Ein neues Leben

Er rannte auf mich zu, seine Turnschuhe quietschten bei jedem Schritt auf dem glatten Boden und sein Brustkorb hob und senkte sich. Kurz vor mir blieb er stehen, wickelte seine Arme um meine Taille und zog mich zu sich.

Sein Mund senkte sich auf meinen, seine Lippen pressten sich stark und mit einer Dringlichkeit gegen meine. Er zog sich zurück und legte beide seine Hände gegen meine Wangen, und seine Daumen wischten meine Tränen dort weg.

„Es tut mir leid.“ flüsterte er abgehackt und legte seine Stirn gegen die meine. „Ich liebe dich, ich brauche dich.“

Seine Lippen legten sich wieder auf meine und pressten sich fast mit einer zerstörenden Kraft dagegen. Ich spürte wie sich sein Piercing gegen meine Unterlippe drückte und ich schwebte in einem absoluten Glücksgefühl. Reines, unbeschreibliches Glück.

Seine Zunge streichelte meine und er atmete hart und schnell durch seine Nase ein und aus. Er zog sich wieder zurück, seine braunen Augen dunkler als normalerweise, während wir einander anstarrten.

„Komm zurück.“ flüsterte er. „Komm zurück zu mir. Es tut mir leid.“

Und dann verschwand er, die wärme seiner Arme schwand von meinem Körper. Ich konnte nicht länger die tiefe Farbe seiner Augen ausmachen, oder den Geruch von Zigaretten und Zimt, den ich so gut von seinem Atem her kannte.

Er verblasste vor mir, sein Mund bewegte sicher immer und immer und immer wieder.

„Es tut mir leid....“

Und dann war er weg, gleitete davon, während ich zurück in die Realität gerissen wurde. Ich war allein in der Lobby und starrte auf die Fahrstuhltüren, nur ich und meine Gedanken, von denen ich wollte das sie passierten.

Denn er war nicht einmal da – und das würde er auch nie wieder sein.

Ich drehte mich um, und wischte sein Gesicht, seine Stimme und sein Geruch – seine Berührungen – aus meinen Gedanken. Ich verließ das Gebäude und fühlte mich unheimlich zufrieden. Mein Gesicht war immer noch feucht von den Tränen und meine Hände zitterten.

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„Komm in mein Büro.“

Sein Ton war kalt, während er mich gleichgültig anstarrte, sein Gesichtsausdruck stoisch und seine Haltung steif. Es war noch nicht mal fünf Minuten her, seit ich die Büroabteilung betreten hatte, als James hinter seiner Tür auftauchte.

Er sah natürlich wie immer gut aus, er trug eine dunkel graue Hose und ein cremefarbenes Hemd dazu, aber seine für gewöhnlich hellen Augen, erschienen irgendwie Tod.

Ich folgte ihm langsam und ignorierte den funkelnden Schimmer in Blairs Augen, als ich an ihr vorbei ging. Als ich ins Büro trat, sah ich das er sich von mir abgewandt hatte, um sich an seinen Schreibtisch zu setzen.

„Schließ die Tür.“ sagte er und sah mich dabei nicht mal an. „Bitte.“

Ich gehorchte, schloss sie mit einem leisen Klicken und stand dann regungslos vor ihm. Seine Finger waren miteinander verschränkt und sein Blick war nach unten gesenkt. Ich schluckte schwer – sollte ich etwas sagen?

„Du kannst dich setzten, wenn du möchtest.“ murmelte er und deutete auf den Stuhl vor sich. Und dann schaute er auf, und seine grauen Augen waren kühl, als sie meinen Blick begegneten. „Oder du bleibst stehen. Ist mir egal.“

Ich nickte leicht, ging hinüber zum Stuhl und ließ mich leise hinein gleiten. Ich schielte vorsichtig zu ihm hinüber, meine Brust zog sich zusammen. „Bin ich in Schwierigkeiten?“

Sein Blick hielt meinen streng, und als er nicht sofort antwortete, stockte mir der Atem. Nach einem langen Moment seufzte er, lehnte sich zurück und rieb sich mit einer Hand durch die Haare. „Nein.“ erwiderte er leise. „Nein, du bist nicht in Schwierigkeiten.“

Seine Worte linderten jedoch die schrecklich Übelkeit, die sich in meinen Inneren aufgebaut hatte, nicht. Ich atmete zitternd ein und versuchte seinen Blick zu fangen. „Wenn es hier um die Sache in der Bar geht...“

„Ich habe nicht vor das hier unangenehm zu machen.“ unterbrach er mich scharf und sah mich schließlich wieder an. Sein Blick war absolut emotionslos. „Was du in deiner Freizeit machst, ist deine Sache. Ich wollte mit dir nur über unsere Politik innerhalb dieser Mauern sprechen. Ich erwarte, dass die Professionalität aufrecht erhalten wird....“ Er hielt inne und ließ seinen Blick wieder auf seine Hände fallen. „...von euch beiden.“

Was zum Teufel konnte ich dazu sagen?

„Oh...“ stotterte ich. „Es....es tut mir leid, ich...“

„Bitte.“ begann er. „Keine Entschuldigung. Wie ich schon sagte, es ist deine Sache.“

Er sah mich immer noch nicht an und er verschränkte seine Finger erneut in einem festen Griff. Seine Worte schmerzten und ich war mir nicht sicher, wie ich in seiner Gegenwart überhaupt in der Lage war, dort zu sitzen.

Mein Herz füllte sich an, als würde es jeden Augenblick explodieren und mein Gesicht war so unerträglich heiß.

„Das ist mir so peinlich.“ gab ich leise zu. „Normalerweise benehme ich mich nicht so. Und Oliver und ich -“

„Nicht.“ unterbrach er mich kühl und ließ seinen eisigen Blick auf mir ruhen. „Ich will nicht mehr darüber reden. Das ist alles.“

Ich nickte und stand auf. Meine Beine zitterten. Als ich mich der Tür näherte, schaute ich noch einmal zu ihm und bemerkte, dass sein Blick, nicht mal ein wenig weicher geworden war. „Wir sind nichts.“ sagte ich. Meine Stimme war fast ein flüstern. „Das ist alles was ich sagen wollte. Wir...wir sind nicht zusammen.“

Mein Blick verweilte noch einen Moment länger auf ihn und schließlich huschte eine andere Emotion außer Wut und Ekel über sein Gesicht. Seine Augenbrauen hoben sich und er schien verblüfft.

Ich warf ihm ein kleines Lächeln zu, huschte aus seinem Büro und machte mich auf den Weg zu meinem Schreibtisch. Oliver stand daneben, Sorge stand ihm ins Gesicht geschrieben und als ich mich ihm näherte, griff er nach mir.

„Ist alles in Ordnung?“ murmelte er, seine Finger wickelten sich um meinen Unterarm. „Ich meine, bist du okay?“

Ich löste mich aus seinem Griff und tätschelte ihm leicht auf den Arm. Als mein Arm wieder an meiner Seite ruhte und ich meinen Mund öffnete, um ihn zu sagen, was passiert war, kam James wieder aus seinem Büro.

„Oliver.“ begann er, sein Blick huschte zwischen uns beiden hin und her. „Kann ich dich kurz sprechen?“

Oliver erbleichte und nickte, er schaute kurz zu mir rüber, bevor er sich auf den Weg zu James machte. Ich schaute meinen Chef in die Augen, als mein Freund an ihm vorbei in sein Büro schlüpfte, wie ich es zuvor getan hatte und er schenkte mir, dass sanfte, kaum vorhandene Lächeln, dass ich ihm gegeben hatte, als ich sein Büro verlassen hatte. Und dann verschwanden beide und ließen mich wieder allein zurück.

Ich war relativ gefasst, als ich mich an meinen Schreibtisch setzte. Ich blätterte durch einen Ordner mit Papieren und nahm hin und wieder einen Schluck, von meinen abkühlenden Kaffee, aus dem billigen Reise-Becher, den ich am Laden an der Ecke gekauft hatte.

Erst als Blair neben meinem Schreibtisch auftauchte, ihr blondes Haar wie immer makellos und ihr Make-up tadellos, spürte ich wie sich etwas – etwas total unklares in mir regte. Sie setzte sich auf die Kante meines Schreibtisches, glättete die Oberseite ihres Tweedrocks und lächelte boshaft zu mir hinunter.

„Sieh an, sieh an.“ begann sie, ihre Stimme triefte nur so vor pseudo-süße. „Ich bin Überrascht, dass du es heute hierher geschafft hast.“

Ich schaute nicht zu ihr auf. „Guten Morgen, Blair.“

Sie schnaubte darauf hin, verschränkte ihre Beine und beugte sich zu mir hinunter. Ihre Nägel waren frisch manikürt – ich konnte praktisch das Acrylgel unter ihnen riechen. Ich entschied mich sie zu ignorieren und es schien für den Augenblick zu funktionieren, bis sie sich so nah zu mir hinunter beugte, das mir Wolken von ihren süßen Parfüm, das an ihren Nacken und an ihrer Bluse klebten, in die Nase stiegen.

„Du hast aus dir selbst einen verdammten Narren gemacht.“ sagte sie laut und fing somit die Aufmerksamkeit von den anderen um uns herum. Als ich zu ihr aufsah, schaute sie mich durch verengte Augen an und beobachtete mich mit kompletter Verachtung. „Ich hatte mehr von euch beiden erwartet.“

Ich wusste, dass sie sich auf Oliver und mich bezog – besser gesagt auf unseren Tanz und unser schmutziges Herumgeknutsche und allgemeine Trunkenheit – aber ich entschied mich erneut, es zu ignorieren.

Ich schaute auf das Papier, nachdem ich gesucht hatte – das Blatt, auf das ich, während unseres Interviews mit ihnen, einige ungeschickte, kurze Sätze gekritzelt hatte – ich behielt die Kontrolle über meine Atmung und meinen Gesichtsausdruck. Es entstand jedoch ein bestimmtes Gefühl tief in mir, und Blairs Anwesenheit verstärkte es nur noch.

„Ich rede mit dir.“ sagte sie nun gereizt, und schlug eine dünne Hand auf mein Blatt. Ich zuckte ein wenig zusammen und der Raum war von einer schaurigen Stille eingenommen worden. Ich hob meinen Blick langsam zu ihren und der finstere Blick auf ihren hübschen Gesicht wuchs nur noch. „Du musst mit ihm in ein paar Schwierigkeiten stecken, nicht wahr?“

Ein Lächeln zupfte an meinen Mundwinkeln. „Nicht das es dich was angehen würde, aber nein. Tu ich nicht.“

Der ruhige Moment der folgte, kombiniert mit dem Erstaunten Blick und dem Schock auf ihrem Gesicht, schienen eine Ewigkeit anzuhalten. Sie beugte sich noch näher, der Duft ihres Parfüms erstickte mich fast.

„Du bist ein größerer Idiot als ich dachte.“ Ihre Stimme war zu einem Flüstern geworden, aber ich wusste, dass sich alle Ohren im Büro nur auf uns konzentrierten. „Ich weiß nicht was er in dir, mit deiner billigen Umhängetasche und den Apotheken Fettstift gesehen hat, aber was auch immer es auch war....es ist jetzt weg.“ Sie setzte sich wieder etwas auf und lächelte wieder boshaft. „Weil du dich für den dreckigen Hipster entscheiden hast und dich selbst als Schlampe präsentiert hast.“

Ich war jetzt an der Reihe zu verstummen, und starrte sie nur mit weit aufgerissenen Augen an. Sie hatte nicht nur gerade unwissentlich zugegeben, dass sie mir gegenüber Feindselig gestimmt war – sondern das es wegen James war. Ich atmete einmal, zweimal tief ein. Ihr lächeln wurde breiter.

„Gute Arbeit, Annie.“ sagte sie leise, und hopste von meinem Schreibtisch. Sie warf mir einen Blick über ihre Schulter hinweg zu und grinste. „Ich wünsche dir einen schönen Tag.“

Während sie, Hüfte schwingend und mit Haaren die wunderschön ihren Rücken hinunter schimmerten, zurück zu ihren eigenen Schreibtisch lief, begann schließlich das Gefühl, dass die ganze Zeit in meinen Magen gebrodelt hatte, an die Oberfläche zu steigen.

Und als Oliver wieder aus dem Büro kam, einen beruhigten Ausdruck auf seinem Gesicht, schwappten die Emotionen in einer atemberaubenden Welle über mich, und nahmen mein ganzes Wesen ein. Ich stand schnell auf, schmiss jegliches Gefühl der Logik und der Zweifel beiseite, und machte mich auf den Weg zu James Büro.

Vielleicht waren es Blairs schreckliche Worte – oder vielleicht war es das Gefühl der Zurückweisung, dass ich letzte Nacht erlebt hatte. Vielleicht war es einfach nur die Tatsache, das ich jemanden verloren hatte, für den ich soviel empfand und das ich nichts dagegen tun konnte.

Was auch immer der Auslöser war, ich wusste das es stimmte – ich war damit fertig, ein Rückgratloser Idiot zu sein. Ich war damit fertig, der Narr zu sein, auf den alle herum trampelten. Und eine stärkerer Version von Anna – wenn auch nicht annähernd so grandios, wie ich sie gerne hätte – übernahm.

Als ich die Tür öffnete, entschied ich mich, sie nicht hinter mir zu schließen. James schaute von seinem Schreibtisch auf, seine kühlen Augen weiteten sich, als er mich vor sich stehen sah. Er öffnete seinen Mund um zu sprechen, aber ich schritt nach vorne, bevor er das tun konnte.

Wird schon schiefgehen.

„Es tut mir leid wegen der Nacht in der Bar.“ sagte ich in einem langen, atemlosen Satz. „Und es tut mir so leid, dass ich so ein Idiot bin. Aber ich bin hier, um dir zu sagen, wie ich tatsächlich fühle, denn ich bin es leid so verdammt dumm und wankelmütig zu sein.“

Ich trat noch einen Schritt vor. Ich zitterte. James starrte mich nur wortlos mit leicht geöffneten Mund an.

„Ich fühle mich zu dir hingezogen, seit dem Tag an dem ich hier angefangen habe.“ fuhr ich fort, meine Stimme zitterte ein wenig. Ich schluckte schwer...“U-und....ich weiß, das ist......das ist völlig unangemessen und du wirst mich vermutlich feuern oder was auch immer – aber...ich musste...“

Er sog scharf die Luft ein und schnitt mir meinen Satz somit ab. Ich schaute Unsicher zu ihm auf. Er starrte mich mit einem unlesbaren Ausdruck an und als er aufstand, verstärkte sich das zittern meiner Hände.

Ich hatte mich in Schwierigkeiten gebracht, dessen war ich mir sicher, und ich konnte es in seinen Augen sehen, als er auf mich zu schlenderte. Er blieb vor mir stehen und meine Augen schlossen sich unwillkürlich.

Ich würde gleich, für das 1000 Mal in dieser Woche, so wie es schien gedemütigt werden. Während ich unruhig seine missbilligende Antwort erwartete, hämmerte mein Herz in meiner Brust wie wild. Ich hörte wie er langsam ausatmete und dann, wie die Tür hinter mir mit einem klicken geschlossen wurde.

Ich spähte durch ein Auge und sah, dass er ganz nahe vor mir stand, unsere Oberkörper berührte sich fast. Er schaute zu mir runter und atmete in langen, gleichmäßigen Zügen, und seine Augen waren dunkel – aber nicht in der selben schrecklichen dunklen Färbung, wie sie es gewesen waren, als er fast eine Stunde zuvor mit mir gesprochen hatte.

Und dann fing ich den Duft seines Aftershaves auf und spürte die Wärme seiner Brust gegen meiner, und etwas warmes und feuchtes drückte gegen meinen Mund. Mir stockte der Atem und ich blieb wie versteinert stehen, als mich die Erkenntnis traf, das seine Lippen auf den meinen lagen. James küsste mich.

Sein Mund war gegen meinen gepresst. Er legte einen Arm um mich, und zog mich noch näher an sich und ich keuchte in den Kuss. Er setzte seine wilden Bewegungen fort, sein Mund so weich und einladend, wie er so mit meinen verschmolz. Er fuhr mir mit einer Hand durchs Haar und legte sie gegen meinen Hinterkopf.

Als er sich schwer atmend und mit geschwollenen Lippen von mir löste, blinzelte ich zu ihm auf. Das war so verdammt unwirklich – passierte das hier tatsächlich?

Meine Lippen zitterten und ich atmete ein paar mal tief durch, um mich wieder etwas zu beruhigen. „Was....was ist mit dem, was du mir vorhin gesagt hast? Was du über das....das Aufrechterhalten der...?“

Bevor ich meinen Satz jedoch beenden konnte, war sein Mund wieder auf meinen und seine Zunge streichelte gegen meine Unterlippe. Er zog sich wieder zurück, sein minziger Atem strich gegen meine Lippen und er schaffte es gerade mal vier Worte hervor zu keuchen. „Scheiß auf die Professionalität.“

Dieses mal zog ich seinen Kopf wieder zu mir hinunter.

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Schnellvorlauf. Drei Monate später saß ich auf der Nordseite der Stadt, in einem mäßig vornehmen Restaurant. James saß mir gegenüber. Er trug ein einfaches dunkles Hemd, mit seinem üblich gebügelten Hosen, seine Haare ordentlich frisiert und seine Augen weich und wunderschön in dem schwachen Licht.

Er sah genauso unglaublich aus, wie am ersten Tag, als ich ihm zum ersten mal gesehen hatte und ich war immer noch voller Ehrfurcht, das er mich gewählt hatte.

Nachdem sich die Situation nach meinem Geständnis in seinem Büro entfaltet hatte, wurden wir sowas wie ein Paar, und verbrachten unsere Samstag-Abende in Restaurants und Kinos, und unsere Sonntag-Nachmittage mit einem Film und einer Decke auf der Coach.

Im Verlauf der letzten drei Monate erhielt ich durchweg, wahrscheinlich an die 100 Nachrichten von Bill, in denen er mich anflehte zu antworten.

Jeden einzelnen vermissten Anruf oder SMS, löschte ich kurzerhand und löschte ebenso jeden Überrest von ihm und seinem schrecklichen Bruder aus meinen Leben. Die zwei aus meinen Erinnerungen zu löschen war beinahe unmöglich – ich konnte Bills verzweifelte Versuche mich zu kontaktieren ignorieren – aber die Erinnerungen an ihm und Tom verweilten immer noch in meinen Gedanken.

Zum Glück hatte Bill seine Versuche nach etwa einen Monat eingestellt und James war dagewesen, und hatte mir etwas angeboten, dass ich so lange ersehnt hatte. Normalität. Eine gesunde Beziehung. Und während ich so mit ihm dasaß und er mir das Getränk meiner Wahl bestellte – einen Long Island – verspürte ich reines Glück.

Manchmal dachte ich sogar noch darüber nach, was Tom wohl gerade machte und fühlte mich so verdammt schuldig dabei.

Es gab Nächte, in denen ich wach in meinem Bett lag und mich fragte ob er mit seiner wunderschönen Freundin in seinem eigenen Bett lag, und ebenfalls an mich dachte.

Ich erzählte Vic noch Wochen danach davon was passiert war, manchmal weinte ich leise dabei und andere male versprühte ich blindwütig Hass und Groll. Er sagte mir jedes mal das selbe - dass ich sie beide aus meiner Erinnerung verbannen sollte und mich daran erinnern sollte, wie schrecklich und instabil die Beziehung mit Tom gewesen war.

Das klappte zum größten Teil, aber ich fühlte mich jedes mal am Boden, wenn James seine Lippen auf meine presste und ich das Fehlen eines Lippenrings bemerkte.

Während wir uns Essen aßen, fühlte ich mich unwohl. Da war dieses eindeutige Gefühl, beobachtet zu werden und es verstärkte sich nur noch, als die Stunden verstrichen. Ich stocherte in meinem Essen herum – eine cremige Pasta Version, die Toms, von dem Abend an den wir uns nach unserer ersten Begegnung getroffen hatten, beunruhigend ähnlich sah – aber das Unbehagen schwankte kein bisschen.

„Anna?“

James Stimme durchbrach meine Gedanken und ich riss meinen Blick nach oben. Er schien besorgt, während er mich anschaute, sein Mundwinkel nach unten gezogen und seine Gabel hing über seinen Steak wie eingefroren. „Alles in Ordnung? Du schaust nicht gut aus.“

Ich lächelte schief, legte meine Gabel beiseite und legte meine Serviette vorsichtig neben meinen Teller. „Mein Magen fühlt sich nicht so gut an.“ begann ich und es war keine direkte Lüge. „Ich glaube, ich muss auf die Toilette.“

Er runzelte die Stirn noch weiter. „Brauchst du meine Hilfe, soll ich mitkommen?“

Ich lachte leise und stand auf. „Ich glaube nicht, dass du mit mir auf die Damentoilette kommen kannst, James.“ Ich beugte mich hinunter, um ihm einen Kuss auf den Mund zu geben. „Ich komm schon klar.“

Als ich mich auf den Weg zu dem langen, viel dunkleren Flur machte, auf dem sich die Toilettenräume befanden, hatte ich immer noch das Gefühl beobachtet zu werden. Ich schaute mich schnell um und untersuchte den Bereich, aber ich fand nichts Außergewöhnliches.

Als ich in den Flur schritt und die Toilettentür aufdrückte, spürte ich einen festen Griff an meinen Handgelenk. Bevor ich schreien konnte, war ich im inneren, des leeren, hellen Raums und wurde von einem starken, festen Körper gegen die Wand gedrückt.

Ich schrie beinahe, bis ich das Gesicht vor mir sah – und selbst als ich seine Augen und seinen Mund erkannte – hätte ich aus voller Kehle schreien sollen. Aber das tat ich nicht.

„Was zur Hölle machst du?“ keuchte ich gegen ihm, seine Hände griffen beide meiner Schulterblätter fest. „Ich werde schreien, wenn du mich nicht los lässt.“

Seine Atmung war genauso abgehackt wie meine – und er sah fast genauso aus, wie vor drei Monaten. Der gleiche große, schlanke Körper und die dunklen Augen. Der gleiche Lippenring und das ärgerlich vertraute höhnische grinsen was daran zog.

Er trug einen weißen, zugeschnittenen Sweater, dessen Ärmel hochgekrempelt waren, damit man seine Unterarme sehen konnte, und eine dunkle Hose.

Etwas hatte sich jedoch erheblich verändert. Die langen, pechschwarzen Zöpfe, die sich normalerweise über sein Shirt verteilten, waren nicht mehr da. Seine Haare waren immer noch dunkel, aber glatt und lang, und ich kann es verdammt noch mal nicht erklären – einfach – normal. Es wurde von einem losen Band nach hinten gehalten und lukte unter einer seiner üblichen dunklen Caps hervor.

Ohne diese komischen Zöpfe im Haar, schien er so viel normaler, und das nervte mich.

„Was ich mache?“ keuchte er und schritt näher. „Was verdammt nochmal machst du, Anna?“

„Lass mich los.“ wiederholte ich mit zitternden Lippen.

„Nein.“ erwiderte er und schüttelte seinen Kopf. „Nicht bevor du nicht mit mir geredet hast.“

„Lass los.“ flüsterte ich und starrte ihn an. „Ich werde schreien -“

„Ist mir scheißegal.“ knurrte er und seine Miene verdunkelte sich. „Du hast meinen Bruder in den letzten scheiß drei Monaten ignoriert. Ich lass dich nicht gehen, bevor du redest.“

„Du darfst hier nicht rein.“ flüsterte ich erneut. „Lass mich los, du darfst nicht hier drin -“

„Halt die Klappe.“ er kochte förmlich, seine Zähne gefletscht, als er sich näher lehnte. Ich konnte seinen warmen Atem gegen meiner Wange spüren. „Halt verdammt nochmal deine Klappe und hör mir zu.“ er hielt kurz inne und atmete schnell, sein griff wurde fester. „Ich bin durch mit diesen Spielchen. Du bist mir scheißegal, aber meinen Bruder nicht.“

Ich schaute ihn einen langen Moment schweigend an und nahm die Wut die sich auf seinen schönen Zügen gelegt hatte auf. Er zitterte förmlich, während er mich festhielt und ich lächelte leicht. „Ich habe die Spielchen auch satt.“ erwiderte ich und mein grinsen wuchs. „Deshalb habe ich euch beide gelöscht. Du bedeutest mir nichts.“

Seine Augen weiteten sich ein wenig, nachdem die Worte meinen Mund verlassen hatten und er lehnte sich ein wenig zurück. Ich schaute von einer seiner Hände zur anderen, packte sie dann beide und schob sie von mir runter. „Ich bin jetzt ein anderer Mensch, Tom. Du oder deine Worte treffen mich nicht mehr.“

Als ich von im weg trat und Richtung Tür ging, schaute ich nochmal zu ihm. „Ich lebe mein Leben ohne dich und ich schlage vor, dass du das auch tust.“

Ich musste ihn damit noch wütender gemacht haben, denn er trat schnell hinter mich und knallte die Tür zu, auf eine Art, wie es James Monate zuvor getan hatte.

James, mein großartiger und wunderbarer Freund – der Mann, der sich für mich Interessierte und der mir solch eine Stabilität gegeben hatte. James.

„Schon komisch, wie wir ständig ineinander laufen, oder nicht?“ begann er mit leiser Stimme und presste seinen Körper näher an meinen. „Zufall das wir beide heute Abend hier sind, nicht?“

„Lass mich gehen.“ erwiderte ich kühl, ohne ihn anzusehen.

Seine Finger ballten sich, während sie auf dem dunklen Holz der Tür lagen und er stieß ein leises, trockenes Lachen aus. „Das ist unglaublich.“ er stand immer noch hinter mir. „Was ist, bist du jetzt eine herzlose Schlampe oder so was geworden? Du bist zu gut für mich, ist es das?“

Ich drehte meinen Kopf nur leicht, mein Blick traf seinen langsam und ich lächelte erneut. „Das stimmt genau.“ Und das war es. Ich war hier drüber hinweg, unsere seltsamen Begegnungen miteinander und die heftigen Auseinandersetzungen. Ich war mit all dem fertig.

Meine Gleichgültigkeit ihm gegenüber oder zu der Realität dass wir so nah beieinander standen, schien ihn deutlich weiter zu erzürnen, und seine Finger schlangen sich um meinen Arm und drehten mich um, um ihn anzusehen. „Was zum Teufel machst du hier überhaupt?“ zischte er und kniff die Augen zusammen. „Ist dieser Ort nicht ein wenig außerhalb deiner Reichweite?“

Ich leckte über meine Unterlippe. Ich durfte ihm nicht zeigen, dass seine Misshandlungen mich immer noch beeinflussten – ich war immerhin eine neue Frau. Ein stärkere Frau. Ich brauchte ihn nicht. Ich würde auf seine Sticheleien nicht mehr reagieren, denn ab jetzt, würden wir nie wieder die selben sein. Wir würden nicht streiten oder diskutieren oder uns zanken, denn wir waren überhaupt nichts.

„Ich könnte dich wegen tätlichen Angriff verhaften lassen.“ antwortete ich und nickte runter zu seinen groben Griff an meinen Arm. „Ich schlage vor, du lässt mich jetzt gehen.“

Seine Augen weiteten sich daraufhin wieder ein wenig und er suchte meinen Blick. Er war total verwirrt und ich liebte es.

„Warum hast du seine Anrufe ignoriert?“ verlangte er zu wissen, seine dunklen brauen zogen sich zusammen. „Sags mir. Was hat er getan?“

„Nichts.“ antwortete ich trocken. „Er hat nichts gemacht. Bitte entferne deine Hände von mir.“

„Das war es also?“ flüstere er, sein Blick wanderte von meinen zu meinen Mund. Er schaute mir wieder in die Augen, Verwirrung war deutlich in seinen abgehärteten Blick zu sehen. „So solls laufen?“

„Ja.“ Ich schob seine Hände erneut von mir. „Sag ihm, das es mir leid tut.“

Als ich an ihm vorbei ging, um die Tür zu öffnen, sah ich, wie sein Körper leicht gegen die Wand fiel, aus Schock oder Unglaube, oder was immer es auch war. Er murmelte etwas, auf Deutsch glaube ich, vor sich hin und dann sagte er zu mir. „Und ich? Was ist mit mir?“

Ich warf ihn einen langen Blick zu. „Was soll mit dir sein?“

Er machte ein langes Gesicht, sein Blick schwankte und seine Unterlippe zuckte leicht. Seine Stimme brach als er sprach und unter vorherigen Umständen, hätte ich vielleicht darauf reagiert. „Du hast mir nichts zu sagen?“

Ich schaute ihn ein wenig länger in die Augen, während ich mir meine Antwort überlegte. Was konnte ich ihm sagen? Ich liebe dich so sehr das es schmerzt. Du hast mir mehr weh getan, als du jemals erfahren wirst...Nein. Das konnte ich nicht. Ich musste meine Stärke aufrechterhalten – ich würde nicht zu lassen, das er mich zerstört.

„Du bist für mich gestorben.“ antwortete ich letztendlich und wenn man von dem gequälten Ausdruck auf seinem Gesicht ausgeht, hatte ich gewonnen.

Ich verließ den Raum und schloss die Tür.

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Es war zwei Uhr in der Früh, als mein Handy geräuschvoll neben meinem Ohr klingelte. Ich lag alleine in meinem Bett, völlig schlaftrunken, aber antwortete trotzdem und erwartete, Vics betrunkene Stimme darüber plappern zu hören, wie schrecklich seine Nacht war oder vielleicht sogar Oliver von einer lokalen Bar.

Ich brachte das Handy zu meinem Ohr, meine Augen immer noch geschlossen. Meine Stimme klang gedämpft als ich antwortete. „H-hallo?“

Schweres atmen erklang von der anderen Seite der Leitung und es klang als würde jemand leise weinen. Ich setzte mich ein wenig auf und rieb über meine Augen. „Hallo?“

Und dann hörte ich seine Stimme. „An....Anna?“

Ich stöhnte innerlich – warum war ich dran gegangen ohne auf mein Display zu schauen? Ich presste zwei Finger gegen meine Schläfe und atmete dann tief durch. „Es ist zwei Uhr morgens, Bill. Was willst du?“

„B-bitte.“ antwortete er mit leiser, gebrochener Stimme. „Bitte, ich brauche dich hier.“

Ich gähnte gegen meine Hand. „Ich geh wieder schlafen. Gute Nacht, Bill.“

„Anna, bitte.....es ist....es ist Tom, er ist...“

„Ist mir egal.“ schnauzte ich. „Ich bin mir sicher dass er dir von unserer Begegnung heute Abend erzählt hat und das mir das alles so leid tut, aber das ich damit fertig bin. Ich leg jetzt auf.“

„Er ist....er ist so verdammt dumm, Anna.“ flüsterte er weiter. „Er wird sich zu Tode trinken, er fragt dauernd nach dir....und....und ich weiß nicht was ich tun soll.“

„Ist Ria nicht da?“ fragte ich kühl. „Sie kann helfen. Sie ist immerhin seine Freundin.“

„Bitte.“ flehte er. „Ich habe keine anderen Möglichkeiten. Bitte...“

„Ruf einen Krankenwagen.“ antwortete ich mit flacher und emotionsloser Stimme. „Oder die Anonymen Alkoholiker. Ich geh schlafen.“

Seine kleinen Schluchz-Geräusche und schwere Atemzüge wurden noch deutlicher, als ich mein Handy von meinem Ohr nahm. „Anna....“ hörte ich seine gedämpfte Stimme wieder. Als ich mein Handy langsam wieder zu meinem Ohr brachte, hörte ich ihm sagen. „Wenn du ihn noch irgendwie liebst....wenn er dir noch irgendetwas bedeutet, bitte....“ er hielt kurz inne und atmete zitternd ein. „Er braucht dich.“

Wir wurden entweder unterbrochen, oder Bill hatte aufgelegt, denn ich hörte das Freizeichen von der anderen Seite.

Während ich auf mein Handy starrte, erhöhte sich mein Herzschlag und mein Mund trocknete aus. Ich fühlte mich hilflos.

Die Minuten verstrichen, mein Kopf ruhte in meinen Händen. Bills verzweifeltes flehen am Handy und das Bild von Toms schmerzverzerrtem Gesicht auf der Toilette vorhin, kamen mir in den Sinn. Ich seufzte. Gott verdammt.

Als ich eine Jogginghose anzog und mir meine Schlüssel schnappte, schrie mir ein Teil meines Verstands die Worte entgegen, die Blair mir vor drei Monaten entgegen geworfen hatte – du bist eine verdammte Närrin.

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