getan habe", schüttelte er leicht den Kopf und lächelte mich an während er mit seinem Daumen neue Tränen wegwischte. Seine zweite Hand löste er aus meiner und hielt nun mit beiden Händen mein Gesicht. „Ich möchte, dass du eines weißt. Für mich ...", schluckte er stark und sah zwischen meinen Augen hin und her. Mein ganzer Körper zitterte. „ ... bist du mehr als nur genug. Du bist so viel mehr, Naveen."

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