𝐕𝐢𝐞𝐫𝐳𝐞𝐡𝐧

» - - «

"Ich habe dir doch gesagt, dass du besser Handschuhe mitnehmen solltest", ruft mir meine Zimmergenossin Daniela zu, als ich mich zum wiederholten Mal über die Kälte beschwert habe. "Hättest mal besser auf mich gehört, Josie." Da muss ich ihr leider recht geben.

Nach ein paar Wochen in unseren Betrieben sind meine Mitschülerinnen und ich nun wieder in der Berufsschule, und nachdem wir beschlossen hatten, auf den Weihnachtsmarkt zu gehen, habe ich auf meine Handschuhe verzichtet, weil mir den ganzen Tag über kein bisschen kalt war. Ganz anders jetzt - in diesem Moment fühlen sich meine Hände so an, als würden sie gleich abfallen. Dass ich so stur bin, wird mir manchmal echt zum Verhängnis.

"Mmh", brumme ich mehr oder weniger zustimmend und ziehe die Ärmel meiner Jacke bestmöglich nach unten. "Eigentlich wollte ich mir heute nichts kaufen, aber ich glaube, an diesen Vorsatz kann ich mich nicht halten, sonst werde ich den Abend nicht überleben. Wirklich, ich spüre meine Finger schon nicht mehr."

"Oder wir holen uns jetzt alle einen Glühwein, an dem kannst du dich auch aufwärmen", schlägt Franziska, die von allen aber eigentlich nur Franzi genannt wird, vor und erntet dafür von allen Seiten Zustimmung. Na ja, von allen Seiten außer meiner, denn als Einzige in unserer kleinen Clique bin ich kein besonders großer Fan von Glühwein. Nicht einmal Kinderpunsch trinke ich gerne. Was das angeht, bin ich einfach sehr speziell. Da wir uns allerdings erst seit dem Beginn unserer Ausbildung vor knapp drei Monaten kennen, weiß noch kaum jemand darüber Bescheid.

Nichtsdestotrotz begleite ich die anderen auf dem Weg zu einem Glühwein-Stand und erkläre ihnen dann, dass ich selbst keinen möchte. Wir laufen an vielen verschiedenen Ständen vorbei: an einem wird Schmuck verkauft, an einem anderen selbst gestrickte Kleidung und an einem dritten alte Filme und Musik-CDs. Der Stand, an dem Süßigkeiten, gebrannte Mandeln und Magenbrot angeboten werden, ist natürlich wie jedes Jahr ebenfalls dabei. Wenn wir später vielleicht noch einmal daran vorbeigehen, mache ich dort Halt.

Auf einmal steigt mir der Geruch von Roter Wurst in die Nase, und ich spüre ein leichtes Grummeln in meinem Magen. Es dauert auch nicht lange, bis ich einen Stand entdecke, an dem es Krautschupfnudeln, Bratwurst und eben Rote Wurst gibt. "Hey, wartet mal!", rufe ich, um die Mädels davon abzuhalten, einfach schnurstracks weiterzulaufen, und sie drehen sich zu mir um. "Ich hätte Hunger, was ist mit euch?"

Daraufhin ernte ich von fast allen aus der Gruppe ein Kopfschütteln. Nur Talea, die eigentlich immer etwas essen kann, gibt keine Reaktion von sich. Ich schaue sie eindringlich an in der Hoffnung, sie stellt sich auf meine Seite. Doch diese Hoffnung ist umsonst gewesen, wie ich feststelle, denn sie sagt: "Na ja, ich habe schon etwas gegessen, kurz bevor wir aufgebrochen sind." Ich weiß nicht, ob ich meine Augen verdrehen oder lachen soll. Am Ende kommt eine Art Schnauben von mir.

"Na gut, dann hole ich mir eine Rote Wurst, und ihr könnt währenddessen weitergehen und euch jeweils einen Glühwein einschenken lassen", schlage ich also vor, womit alle einverstanden sind. Mit erhobenem Daumen bestimme ich danach: "Super, wir treffen uns wieder in ein paar Minuten."

Während meine Mitschülerinnen sich langsam von mir entfernen, laufe ich an den Stand - und stelle fest, dass sich in der Zeit, in der wir unsere kleine Diskussion hatten, eine große Schlange an Menschen gebildet hat. Diese paar Minuten, von denen ich gesprochen habe, werden wohl doch ein paar mehr. Tja, dann positioniere ich mich eben hinter einer Frau, die mit Winterjacke, Schal und Mütze im Gegensatz zu mir sehr gut eingepackt ist, und warte.

Als ich schließlich mein Essen in den Händen halte, wodurch diese bereits etwas auftauen, schreite ich weiter den Weihnachtsmarkt entlang und halte Ausschau nach dem nächsten Glühwein-Stand. Dort vermute ich nämlich die Mädels. Nebenher nehme ich einen Bissen von der Wurst und gebe sogleich ein leises "Autsch" von mir, weil ich mir den Gaumen verbrannt habe. Ich lerne auch wirklich nie aus meinen Fehlern.

Das bestätigt sich auch im nächsten Moment. Da ich nicht schaue, wo ich hinlaufe, ist es ja nur logisch, dass ich jemanden voll anrempele. "Oh Gott, tut mir leid, ich wollte nicht...", möchte ich mich schnell entschuldigen, als ich plötzlich in grüne Augen sehe. Wunderschöne grüne Augen, die mich erst einmal innehalten lassen.

"Da hat es aber jemand eilig." Schmunzelnd wendet sich mein Gegenüber mir zu. Ein gutaussehender Typ, etwa um die zwei Jahre älter als ich, lächelt mich an, und ich spüre die Wärme in meine Wangen schießen. Andererseits könnte das auch einfach meiner Tollpatschigkeit geschuldet sein, es muss gar nicht zwingend an ihm liegen. In jedem Fall muss ich mir keine Sorgen machen, dass man sehen könnte, wie unangenehm mir die Situation gerade ist, denn mein Gesicht ist dank der Kälte sicher schon so ganz rot.

"Äh, ja, irgendwie schon", antworte ich auf seine Aussage. "Ich bin auf der Suche nach meinen Freundinnen. Du hast nicht zufällig eine Gruppe von sieben Mädchen gesehen?" Falls sich deren Wege tatsächlich gekreuzt haben, müssen sie ihm aufgefallen sein, schließlich sind sie nicht gerade unsichtbar. Und vor allem nicht überhörbar.

"Nee, sorry", entgegnet er zu meinem Bedauern, weshalb ich ein klein wenig frustriert bin, mich aber dennoch bei ihm bedanke. Danach laufe ich einfach so, ohne auf eine Reaktion des Typen zu warten, weiter.

Ich komme erneut an den unterschiedlichsten Ständen vorbei. Als mir Holzschnitzereien in Form von Kerzen in die Augen springen, muss ich an die letzten Jahre denken, in denen ich immer mit meinen Eltern auf einen Weihnachtsmarkt gegangen bin. Jedes Mal nahmen sie ein Dekorationsstück in der Art mit nach Hause. Wenn ich nicht gerade meine Mitschülerinnen finden müsste, würde ich vielleicht etwas für meine Eltern aussuchen.

Meine Suche verläuft blöderweise nicht besonders erfolgreich, weil ich nach weiteren fünfzehn Minuten, in denen ich meine Mahlzeit verputzt habe, noch immer allein herumirre. Tatsächlich habe ich auch schon zwei Stände mit Glühwein hinter mir gelassen, deren Besitzer mir ebenfalls nicht weiterhelfen konnten. Also entweder waren sind sie an einem anderen Stand oder sie haben beschlossen, nicht auf mich zu warten. So habe ich mir den heutigen Weihnachtsmarkt echt nicht vorgestellt. Komplett verfroren und im Stich gelassen.

Ich lehne mich gegen eine Straßenlaterne und hole mein Handy heraus, was ich eigentlich schon lange hätte tun können. Da Taleas Name in meiner Anrufliste fast ganz oben erscheint, versuche ich es kurzerhand bei ihr. Es klingelt und klingelt, aber niemand geht heran, abgesehen von der Mailbox. Deswegen spreche ich ihr etwas drauf: "Hey, hier ist Josie. Wo seid ihr denn? Ich wäre über eine Antwort sehr dankbar, ansonsten gehe ich zurück ins Wohnheim."

"Immer noch allein unterwegs?", höre ich auf einmal neben mir und schaue erneut in diese grünen Augen. Genau nach dem Motto Man begegnet sich immer zweimal im Leben steht mir wieder der süße Typ gegenüber.

Zunächst starre ich ihn leicht verblüfft an, weil ich nicht mit ihm gerechnet hätte. Jedes Mal, wenn ich einen Jungen sehe, den ich sehr attraktiv finde, bleibt es normalerweise bei diesem einen Mal. Dann beginne ich jedoch leicht zu grinsen. "Stalkst du mich etwa?", frage ich leise lachend.

"Entschuldige mal, du bist doch zuerst in mich hineingerannt. Da kann die Rede nicht nur von mir sein", gibt er vergnügt zurück, wobei sich ein Grübchen in seinem Gesicht bildet und ich fast dahinschmelze. "Nein, im Ernst, ich hab dich auf meinem Weg zufällig entdeckt."

"So so", lasse ich verlauten und nicke leicht lächelnd mit hochgezogenen Augenbrauen, sodass es so wirkt, als würde ich ihm nicht glauben. In Wahrheit vertraue ich aber darauf, dass er mir keine Lüge aufgetischt hat. Manche würden vielleicht sagen, wie naiv das doch bloß ist, und vielleicht ist es das auch, doch in meinen Augen hat er irgendetwas Vertrauenerweckendes an sich. Deshalb strecke ich ihm meine noch immer eiskalte Hand hin und stelle mich ihm vor: "Ich bin Josie."

"Mike", antwortet er und nimmt meine Hand entgegen. "Oh, dir ist kalt, nicht wahr?" Obwohl es nur unsere Hände sind, die sich berühren, und ich eigentlich schon öfter vollkommen fremden Menschen die Hand geschüttelt habe, wird mir der Körperkontakt plötzlich schon zu viel und ich lasse ihn los.

"Verdammt, du hast mich erwischt", versuche ich mein Unbehagen wegzulächeln. "Ja... In erster Linie hatte ich mir die Rote Wurst vorhin geholt, weil ich Hunger hatte. Insgeheim hatte ich auch gehofft, dass sie mich etwas aufwärmen würde, aber scheinbar hat das nicht besonders gut geklappt. Es ist wohl doch am besten, wenn ich mir ein Paar Handschuhe kaufe."

"Oder du kommst mit mir", schlägt Mike vor, woraufhin ich ihn fragend ansehe. "Am anderen Ende des Weihnachtsmarktes gibt es eine große Feuerstelle. Ich könnte dich da hinführen. Mich würde es sehr freuen, noch mehr Zeit mit dir..." Nun hält er inne und führt den Satz nicht mehr fort. "Ich meine, ich habe eh nichts anderes vor."

Auf der Stelle denke ich an meine Freundinnen, mit denen ich mich eigentlich wieder treffen wollte. Dann führe ich mir jedoch ins Gedächtnis, dass ich mich an die Abmachung gehalten habe, ganz im Gegensatz zu ihnen. Falls sie mich irgendwann vermissen, können sie mich ja anrufen. Im Moment bin ich in guter Gesellschaft und fühle mich nicht so verloren wie zuvor, weswegen ich letztendlich dem Feuer zusage.

Während wir an den Ständen vorbeischlendern, unterhalten Mike und ich uns darüber, woher wir kommen und was wir gerade machen. Dabei erfahre ich, dass er aus einem kleinen Dorf nicht weit von hier stammt und im zweiten Semester eines Informatik-Studiums steckt. Momentan müsste er eigentlich einige Hausarbeiten schreiben, aber da Weihnachten bevorsteht, nimmt er sich bewusst eine kleine Auszeit von der Uni und stimmt sich auf das Fest ein.

Nach ein paar Minuten sehe ich bereits aus einigen Metern Entfernung, wie Qualm nach oben steigt. Es dauert auch nicht lange, bis die Flammen dann zum Vorschein kommen. Und der Junge neben mir hatte recht: Das Feuer ist alles andere als klein. Es spendet enorm viel Wärme, was mir natürlich nur zugute kommt.

In der Nähe hängt an einer Straßenlaterne ein Lautsprecher, aus dem verschiedene Weihnachtslieder kommen. In diesem Moment läuft Last Christmas von Wham, das Lied, das ich in meiner Schulzeit wohl am häufigsten im Musikunterricht gesungen habe. Kein Wunder also, dass ich den kompletten Text in- und auswenig kenne.

Als wir einen Platz am Feuer gefunden haben und Mike auf einmal anfängt mitzusummen, drehe ich meinen Kopf zu ihm und grinse ihn an. Sein Blick liegt auf den Flammen, doch in dem Augenblick, in dem ich schließlich mitsinge, wendet er sich mir zu. Es kostet mich normalerweise immer Überzeugung, laut vor anderen Leuten zu singen, aber auch das fällt mir bei ihm so leicht. Es fühlt sich fast so an, als würden wir uns schon ewig kennen. Und ehe wir uns versehen, singen wir im Duett.

Nach dem Song merke ich, dass wir uns in den letzten drei Minuten immer näher gekommen sind. Während uns vorhin noch ein Meter trennte, stehen wir uns jetzt direkt gegenüber. Ich schaue zu ihm nach oben und er sieht mir in die Augen. So intensiv hat mich noch nie jemand betrachtet, weshalb ich mich räuspere und einen Schritt zurück mache. Ja, ich fühle mich mehr als wohl bei ihm, auch wenn wir uns noch nicht einmal eine Stunde kennen, doch das geht mir noch zu weit, zumal ich nicht wirklich Erfahrungen mit Jungs habe.

Damit er mich nicht auf meinen Rückzieher ansprechen kann, ergreife ich schnell das Wort: "Danke, dass du mich hierher gebracht hast. Mir ist schon viel wärmer. Und nicht nur dafür. Ich möchte mich auch bei dir bedanken, dass du mir, einer wildfremden Person, Gesellschaft leistest. Das hätte nicht jeder getan."

"Das stimmt vermutlich", sagt Mike. "Aber ich bin echt froh, dass du in mich hineingerannt bist, auch wenn mein Arm ein klein wenig wehgetan hat, und dass ich dir noch einmal begegnet bin. Und vielleicht hört sich das komisch an, aber wenn ich ehrlich bin, fühlt es sich an, als wären wir schon lange gut befreundet."

"Verrückt, das Gefühl habe ich auch", gebe ich zu und beschließe in Gedanken, dass das etwas zu bedeuten hat. Bevor ich aber weiterreden kann, klingelt mein Handy in meiner Jackentasche. Ich nehme es heraus und erkenne Danielas Namen auf dem Display. "Oh, das ist eine meiner Freundinnen", stelle ich fest und nehme den Anruf entgegen.

"Gott, Josie, es tut mir so leid, dass wir dich allein zurückgelassen haben. Das war überhaupt gar nicht unsere Absicht, aber der Nikolaus und Knecht Ruprecht sind an uns vorbei gelaufen und Romy wollte unbedingt zu ihnen. Also sind wir ihnen gefolgt, was durch die ganzen Leute nicht so einfach war, und dann ist Talea auch noch ausgerutscht und hat sich das Knie aufgeschürft", schildert mir Daniela die Situation beinahe ohne Punkt und Komma, sodass ich selbst nicht zu Wort kommen kann. "Und als du angerufen hast, hatte sie ihr Handy natürlich wieder auf stumm."

Anstatt auf die kleine Story einzugehen, möchte ich einfach nur wissen: "Wo seid ihr denn jetzt?" Wo auch immer sie sich befinden, müssen auch viele andere Menschen sein, dem Geräuschpegel im Hintergrund nach zu urteilen.

"Wir stehen vor der Bühne nahe des Rathauses. Am besten läufst du einfach auf das Rathaus zu, dann wirst du die Bühne gleich sehen", erklärt das Mädchen am anderen Ende der Leitung. "Sehen wir uns also in ein paar Minuten?"

Daraufhin wende ich mich kurz Mike zu, ehe ich Danielas Frage bejahe. Mich würde es zwar freuen, weiter mit ihm Weihnachtslieder am Feuer zu singen, aber ich bin mit den anderen Mädels hier und auf diesen Abend mit ihnen habe ich mich schon die ganze Woche gefreut.

Nachdem ich aufgelegt und das Handy wieder in meine Tasche gesteckt habe, sage ich meinem Gegenüber Bescheid: "Ich sollte jetzt gehen. Hat mich wirklich gefreut, dich kennenzulernen." Aus den Lautsprechern erklingen nun die ersten Töne von All I Want For Christmas Is You.

"Warte, du kannst doch jetzt nicht einfach gehen, ohne mir deine Handynummer zu geben", wirft er ein und entschuldigt sich sogleich. "Sorry, das kam jetzt vielleicht falsch rüber. Aber so können wir eben in Kontakt bleiben."

"Klar, gerne." Diesmal holt er sein Handy heraus, woraufhin ich ihm meine Nummer mitteile. "Schreib mir dann einfach, damit ich deine Nummer auch hab." Er nickt und ich werfe ihm noch ein letztes breites Lächeln zu, bevor wir uns letztendlich voneinander verabschieden und ich mich von ihm entferne.

Ganz so habe ich mir den Weihnachtsmarkt nicht vorgestellt. Zwischenzeitlich gab es ein paar kleine Schwierigkeiten, doch mit Mike kam dann der Wendepunkt, der den Abend schließlich zu etwas Besonderem gemacht hat.

» - - «

© addictedtor5js

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top