1. Dezember
Der kalte Winterwind weht meine guten Vorsätze, heute ausnahmsweise mal früher Zeitungen auszutragen, fast schneller weg, als sie gekommen sind.
Es ist erst kurz nach Sechs, aber schon stockdunkel und eiskalt, und am liebsten will ich gerade einfach wieder zurück in mein Bett.
Um diese Uhrzeit gehe ich fast nie los. Normalerweise fange ich frühestens gegen Zehn Uhr abends mit meiner Runde an, aber meine Nachmittagsvorlesung ist ausgefallen, Felix hat Besuch und ich will nicht stören. Dafür muss ich dann wohl in Kauf nehmen, dass ich heute Leute auf der Straße treffen könnte.
Ich kann mich ehrlich gesagt nicht daran erinnern, wann ich zum letzten Mal so pünktlich die Zeitungen ausgetragen habe.
Vielleicht ist das die Magie der Adventszeit. Ja bestimmt.
Ein trockenes Lachen entkommt mir bei dem Gedanken und mein warmer Atem bildet Wölkchen vor meinem Geischt.
Mein Zeitungswagen holpert geräuschvoll über den Asphalt, untermalt die leisen Weihnachtslieder, die durch meine Kopfhörer klingen.
Ein hilfloser Versuch, mich selbst wenigstens ein bisschen in Weihnachtsstimmung zu bringen, aber dort wo normalerweise die Uni meine Gedanken blockiert, ist nun ein anderer Stressfaktor, der meine Freude über die schöne Weihnachtsbeleuchtung überall um mich herum dämpft.
Und dieser Stressfaktor ist niemand geringeres, als der Unbekannte eine Straße weiter in Haus Nummer 25.
Ich muss gestehen, im ersten Moment fand ich Hyunjins Plan unglaublich amüsant. Der Ältere selbst war so begeistert davon, dass er es sich nicht hat nehmen lassen, mich am Sonntag beim Austragen zu begleiten und die ganzen übrig gebliebenen Zeitungen höchstpersönlich in den Briefkasten mit der Aufschrift 'Lee' zu stopfen.
„Wenn ihm Zeitungen so wichtig sind, dass er sich sogar die Mühe macht, eine Beschwerde zu schicken, freut er sich bestimmt sogar darüber", hat er von sich gegeben, nachdem der Briefkasten zu seiner Zufriedenheit mit Zeitungen übergequollen ist.
Es haben nicht alle übrigen Restexemplare reingepasst, aber mein Mitbewohner war trotzdem zufrieden mit seinem Werk.
„Was ist, wenn er sich wieder beschwert? Wenn mir gekündigt wird?", habe ich auf dem Weg zurück nach hause gefragt.
„Niemand wird wegen einer solchen Kleinigkeit gekündigt. Und selbst wenn, ich hab dir schon länger gesagt, dass es so viele besser bezahlte Jobs gibt, die dir weniger Stress machen würden", war Hyunjins einzige Reaktion darauf.
Was die Bezahlung angeht, mag seine Aussage stimmen, aber ich bezweifle es, dass ich einen anderen Nebenjob finden würde, bei dem ich es verhindern kann, fremde Menschen zu treffen. Was das angeht ist mein Job wirklich perfekt für mich. Ja, er ist stressig, vor allem wenn Leute wie Herr Lee in der Nachbarschaft wohnen. Aber irgendwie muss ich Geld verdienen und mit den schlechten Beats, die ich von Zeit zu Zeit verkaufe, kann ich die Miete nicht bezahlen.
Vor ein paar Jahren hat Seungmin vorgeschlagen, mal in dem Café probezuarbeiten, in dem er jobbt. Das war einer der schlimmsten Tage meines Lebens und ich übertreibe wirklich nicht.
Seitdem weiß ich meinen kleinen Zeitungsjob zumindest die meiste Zeit über ein bisschen zu schätzen.
So weit zumindest, dass ich ihn nicht verlieren will, solange ich keine zuverlässige Alternative gefunden habe.
Seufzend sinke ich neben meinem Wagen auf den Boden und schneide das nächste Zeitungspaket auf. Hoffentlich hat Herr Lee sich nicht beschwert. Vielleicht hat er einen Streich der Nachbarskinder vermutet und die Zeitungen weggeschmissen, bevor er Hyunjins offensive Nachricht dazwischen gefunden hat. Denn natürlich waren die Zeitungen an sich nicht genug, mein lieber Mitbewohner musste seine Gedanken auch noch auf einem kleinen Sticky Note loswerden.
Von wegen Nachbarschaftssolidarität und Verständnis. Ich habe nicht alles gelesen, was er geschrieben hat, und darüber bin ich glaube ich auch ziemlich froh. Der ganze Streich hat sich schon bildlich genug in meinen Kopf gebrannt.
Wieso habe ich mich nur auf diesen bescheuerten Plan eingelassen? Für die paar Minuten, in denen ich lachen und den ganzen Stress vergessen konnte? Das hat super funktioniert, denn jetzt drückt das schlechte Gewissen und die Angst vor Konsequenzen dreimal so schwer wie der blöde Beschwerdebrief von Sonntag auf meine Brust.
Ich will mich gerade wieder aufrichten, als mein Blick auf das kleine Kätzchen fällt, das unter einem Auto hervor schaut.
Bei seinem Anblick legt sich ein Lächeln auf meine Lippen und ich strecke die Hand nach ihm aus, woraufhin es auf mich zu geflitzt kommt und auf meinen Schoß springt.
Das ist nicht das erste Mal, dass ich das kleine Wesen auf meinen Runden sehe, genau genommen leistet es mir fast jede Woche Geschellschaft. Ich habe keine Ahnung, wem es gehört, aber ganz offensichtlich wird gut für es gesorgt. Sein braun-schwarzes Fell ist jedenfalls immer sauber und das Kätzchen ist unglaublich zutraulich und verschmust.
Sanft kuschelt es sich gegen meinen Bauch und streckt sich meiner linken Hand entgegen, während ich mit der rechten die Musik ausschalte und meine Kopfhörer wegpacke.
„Na Kleines, hast du mich vermisst?", erkundige ich mich leise bei ihm und kraule sein kleines Köpfen. Das Fell hinter seinen Ohren ist unglaublich weich und die Berührung beruhigt mich, nimmt mir ein Stück weit die Angst vor dem Haus am Ende der Straße, das schon auf mich zu warten scheint.
Es miaut leise als hätte es mich verstanden und ein leises Lachen kommt über meine Lippen.
Obwohl es mir gegenüber so anhänglich ist, scheint es meine Mitbewohner nicht sonderlich zu mögen. Die drei helfen mir von Zeit zu Zeit beim Austragen und wann immer sie dabei sind lässt sich das kleine Baby nicht blicken. So auch am Sonntag, als Hyunjin mich begleitet hat.
Ich kann nicht abstreiten, dass ich mich geschmeichelt fühle, dass es mich mit ihrer Anwesenheit beehrt und meine Freunde offensichtlich nicht als eines Besuches würdig erachtet.
Wahrscheinlich habe ich das Kleine die ganzen letzten Wochen über auch schon viel zu sehr ins Herz geschlossen. Wenn es sich nicht blicken lässt, mache ich mir Sorgen, dass ihm etwas hätte passiert sein können. Und ja, mir graut vor der Tatsache, dass sein Besitzermensch einfach mit ihm wegziehen könnte.
„So Kleines, genug gekuschelt", sage ich und hebe es sanft von meinem Schoß. Es miaut leicht vorwurfsvoll, bevor es mir treu hinterher tapst. Lächelnd beobachte ich, wie es unter einem kahlen Busch verschwindet und wenig später von dem Busch aus auf eine Mülltonne springt. Stolz schaut es in meine Richtung als würde es eine Leckerli für seine Darstellung erwarten. Stattdessen kraule ich es zur Belohnung und ein zufriedenes Schnurren ertönt, bevor es in meine Arme und von dort wieder auf den Boden springt.
Mit dem kleinen Kätzchen gemeinsam vergeht die Zeit viel schneller und in Nullkommanichts stehe ich vor dem Ort, der die letzten beiden Tage meine Gedanken in Anspruch genommen hat. Zugegebenermaßen, es ist wirklich schön, ein modernes Mehrfamilienhaus direkt vor einem kleinen Park mit Spielplatz.
Ich weiß selbst nicht, wieso ich mich so sehr vor dem Briefkasten eines fremden Mannes fürchte, aber meine Herz schlägt viel zu schnell, als ich langsam mit acht Zeitungen in der Hand auf den Eingang zulaufe.
Das kleine Kätzchen begleitet mich den ganzen Weg bis zu Tür und springt erschrocken weg, als ich plötzlich stehen bleibe und die Zeitungen fallen lasse.
An dem unteren linken Briefkasten mit der Aufschrift 'Lee' hängt ein rosanes Sticky Note.
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