Böses Erwachen
Ich war nicht überrascht, nachdem ich 20 Minuten nach dem Anruf dort an kam, die Tür unverschlossen vorzufinden. Ich wusste, ich würde in meinen zerknitterten Schlafoutfit und mit meinen Haaren, die willkürlich von einem losen Band zurückgehalten wurden, einen ziemlich beeindruckenden Anblick abgeben, als ich meinen Weg in meiner Schlaflosen Benommenheit durch die Stadt machte.
Ich war zu diesem Zeitpunkt, weit über den Punkt der Erschöpfung hinaus, und das Adrenalin hatte mit voller Kraft eingesetzt und hielt mich davon ab anzuhalten und mich selbst daran zu erinnern, wie gefährlich es war, um drei Uhr morgens alleine in der Gegend herumzulaufen – ganz egal wie grauenhaft und unattraktiv ich aussah. Und ich sah wie eine totale Katastrophe aus.
Als ich oben ankam, vorher unten an der Rezeption in der Lobby vorbei ging, an der, statt der blonden Nummer die ich damals gesehen hatte, eine viel schwerere und viele ältere Frau saß, war ich bereit die Tür aufzutreten und zu brüllen, dass ich mit all dem durch war.
Aber mir wurde schon bald sehr bewusst, wie schwierig es eigentlich war, eine Tür aufzutreten, die aus dichtem, schweren Holz gemacht war, und mein Fuß pochte schmerzhaft, nach einem eher mitleiderregenden dumpfen Geräusch, das von der Türoberfläche ertönte.
Ich trat zurück, schnaufte enttäuscht und fühlte mich noch wütender und beschämter und einfach deprimiert.
„Scheiß drauf!“ sagte ich laut zu mir selbst, zu den angrenzenden Wohnungen, zu der ganzen Welt. Scheiß drauf.
Ich öffnete die Tür und ignorierte das dumpfe brennen, dass immer noch meine Zehenspitzen kitzelte, als ich in das eigentliche Apartment trat und war sofort von meiner Umgebung abgeschreckt.
Die Wohnung, in der ich das letzte mal gewesen war, war warm gewesen, gut beleuchtet und behaglich – sie war fast lebendig. Der Bereich, in dem ich nun stand, war so unglaublich anderes.
Die Umgebung war in Dunkelheit eingehüllt, nur ein kleines Licht über der Küchentheke, warf ein sanftes Leuchten über ihre Oberfläche. Der Raum war ebenfalls kühler als normal und schickte einen Schauer durch meinen Körper, obwohl ich in einem Hoodie und Jogginghosen gekleidet war.
Das Gefühl der Unbehaglichkeit wuchs nur noch, als ich weiter in die Wohnung trat und mich zögernd um sah.
„Hallo?“ rief ich und schlang meine Arme um meinen Bauch, um mich warm zu halten. Mit wenig Erfolg. Ich trat näher an die Küche, wo das kleine Licht hing und versuchte es erneut. „Hallo? Irgendjemand?“ Ein Moment verging, und immer noch nichts – kein Windhauch oder das fallen einer Nadel oder sonst was.
Ich schaute über meine Schulter zum Herd, wo die Neongrünen Ziffern der Uhr mich verspotteten. Jup, dachte ich mir im Stillen. Es ist drei Uhr Früh und da stehst du nun. Du bist der größte Idiot auf der Welt.
Der Gedanke allein, war genug Ansporn für mich, auf der Stelle umzudrehen und verdammt noch mal hier zu verschwinden, und mich selbst dafür zu treten, dass ich es überhaupt versucht hatte.
Als ich die Küche verließ und es durch die schaurig, dunkle Umgebung machte, vibrierte ein leises rhythmisches Geräusch über den Paketboden hinter mir und eine eindeutig männliche Stimme rief: „Anna – warte.“
Kurz vor der Tür blieb ich stehen und drehte mich um, und sah eine schlanke Gestalt, etwas in sich zusammengesunken, nicht weit von mir entfernt. Das einzige körperliche Merkmal das ich im Schatten wirklich ausmachen konnte, war ein Platin blonder, feuchter Haarschopf, der hinter die Ohren geklemmt war.
„Bitte.“ begann er abermals und kam auf mich zu. Seine Stimme war leise, fast ein flüstern und als ich schließlich sein Gesicht sehen konnte, fühlte ich mich wie gelähmt. Es war blass, abgespannt, wunderschön und so kantig, wie es immer gewesen war, aber seine ganze Mimik war von Sorge durchzogen und seine Augen waren von dunklen Rändern umgeben.
Er sah so ausgemergelt und gebrechlich aus, und das absolut schlimmste war, dass jede Unze quirlige Lebhaftigkeit von diesen Mann, völlig verschwunden war. Gekleidet in ein paar dunkler Jogginghosen und einem einfachen weißen T-Shirt – beides ungewöhnlich zerknittert für ihn – kam er näher. „Bitte, Anna.“
Es hätte fast funktioniert. Fast. Sein trauriges Auftreten, seine gebrechliche Erscheinung, und das leise flüstern seiner Stimme, beeinflusste mich fast genug, um den ganzen Scheiß zu vergessen, und in seine Arme zu rennen und ihm zu sagen, dass mir alles so leid tut.
Aber dann kamen die Erinnerungen von vor fast einem Jahr wieder zurück und ich erinnerte mich ganz schnell selbst wieder, an all den dramatischen Scheiß, der zwischen uns dreien abgegangen war. Und ich war ein neuer Mensch, eine neue Frau, verdammt noch mal. Ich machte das nicht mehr.
Also, anstatt ihm zu fragen wo sein Bruder war, oder was ich tun konnte um zu helfen, oder wie es weiter gehen sollte, machte ich das nächst beste und äußerte mich so lässig wie möglich: „Warum ist es so dunkel hier?“
Seine Augen weiteten sich ein wenig, wegen des kalten, leblosen Tons meiner Stimme, aber milderten sich gleich wieder in ihre üblich warme Farbe. „Ich brauche es dunkel.“ antwortete er und schaute zu Boden. „Ich hab seit Tagen nicht richtig geschlafen. Ich habe gehofft, dass der dunkle Raum mir helfen würde.“
„Oder eine Schlaftablette.“ schnappte ich und verschränkte meine Arme vor meiner Brust. Er schaute einmal mehr erschrocken wegen meiner Antwort, meiner Stimme drein – aber das war mir egal. „Warum hast du mich her gebeten?“
„Das habe ich dir am Telefon gesagt.“ brachte er hervor, seine Worte verfingen sich in seiner Kehle. „Tom....e-er -“
„Trinkt sich zu Tode.“ fiel ich ihn scharf ins Wort. „Dessen bin ich mir bewusst.“ ich hielt inne und legte meinen Kopf etwas schief und betrachtete den schlanken, jungen Mann vor mir. „Die Frage hier ist, bist du dir darüber bewusst, dass es drei Uhr morgens ist?“
„Ich wusste nicht wen ich sonst -“
„Oh!“ mein lachen war laut und trocken, und total humorlos, und mein Kopf kippte tatsächlich in meinen Nacken, als das Lachen meinen Mund verließ. „Oh nein. Fang erst gar nicht damit an.“
Er blinzelte, seine Arme hingen schlaff an seiner Seite. „Was?“
Ein weiteres lachen, dieses mal sanfter. Ich lehnte mich gegen die Wand, meine Schulter stieß gegen den Lichtschalter und schaltete ihn ein. Die Umgebung um uns herum, wurde schnell im warmes Licht getaucht und hob jede Linie und jeden Schatten auf Bills jungen Gesicht hervor, er blinzelte heftig wegen der plötzlichen Helligkeit.
„Ria.“ zischte ich, ihr Name schmeckte bitter auf meiner Zunge. Ich stieß meinen Körper von der Wand ab und rieb über meine Schulter, die leicht an der Stelle kribbelte, gegen die der Schalter gepresst war. Meine Worte kamen problemlos in einem unbeschwerten Rhythmus. „Ria, Ria, Ria. Klingelt bei dem Namen irgendwas?“
Er ließ seinen Kopf hängen, aber antwortete nicht, und sein Blick mied meinen und das machte mich nur noch wütender. „Hallo?“ drängte ich und wedelte mit einer Hand vor ihm herum. „Klingt Ria familiär? Das sollte es, wenn man bedenkt, dass sie mit deinem Bruder vögelt.“
Er atmete zittrig ein und hob schließlich seinen warmen Blick, um den meinen zu treffen, aber ich besänftigte meinen Ausdruck nicht mal für eine Sekunde.
Der Mann vor mir, sah so unglaublich erbärmlich, gebrochen und ich weiß nicht mal, was sonst noch, aus – aber er war nicht der Mann, an den ich mich gewöhnt hatte – die feurige Persönlichkeit und der schnelle Humor und trockene Sarkasmus – all das war weg, und zurück blieb die Hülle eines Menschen, den ich einmal kannte.
„Das ist mir gegenüber nicht fair.“ sprach ich erneut, fest und gerade heraus. „Im vergangenen Jahr wurde ich wie ein Spielball hin und her gezogen, Bill. Das Drama und die ständigen Streitereien und die Tränen und....und das saufen und die Anrufe mitten in der Nacht – das ist....das ist vorbei.“ beendete ich meine Rede, seufzte leise und schaute dann zu ihm. Seine Augen waren feucht und seine Wangen hatten mehr Farbe. „Verstehst du nicht? Es ist vorbei.“
Die Stille war unerträglich, aber hielt nicht lange an, weil Bill schließlich tief einatmete und sich mit einem Fingerknöchel die Feuchtigkeit unter seinen Augen wegwischte.
„Ich habe dich her gebeten.“ begann er, seine Stimme belegt und müde. Sein Blick traf meinen, immer noch leicht feucht, aber mit nicht mehr so rosige Wangen. Und seine nächsten Worte sagte er fester, nicht mehr so zittrig und sie kamen geradewegs heraus und hauten mich förmlich um. „Und du bist gekommen.“
Verdammte Scheiße.
„Warum.“ forderte er weiter, sein Blick hielt meinen. „Wenn das wirklich alles vorbei ist, und es dir egal ist, warum bist du dann hierher gekommen?“
„Du hast mich darum gebeten -“
„Aber wenn es vorbei ist, würde was ich sage keine Rolle spielen, oder?“
Und nochmal, verdammte Scheiße.
Ich massierte mir meine Schläfen und schloss meine Augen für einen Moment, um zu versuchen, alles um mich herum auszublenden. Das konnte nicht wahr sein. „Ich habe das alles hinter mir gelassen.“ gelang es mir ihm zu sagen und ich ließ meine Finger wieder zurück an meine Seite fallen.
Ich öffnete meine Augen und sah ihn an, aber sein Blick gab nicht nach. „Und Tom hat das alles hinter sich gelassen.“ wies ich ihn drauf hin und verspannte mich bei der Erinnerung, die kleine, wunderschöne Frau, auf seinen Schoss sitzen zu sehen. „Wir haben das beide hinter uns gelassen.“
„Du hast meine Frage nicht beantwortet.“ erwiderte er leise. „Du kannst mir ruhig sagen, das du dein Leben weiter gelebt hast, aber das erklärt nicht, warum du hier bist. Und soweit es meinen Bruder -“ er hielt inne, ein kleines lächeln huschte kaum merklich über sein Gesicht. „Wenn er dass alles hinter sich gelassen hat, wie du sagst, dann läge er jetzt nicht halb Bewusstlos in seinen Zimmer auf seinem Bett.“
Ich ignorierte den Druck in meiner Brust und den dumpfen Schmerz in meinem Bauch, und rollte mit den Augen. Ich zog den Riemen meiner Tasche höher auf meine Schulter und wandte mich von den blonden vor mir ab. „Ich weiß nicht warum ich her gekommen bin.“ gab ich zu. „Aber es war ein Fehler. Tut mir leid.“
Ich öffnete die Türe leise und als meine Schuhspitze, den Teppich draußen im Gang vor dem Apartment berührte, erklang Bills Stimme in einem erbitterten Flüstern erneut. „Er liebt dich.“
Meine Hände zitterten, ich konnte nicht atmen und der Raum drehte sich und – und Gott verdammt hilf mir. Bitte hilf mir.
„Ich weiß das du mir nicht glaubst.“ fuhr er fort, seine Hand ruhte neben mir am Rahmen der Tür. Ich konnte sehen, dass seine Hand genauso sehr zitterte wie meine eigene, und ich fühlte mich, als ob die Welt gleich in sich zusammenbrechen würde und mich verschlingen würde.
Er trat noch einen Schritt näher zu mir, die wärme seines Körpers, strahlte in meinen Rücken und der Duft seines Shampoos schwebte durch die Luft. „Aber ich kenne meinen Bruder auch besser, als jeder andere.“
Mein Herzschlag rauschte in diesen Augenblick mit riesigen, schnellen Schlägen, durch meine Ohren und mein Magen zog sich zusammen, und ich fühlte mich, als ob ich mich gleich an Ort und Stelle Übergeben, oder in Ohnmacht fallen würde.
Bills Hand zitterte und lag immer noch gegen das glatte Holz, sein Körper fühlte sich immer noch so warm und einladend an, und ich hatte mich ewig nicht mehr so gefangen gefühlt. Nicht nachdenkend, drehte ich mich schnell, in einer fließenden Bewegung um, und hielt meinen Blick fest auf seinen. „Lebt er überhaupt noch? Du wanderst hier in deiner dunklen Wohnung herum, während dein Bruder betrunken in seinem Zimmer liegt.“
Meine Worte waren kalt und Bill zuckte sichtlich zusammen, ein gequälter Ausdruck huschte über sein Gesicht. „Ich war bei ihm, als du kamst.“ die Worte fielen von seinen Lippen. „Er war....er fragt immer noch nach dir. Ich – ich weiß nicht....“
Er schaute schnell zu Boden, schloss seine Augen fest und ließ seine Hand vom Türrahmen rutschen.
Ich atmete einmal tief durch, was dringend nötig war, straffte meine Schultern und drückte sanft eine Hand gegen seine dünne Schulter. „Er ist in seinen Zimmer?“
Er öffnete seine Augen blinzelt, schaute in meine und nickte langsam. „Ja.“
„Dann werde ich mit ihm reden.“ murmelte ich ihm entgegen, ging an ihm vorbei und schaute über meine Schulter zu ihm. „Ich weiß nicht was das bringen soll....“
„Danke.“ hauchte er, Erleichterung legte sich über seine wunderschönen Züge. Er trat einen Schritt vor und berührte meinen Unterarm sanft. Seine Augen waren leicht geweitet und schimmerten feucht und ein lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus. „Danke, Anna. Vielen dank.“
Ich schaute ihn für einen langen Moment lang an, aber bot ihn kein lächeln oder nicken an. Stattdessen schob ich seine Hand sanft von meinen Unterarm. „Das ist es,“ begann ich und beobachtete wie sich Verwirrung zu dem gleichen gequälten Ausdruck wie nur Augenblicke zuvor verwandelte. „Hier nach, bin ich durch.“
Während sein Blick mit meinen flehte, hielt ich ein leises Geräusch der Traurigkeit oder des Ekels oder etwas schreckliches zurück, weil ich wusste, dass ich sowieso am Ende meine eigenen Worte Essen würde, denn ich hab schon so oft gesagt, das ich fertig - mit all dem durch bin, und bin dennoch immer wieder zu ihm zurück, ich konnte mein Wort nicht halten, ich war ja so verdammt erbärmlich.
Ich drehte mich schnell von ihm weg, schob den Gedanken beiseite und machte mich wieder auf den Weg in den etwas dunkleren Bereich des Apartments. Ich blieb stehen als ich seine Schlafzimmertür sah, ein dünner Streifen goldenes Licht strahlte unter der Tür hindurch. Dann wollen wir mal.
Die Tür ging leicht zu öffnen und ächzte leise während mehr von dem warmen Licht, dass den ganzen Raum erhellte zum Vorschein kam. Es war ein ziemlich großes Zimmer, mit einer Kommode aus dunklem Holz an einem Ende und einen offenen, begehbaren Kleiderschrank auf der anderen Seite.
In der Mitte des Zimmers, direkt zwischen zwei massiven Fenstern, die die Nacht überblickten, stand ein riesiges Bett, gefertigt aus dem gleichen dunklen Holz wie die Kommode. Schwarze Seiden Lacken lagen darüber, und waren an den Ecken unordentlich und ungleichmäßig unter die Matratze gestopft.
Und oben auf der teuren Bettwäsche, lag eine große, schlanke Gestalt, auf ihren Rücken ausgestreckt.
Mir stockte der Atem und ich fürchtete mich, einen weiteren Schritt zu machen, als ich sah, das seine Augen geschlossen waren. Verschwinde hier verdammt noch mal, Anna. Raus hier. Lauf. Schrie mich mein Verstand an.
Meine Gedanken rasten, mein Herz hämmerte schmerzhaft gegen meine Rippen, während ich ihn ansah. Tom trug nichts weiter außer einer dünnen, weißen Trainingshose und sah so verdammt schön aus, dass ich es nicht ertragen konnte.
Sein Haar war fast so unordentlich wie meines zurück gebunden, noch immer dunkel, und lang, und seidig, und so ganz anders, als die Zöpfe die ich kannte und so sehr hasste. Sein Gesicht war entspannt, sein Brustkorb hob und senkte sich bei jedem Atemzug – ich war Erleichtert zu sehen, dass der Idiot noch immer am Leben war. Als er ein leises Geräusch von sich gab und sich bewegte, eine Hand ruhte nun sanft auf seiner Brust, wusste ich, dass ich gehen musste.
Ich würde leise hinaus gehen, und Bill darüber informieren, dass sein Bruder erfolgreich weggetreten war, ohne sich selbst zu töten und würde erneut mein Leben weiter leben.
Aber als ich mich Bewegte um zu gehen und ach so leise auf meinen Fersen kehrt machte, entwich ein weiteres Geräusch den Mann auf dem Bett – ein lauteres, deutlicheres Geräusch, das mich erschütterte.
Ich kannte das Geräusch. Ich kannte das Wort.
Ich drehte mich zurück und schaute zu ihm. Ich atmete nicht. Sein Kopf bewegte sich auf der Decke und drehte sich in meine Richtung, und ich sah, wie sich seine Augen öffneten, schlossen. Öffneten, schlossen. Öffneten. Ein glasiger, Honigfarbener Blick traf meinen und die Stimme in meinen Kopf schrie mich an, aus dem Zimmer zu verschwinden – hau ab, hau ab, hau ab....
„Anna?“
Es war das gleiche Geräusche, das ich nur Sekunden zuvor gehört hatte, ein tiefes, leises murmeln in seiner Kehle und er schaute geradewegs zu mir, als er es diesmal sagte.
Meine Beine hatten ihre Funktionsfähigkeit verloren, genauso wie mein Gehirn, denn in diesen Moment konnte ich nicht gehen und das wollte ich auch nicht. Tom bewegte sich auf dem Bett und stöhnte, als er versuchte sich aufzusetzen.
Ich bewegte mich zögernd und machte eine vorsichtige Bewegung nach vorne, und er schaffte es, sich in eine sitzende Position zu bringen. Er schwang seine Beine auf die Seite des Bettes und presste seine Hände an die Stirn, ließ sie dann fallen und schaute zu mir. Oh Gott.
Sein Gesicht war gerötet, seine Augen benommen und wässrig – er sah absolut schrecklich aus – einfach verdammt erbärmlich.
„Anna....“ wiederholte er erneut und obwohl seine Augen bleiern und seine Worte undeutlich waren, konzentrierte er sich auf mich. Sein Blick schwankte kein bisschen, als er wackelig aufstand, das dumpfe Geräusch das unmittelbar folgte, erregte meine Aufmerksamkeit.
Eine Glasflasche, mit einem kleinen Rest bernsteinfarbener Flüssigkeit die am Boden schwappte, rollte langsam neben seinen Füßen hervor und blieb genau zwischen uns beiden liegen.
„Unglaublich.“ sagte ich leise und schüttelte meinen Kopf, als mein Blick die teure Flasche Whisky ausmachte. „Du bist unglaublich. Es ist drei Uhr morgens und du säufst.“
„Ich bin betrunken.“ korrigierte er, seine Worte vermischten sich auf seiner Zunge in ein undeutliches durcheinander. Er taumelte in einem hinkenden schwanken in meine Richtung und blieb genau neben der Flasche stehen. Er grinste, das weiß seiner Zähne strahlte unter dem trüben Licht. „Ich bin betrunken.“
„Du wirst dich noch umbringen -“
Er lachte laut und stolperte über seine eigenen Füße, bevor er das Gleichgewicht wieder erlangte. „Scheiß drauf! Jawohl...Scheiß...Scheiß drauf -“ er bewegte sich erneut, drehte sich und viel fast mit ausgebreiteten Armen vollständig um, sein Lächeln geriet kein bisschen ins Stocken. „Isch werd alls davon trinkn – Ich....scheiße...is mir....is mir egal!“
„Würdest du dich mal zusammen reißen?“ schnauzte ich und lief schnell zu ihm hinüber, als er von einer Seite zur andern schwankte und fast vollständig umfiel.
Als ich ihn erreichte und einen seiner nackten Arme mit beiden meiner Hände packte, stieß er ein weiteres lautes Lachen aus. Ich seufzte schwer, mein Halt verstärkte sich, als er mit seinen kleinen Lachanfall fort fuhr. „Tom...Tom - würdest du aufhören? Du musst dich hinlegen....hör auf!“
Er war schwerer als ich erwartet hatte, und zu versuchen diesen Mann mit meinen eigenen Körper auszugleichen, erwies sich als eine Herausforderung – meine Finger schlossen sich nicht mal um den Umfang seines Armes und er hörte nicht auf sich zu bewegen oder zu lachen, und ich schaffte es einfach nicht, ihn dazu zu bringen, sich einfach nur zu setzen.
„Komm schon.“ murmelte ich durch zusammengepresste Zähne und zog einen seiner Arme über meinen Nacken und zog ihn gegen mich, während ich auf einen Bein hinkte. Sein Arm war ebenso schwerer, als ich erwartet hatte, seine Wärme drückte gegen die Oberseite meiner Schulter.
Ich schüttelte das Gefühl, wie sich seine Haut auf meiner anfühlte oder wie er nach den üblichen Alkohol und Zigaretten und teurem Aftershave roch beiseite und konzentrierte mich auf die anstehende Aufgabe.
„Gott, du bist schwer.“ keuchte ich und bewegte uns einen Schritt nach dem anderen in Richtung Bett. „Komm schon, komm schon, komm schon.“ ich stieß diese kleinen Anfeuerungs-Rufe, mehr zu mir selbst aus, mein Verstand flehte mich an, ihn auf das Bett fallen zu lassen und einen heißen Sprint zur Haustür hinzulegen.
Sobald ich uns nah genug an die Seite von Bett herangebracht hatte, wickelte ich seinen Arm von meinem Nacken und ließ ihn mit einem dumpfen Aufprall, auf die Matratze fallen. Er stöhnte, sein Gesicht war in die seidigen Lacken gepresst und ich stand vor ihm, während ich beobachtete, wie er versuchte sich wieder aufzurichten.
Was zur Hölle glaubte Bill, würde ich in diesen Zimmer erreichen? Sein Bruder war so besoffen, dass er gleich wegtreten oder sich vollkotzen würde, und von mir wurde erwartet, dass ich ihm tröste?
Ich wusste das er unmittelbar vor dem Schlafzimmer stand, vielleicht lauschte er sogar in der Dunkelheit an der Tür, und das ich mich ganz leicht aus dieser Situation befreien könnte und ihm sagen könnte, dass er sich selbst um seinen Bruder kümmern sollte. Ich meine, was zum Teufel tat ich hier?
Ich hatte einen Freund der am anderen Ende der Stadt schlief und ahnungslos darüber war, dass ich in einem eher noblen Schlafzimmer eines anderen Mannes stand, und mich um diesen kümmerte und sicherstellte, dass er sich nicht voll kotzte nachdem er eine ganze Flasche Whisky getrunken hatte.
Als er seinen Kopf auf die Seite drehte, schloss er seine Augen und ich sah, wie ein kleines Lächeln an seinen Mundwinkeln zupfte. Seine Worte waren kaum hörbar, ein murmeln unzusammenhängender Wörter. Es waren nur drei Worte die ich ausmachen konnte, nachdem er versucht hatte mir etwas zu sagen, und sie erklangen mit solch einer Klarheit, dass sie mich fast Umhauten. „Du bist hier.“
Es waren drei Worte, die mich trafen und ein Messer in meiner Brust herumdrehten, und das Gesicht von James, sein wunderschönes Lächeln und seine Freundlichkeit mir gegenüber, kamen mir in den Sinn, und ich wusste, das es ein riesengroßer Fehler war. Ich trat einen Schritt zurück, schluckte schwer und richtete meinen Blick auf die Wand hinter ihm – zu der bunten Malerei oder die schweren Vorhänge am Fenster, die zur Seite gezogen waren – zu allem, nur nicht ihm.
„Ich kann nicht,“ begann ich, meine Stimme schwebte durch die Luft und zerstreute sich ziemlich schnell. „Ich gehe.“
Er rollte sich auf seine Seite und hustete gegen seinen Handrücken und als sein trüber Blick den meinen traf, starrte ich mit einer unerschütterlicher Härte zurück und forderte ihn heraus, mich aufzuhalten – irgendetwas zu sagen, dass diesen ganzen Scheiß einen gewissen Sinn gab.
Er drückte seinen Körper in eine halb sitzende Position gegen das Kopfende des Bettes, seine Beine vor sich ausgestreckt und seine Arme lagen schwer in seinem Schoss.
„Nicht.“ erwiderte er, mehr in einen stöhnen, als in Worten. Seine Augen waren wieder geschlossen, sein Mund leicht geöffnet und es schien, als würde er geradewegs in den Schlaf gleiten. Er fuhr jedoch mit seinem kleinen flüstern fort, seine Lippen bewegten sich dabei kaum. „Geh nicht.“
„Doch.“ nickte ich. „Ich gehe.“
„Nein....“
„Doch.“ Meine Stimme war dieses mal fester und enthielt eine unbestreitbare kühle. Ich schaute zu ihm und er schaute nicht zurück, und ich wusste, das war's. „Du wirst dich morgen früh nicht mal daran erinnern.“
Er presste seine Lippen für einen Moment zusammen und ein leises summen entwich seiner Kehle, und dann, zog ein weiteres typisches Tom Kaulitz lächeln über seine schönen Züge. „Doch werde ich.“ erwiderte er murmelt, sein Kopf fiel langsam auf die Seite. „Ich habe nichts....“
Wenn ich die Situation so betrachte, hätte ich mich selbst dafür schlagen können, dass ich in seine Richtung lief und die Decke von unter ihm hervorzog, sie grob über seine Nackte Brust zog und sie um seine Form tätschelte. „Ich hol dir etwas Wasser.“ sagte ich langsam und vorsichtig, und hoffte das er Verstand was ich sagte. „Und dann bin ich weg.“
Ich wollte lachen als ich in sein Badezimmer lief, um ein Becher zu suchen. Ich fand einen einfachen Plastikbecher auf der Ablage stehen.
Ich stand tatsächlich in Toms Badezimmer und füllte einen Becher mit kaltem Wasser für ihn, während er im Vollrausch auf seinen Mammut Bett schlief. Ich kümmerte mich tatsächlich um drei Uhr morgens um ihn, deckte ihn verdammt noch mal zu.
Ich verlor mich in dem Gedanken und bemerkte nicht, das der Becher überlief. Erst als die kühle Nässe nun über meine Finger lief, stellte ich das Wasser ab. Ich schüttelte schnell die Wassertropfen von meiner Hand und ging mit den Becher zurück in Toms Schlafzimmer und stellte ihn auf seinen Nachttisch.
Seine Atmung war gleichmäßig, seine Augen geschlossen und ich war mehr als bereit, von hier zu verschwinden. „Der Becher mit Wasser steht neben dir.“ flüsterte ich. „Du musst ihn trinken, damit du nicht dehydrierst.“
Er antwortete nicht, aber sein Mundwinkel zuckte und sein Mund öffnete sich leicht. Er war eingeschlafen.
Nachdem ich die leere Flasche aufgehoben hatte und sie unter mein Arm geklemmt hatte, machte ich das Licht aus. Ich warf nochmal einen langen Blick auf ihn und schloss dann die Tür und stand nun wieder im Wohnzimmer.
Ich stellte die Flasche auf die Theke, die Uhr zeigte halb fünf an und ich wollte nichts mehr, als mich unter meine Decke zu kuscheln und vergessen, dass dies jemals passiert war.
„Hast du mit ihm geredet?“
Bills Stimme erklang leise und war mit Unsicherheit geschürt. Er saß auf der Couch, Sein Rücken gekrümmt und seine Hände ruhten auf seinen Oberschenkeln. Er sah wie ein wunderschöner Tintenfleck aus, der gegen die Wand geschmiert war. Das Licht der Theken-Lampen neckte seine hellen Haare und ließ sie noch deutlicher hervorstechen.
„Er ist gerade nicht wirklich in der Lage zu reden.“ antwortete ich. „Er ist mehr als betrunken. Du solltest vermutlich hin und wieder mal nach ihm sehen. Er schläft jetzt.“
Bill war einen Moment lang still, bevor er sprach: „Ich wusste nicht, dass er so viel hatte.“
„Das sieht irgendwie nach einer Menge aus.“ erwiderte ich im knappen Ton, und hob die leere Glasflasche hoch. „Aber das ist nur meine Meinung.“
Er sah wirklich überrascht aus, das weiß in seinen Augen, selbst in der Dunkelheit größer. „Ich wusste nicht...wir...wir sind nur auf ein paar Drinks gegangen und....er....“
„Ich will's nicht hören.“ schnautzte ich und riss meinen Blick von seinen, während ich die Flasche wieder abstellte. „Ist nicht meine Sache, warum dein Bruder beschlossen hat sich heute Nacht zu besaufen.“ ich hielt inne und schloss meine Augen langsam. „Ich will keinen Therapeuten spielen, ich will niemanden trösten, ich will einfach nur schlafen.“
„Du bist mehr als willkommen -“
„Tu es nicht.“ sagte ich scharf, öffnete meine Augen und traf seinen Blick. „Sag es nicht einmal.“
„Es ist nach vier.“ erwiderte er und kaute auf seiner Unterlippe herum. „Du kannst um diese Uhrzeit nicht da draußen sein -“
„Ach, jetzt sorgst du dich? Weil vor einer Stunde hattest du offenbar nichts dagegen das ich alleine hergelaufen bin.“ Ich war unerbittlich, aber der Muskel in meiner Brust zog sich zusammen, und zog und zerrte, und die Erschöpfung zerrte an mir und ich wollte aus dieser ganzen Sache für immer raus. „Danke jedoch für deine Besorgnis, Bill. Es bedeutet eine Menge.“
„Du bist hier her gelaufen?“ die Sorge in seiner Stimme war deutlich und sendete einen Stich durch mich hindurch, denn, so sehr ich diesen Mann und seinen Bruder, und alles was ich mit den beiden durchgemacht hatte, auch hassen wollte, er machte sich nach all dem immer noch sorgen um mich, obwohl er mehr Geld hatte als ich je in meinen Leben gesehen hatte, und die Welt umrundet hatte und ein verdammter Rockstar war. Ich war niemand und er machte sich sorgen.
„Ja.“ bestätigte ich. „Ich bin hier her gelaufen. Und jetzt laufe ich zurück.“
„Anna, da steht eine Coach.“
Ich lächelte ihn an, neigte mein Kopf ein wenig und legte einen Finger an mein Kinn. Ich tat so, als würde ich einen Moment lang überlegen, mein lächeln wurde breiter. „Ich glaube ich würde viel lieber sämtlichen Horror da draußen konfrontieren.“
„Wenn du auf der Couch schläfst, werde ich dich von jetzt an in Ruhe lassen.“
Ich lachte dann. „Also sind es dann drei weitere Monate, richtig? Ich werde einen weiteren Anruf darüber bekommen, dass Tom mich braucht und mich will, während das Mädchen das er vögelt, Gott weiß wo ist -“
„Es wird nie wieder sein.“ unterbrach er mich mit sanfter Stimme. „Ich werde nie wieder Kontakt mit dir aufnehmen, wenn du bitte nur....“ seine Augen schlossen sich. „Bitte nur auf der Couch schläfst.“
Mein Körper hatte vor Erschöpfung begonnen so sehr zu schmerzen, dass selbst der Beton draußen verlockend schien, und meine Augen offen zu halten erwies sich als Kampf und ihre Couch war recht groß – eine lange, Cremefarbene Couchgarnitur, mit viel Platz. Und zum dritten mal: verdammte Scheiße.
„Okay.“ fauchte ich. „Ich werde auf der Couch schlafen.“ Ich schob mich an ihm vorbei und ignorierte den Erleichterten Ausdruck, der sich auf sein Gesicht legte und setzte mich schnell hin. Ich zog meine Beine hoch und streckte sie über die Länge des Sofas aus.
Bill kehrte innerhalb weniger Augenblicke, mit einer großen Decke und einem extra Kissen zurück. Er legte die Decke sanft über mich und flüsterte eine weitere Entschuldigung und ein weiteres Danke, bevor er in Toms Zimmer verschwand.
Er tauchte Minuten später mit einem Lächeln auf seinen Lippen wieder auf und verschwand dann in seinem eigenen Zimmer und schloss die Tür leise.
Als ich so da lag, schlossen sich meine Augen langsam, während ich die letzten Anblicke der Nacht aufnahm – die flackernden Lichter der Stadt, tanzten an der Decke. Ich dachte nur: Gott hilf mir und es tut mir leid, James.
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Der Morgen kam schneller als ich wollte, und das kitzeln der Wärme auf der Decke vom Tageslicht war dringend nötig. Vor allem nach der scheußlichen Erfahrung die ich in der Dunkelheit dieser Wohnung hatte.
Zunächst, als ich wach wurde, meine Augen immer noch geschlossen und mein Verstand immer noch benebelt, erinnerte ich mich nicht daran wo ich war. Erst als ich das Material der teuren Daunendecke auf mir spürte, kamen mir die Ereignisse der letzter Nacht wieder in den Sinn.
Und als ich meine Augen öffnete, die helle Morgensonne schien durch die Trassentüren, fühlte ich mich unwohl und von mir selbst angewidert, weil ich den Umständen erlaubt hatte, sich so zu entfalten, wie sie es getan hatten.
Ich bewegte mich, um mit meinen Handrücken über meine Augen zu reiben, und hörte auf, als ein bisschen nackte Haut in mein Sichtfeld kam. Ich ließ meine Hand langsam sinken und blinzelte, um meine volle Sehkraft wieder herzustellen. Ich ließ meinen Blick nach unten wandern, und hielt an, als ein Arm in Sicht kam, der über mir lag
Entsetzen baute sich langsam in mir auf, als mein Blick den Arm zu der schlafenden Person neben mir folgte. Seine langen dunklen Haare hingen teilweise aus seinem Haarband und breiteten sich über meine Schulter aus. Mein Blick wanderte weiter nach oben und landete auf seinem Gesicht, er sah friedlich und entspannt aus, und war gegen mein Arm gepresst.
Ach du heilige Scheiße.
Er lag neben mir, die Länge seines gesamten Körpers, gegen meinen gepresst, auch wenn er auf der Decke lag und ich darunter. Sein Arm lag über mir, seine Finger waren in meinen Haaren vergraben und ich konnte sehen wie das frühe Tageslicht die Muskeln seines nackten Rückens anstrahlte.
Er rückte näher und atmete leise, und ich war mir so verdammt bewusst darüber, wie nahe er mir doch war – sein Gesicht, sein Haar, seine Haut -
Oh Gott, oh scheiße, oh Gott.
Es verging eine weitere Minute oder so, indem ich einen inneren emotionalen Zusammenbruch erlitt, bis er sich wieder bewegte, diese mal mehr, und noch bevor ich die Chance hatte darüber nachzudenken, was zum Teufel ich jetzt tun sollte – öffneten sich seine Augen blinzelt und sein Blick legte sich auf meinen.
Die Welt schien still zu stehen, während wir einander anstarrten und ich war mir nicht sicher, ob überhaupt einer von uns beiden atmete. Schließlich erklang seine Stimme, strich gegen meinen Mund, während sich seine dunklen Brauen zusammenzogen.
„Was verdammt?“
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