Drittes Kapitel

Gegenwart, Justus

Nach einigen Minuten brach der Alarm ab. Mrs. Heathcote hatte die Tür verriegelt und die Fenster geschlossen. Sie befanden sich unten im Gebäude und sie wollte nicht riskieren, dass jemand durch die Fenster einstieg. Obwohl er nichts von dem Amoklauf geahnt hatte, hatte Justus sich bereits eingehend mit der Sicherheitsausstattung der Schule auseinandergesetzt. Er empfand es als faszinierend, welche Sicherheitsmaßnahmen ergriffen werden mussten, um die Schüler in solchen Fällen zu schützen. Zum Beispiel der drehbare Türknauf, welchen man auch von ihnen verriegeln konnte.
Er konnte nicht verhindern, dass er sich den Verlauf des Tages ausmalte. In seinem Kopf schwirrten die Statistiken und all die Informationen, die er zu diesem Thema hatte, umher. Als würde jemand hastig durch ein Buch blättern. Er konnte die Gedanken nicht stoppen, obwohl sie ihm Angst machten. Jedoch wusste er, dass es ihm nicht helfen würde, in Panik zu verfallen, weswegen er sich dazuzwang, ruhig zu bleiben und sich unter seinem Tisch zu verstecken, wie Mrs. Heathcote es befohlen hatte.


Einen Monat zuvor, Jeffrey

Die Sonne brannte und man konnte kaum einen klaren Gedanken fassen bei der Hitze.
Jeffrey setzte sich eine Sonnenbrille auf und schnappte sich das bunte Surfboard, das seine Eltern ihm ein Jahr zuvor gekauft hatten.
Unter seinen Füßen knirschten die Kieselsteine, als er die Auffahrt zu dem unauffälligen weißen Einfamilienhaus hochlief.
Vor der Tür blieb er stehen und sah sich um. Es war eine ruhige Nachbarschaft, keine Menschenseele zu sehen. Hier verirrte sich selten jemand hin, wie er wusste.
Er warf einen Blick auf das Klingelschild und seufzte. Er klingelte und blickte sich erneut um. Er konnte es sich nicht erklären, aber hier fühlte er sich unwohl. Vielleicht lag es daran, dass er lieber unter Menschen war. Oder er wollte sichergehen, dass jemand ihn hören würde, wenn er entführt werden sollte oder so.
Jeffrey sah auf, als eine dunkelhaarige Frau im geblümten Kleid die Tür öffnete und ihn freundlich anschaute. "Hallo. Du musst Jeffrey sein. Matt ist noch nicht ganz fertig, er ist in seinem Zimmer. Möchtest du kurz zu ihm hochgehen? Dein Surfboard kannst du hier an die Wand lehnen."
Jeffrey schüttelte ihr die Hand und lächelte höflich. "Einfach hier lang?", fragte er und betrat das Haus. Er deutete auf die Treppe nach oben, die gleich hinter dem Eingang auf der linken Seite erschien. Die Frau, Matts Mutter, nickte und schon eilte er die Treppe hinauf.

Es war nicht schwierig, Matts Zimmer zu finden. Matt hatte ihm bei einem ihrer sehr seltenen längeren Gespräche gesagt, dass er ein Bild von irgendeiner Rockband an seiner Zimmertür hängen hatte. Jeffrey interessierte sich nicht wirklich für Musik, weswegen er sich den Namen der Band nicht gemerkt hatte, aber als er vor der ersten Tür in dem Flur stand, fiel ihm sofort das Poster auf, das eine Gruppe von Männern mit Gitarren zeigte, die merkwürdige Kleidung trugen und extrem viel Make-up im Gesicht hatten.

Er klopfte an und als Matt ihn hereinbat, trat er ein. Die Innenaustattung des Zimmers überraschte ihn durchaus ein wenig.
Alles war in dunklen Tönen gehalten - der Schrank, das Bett und der Schreibtisch waren schwarz angestrichen - und an der Wand über dem Bett hingen ziemlich viele Fotos von irgendwelchen Menschen. Das war aber nicht das Verstörendste. Das Verstörendste war, dass Jeffrey einige dieser Menschen bekannt vorkamen, und zwar nicht, weil er sie schon einmal im Fernsehen oder einem Magazin gesehen hatte.
Mehrere Bilder zeigten beispielsweise ein junges Mädchen mit glatten braunen Haaren und einem schüchternen Lächeln. Und Jeffrey wusste zu hunder Prozent, dass dieses Mädchen nur Liv Anderson aus seinem Jahrgang sein konnte, eine Freundin von Kelly.
Jeffrey starrte die Bilder an. Sie wirkten relativ harmlos, abgesehen von ein paar Bildern, die aussahen, als hätte jemand sie an den Ecken angebrannt oder sie zerissen.

"Hi, Jeffrey", riss Matts Stimme ihn aus seinen Gedanken. "Ich bin fertig, können wir gehen?"


Gegenwart, Peter

Das Schlimmste war die Totenstille, die eintrat, sobald der Alarm verstummte. Es kehrte Ruhe in die Klassen ein und es war so leise, dass man die Jugendlichen atmen hören konnte. Auch aus den anderen Räumen drang kein Laut mehr hervor. Alle wollten unentdeckt bleiben.
Sogar die Schüsse auf dem Flur waren verstummt.
Peter schloss die Augen und dachte krampfhaft nach. Die Schüsse waren ziemlich laut gewesen und hatten nahe geklungen. Eben war eine Tür zu hören gewesen. Verdammt. Es gab eine Verbindungstür in dem Flur, an dem auch der Raum lag, indem Peter und sein Kurs sich befanden.
Plötzlich zerriss ein weiterer Schuss die Stille. Jemand in einem anderen Raum schrie, aber nicht aufgrund von Schmerzen, sondern aus Angst.
Peter kniff die Augen fest zusammen und presste die Hände auf die Ohren.
Ein schrecklicher Gedanke fuhr in seinen Kopf. Was wenn Kelly, Justus, Bob oder Jeffrey etwas passierte? Er wusste, dass Jeffrey und Bob in einem anderen Trakt waren, sie waren also erstmal außer Gefahr.
Aber warum konnte er sich ausgerechnet jetzt, wo er sich vergewissern musste, dass es ihnen gut ging, nicht daran erinnern, in welchen Räumen Kelly und Justus waren?

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