Das Angebot
Nach einer kurzen, aber erholsamen Nacht wachte Lily früh auf. Ihr Kopf war noch schwer von den Gedanken an das Gespräch mit Em und den unerwarteten Entwicklungen des Vortages. Sie wusste, dass sie heute wieder trainieren musste, und obwohl sie sonst jeden Morgen motiviert und fokussiert war, lasteten die aktuellen Herausforderungen schwer auf ihren Schultern.
Lily zog ihre Laufschuhe an und schnürte sie fest. Normalerweise war das morgendliche Training ihre Zeit, um sich zu sammeln, ihre Gedanken zu ordnen und sich auf die bevorstehenden Aufgaben zu konzentrieren. Aber heute war es anders. Etwas nagte an ihr, etwas, das sie nicht einfach abschütteln konnte.
Draußen war die Luft kühl und frisch, und die ersten Sonnenstrahlen durchbrachen gerade den Horizont. Lily atmete tief ein und begann zu laufen. Ihre Schritte waren schnell und gleichmäßig, doch in ihrem Kopf tobte ein Sturm.
Je schneller sie lief, desto mehr versuchte sie, die negativen Gedanken zu verdrängen. Ihr Ehrgeiz trieb sie an, schneller und härter zu laufen. Die Strecke, die sie sich vorgenommen hatte, war anspruchsvoll, aber sie wollte sich selbst beweisen, dass sie stark genug war, um alles zu bewältigen, was vor ihr lag. Jede Steigung, jedes Hindernis wurde zu einer persönlichen Herausforderung, die sie unbedingt meistern wollte. Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn, aber sie ignorierte das Brennen in ihren Muskeln. Sie war entschlossen, stärker zu sein als die Zweifel, die in ihr nagten.
Doch trotz ihres eisernen Willens war da immer noch diese eine Frage, die sie nicht losließ: Was sollte sie tun?
Als sie nach fast zwei Stunden Training zurück in ihre Wohnung kam, war sie völlig erschöpft, aber auch zufrieden mit ihrer Leistung. Der Körper war müde, doch der Geist war klarer. Sie wusste, dass sie sich bald mit ihrem Team beraten musste, aber bevor sie das tat, wollte sie eine Entscheidung treffen.
Gerade als Lily sich ausruhen wollte, klopfte es an ihrer Tür. Zuerst dachte sie, es sei einer ihrer Teamkollegen, der vielleicht nach dem gestrigen Gespräch mit Em noch etwas klären wollte. Doch als sie die Tür öffnete, stand jemand vor ihr, mit dem sie nicht gerechnet hatte.
"James?" Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Vor ihr stand ihr älterer Bruder, den sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Sein Gesicht war gezeichnet von den Jahren, die er im Gefängnis verbracht hatte, und seine Augen waren dunkler, als sie sich erinnerte.
"Lily." Seine Stimme war rau, aber warm. "Kann ich reinkommen?"
Lily zögerte kurz, bevor sie die Tür weiter öffnete und ihn hereinbat. Das Wiedersehen war für beide unerwartet und mit gemischten Gefühlen verbunden. Sie hatten sich auseinandergelebt, und die Distanz zwischen ihnen war nicht nur physisch gewesen.
"Es ist lange her," sagte sie, während sie ihm einen Platz auf dem alten, aber gemütlichen Sofa anbot.
"Ja, das ist es," antwortete James und ließ sich schwerfällig nieder. "Zu lange."
Die ersten Minuten waren von einer unangenehmen Stille geprägt, doch schließlich brach James das Schweigen. "Ich habe gehört, du bist in Schwierigkeiten."
Lily sah ihn überrascht an. "Woher weißt du das?"
"Man hört Dinge. Ich mag im Gefängnis gesessen haben, aber das heißt nicht, dass ich blind oder taub bin. Ich weiß, dass es dir und deinem Team nicht gut geht." Er lehnte sich nach vorne, seine Augen bohrten sich in ihre. "Und ich weiß, dass du Hilfe brauchst."
Lily spürte, wie ihre Abwehrmechanismen hochfuhren. "Und was schlägst du vor? Was kannst du mir schon anbieten?"
James ließ sich Zeit mit seiner Antwort, als wäge er jedes Wort sorgfältig ab. "Ich bin nicht hergekommen, um dir zu sagen, wie du dein Leben leben sollst. Aber ich habe ein Angebot für dich. Etwas, das uns beiden helfen könnte."
Lily fühlte, wie sich ein Knoten in ihrem Magen bildete. "Was für ein Angebot?"
James lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. "Ich habe ein paar alte Kontakte, Leute, die mich noch respektieren, trotz allem. Es gibt da eine Sache, die ich plane – einen Überfall. Nichts Großes, aber genug, um uns beiden aus der Patsche zu helfen. Ich brauche jemanden, dem ich vertrauen kann, jemanden, der das zweite Fluchtauto fährt."
Lily starrte ihn an, als hätte er den Verstand verloren. "James, das ist verrückt. Ich bin nicht wie du. Ich kann das nicht."
"Doch, das kannst du," entgegnete er ruhig. "Und ich denke, tief in dir weißt du das auch. Wir sind beide in Schwierigkeiten, und das hier könnte unsere einzige Chance sein, wieder auf die Beine zu kommen."
Lily wusste nicht, was sie sagen sollte. Die Vorstellung, bei einem Überfall zu helfen, widersprach allem, was sie für richtig hielt. Aber gleichzeitig konnte sie nicht leugnen, dass sie das Geld dringend brauchte. Ihr Team brauchte es.
"Ich will dich zu nichts drängen, Lily," sagte James, als er ihre Zerrissenheit bemerkte. "Aber ich möchte, dass du darüber nachdenkst. Ich gebe dir meine Nummer. Ruf mich an, wenn du dich entschieden hast."
Er stand auf, legte ein kleines Stück Papier mit seiner Telefonnummer auf den Tisch und ging zur Tür. "Überleg es dir gut," sagte er, bevor er verschwand.
Lily blieb allein in der stillen Wohnung zurück. Ihre Gedanken rasten, und sie fühlte sich hin- und hergerissen. Einerseits wollte sie das Angebot ablehnen und sich auf ihren eigenen Weg konzentrieren. Andererseits wusste sie, dass das Geld eine Lösung für viele ihrer Probleme sein könnte.
Die Stunden zogen sich in die Länge, und Lily konnte sich nicht von dem Gedanken befreien, was James ihr angeboten hatte. Der Abend kam, und sie war immer noch unentschlossen. Sie wusste, dass sie das Team an erste Stelle setzen musste, aber die Vorstellung, sich auf eine kriminelle Aktion einzulassen, war überwältigend.
Als sie endlich ins Bett ging, konnte sie nicht schlafen. Ihr Kopf war voller Zweifel und Ängste. War das wirklich der richtige Weg? War sie bereit, so weit zu gehen?
Doch je länger sie darüber nachdachte, desto mehr keimte ein Gedanke in ihr auf: Vielleicht war dies die einzige Möglichkeit, ihre Situation zu verbessern. Vielleicht war James' Angebot eine Chance, die sie ergreifen musste, so sehr es sie auch schmerzte.
Am nächsten Morgen war Lily entschlossener als je zuvor. Sie wusste, dass sie handeln musste, bevor es zu spät war. Die Teamkasse war nahezu leer, und ohne einen Geldfluss würden sie nicht in der Lage sein, weiterzumachen. Ihre Überzeugungen mussten für einen Moment zurückstehen, um das größere Ziel zu erreichen.
Sie griff nach dem kleinen Zettel mit James' Nummer, den sie auf dem Tisch gelassen hatte. Ihre Hand zitterte, als sie ihr Handy nahm und die Nummer wählte.
Es dauerte nur wenige Sekunden, bis James' Stimme am anderen Ende erklang. "Lily?"
"Ich mache es," sagte sie mit fester Stimme. "Aber nur dieses eine Mal. Und ich will alle Details, bevor ich zusage."
Ein erleichtertes Lächeln war in James' Stimme zu hören. "Keine Sorge, du wirst alles wissen. Wir treffen uns später, um alles zu besprechen."
Als Lily auflegte, wusste sie, dass sie einen Weg eingeschlagen hatte, von dem es kein Zurück mehr gab. Sie hatte eine Entscheidung getroffen – eine Entscheidung, die das Schicksal ihres Teams und möglicherweise auch ihres eigenen Lebens für immer verändern würde.
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