✭ 9. Dezember ✭

Schneeflocken fangen

Es war für sie ein Tag wie jeder andere: sich aus dem Bett und zur Schule quälen, mit ihren Eltern schweigend am Frühstückstisch und ihren Mitschülern leise murmelnd in der Mensa essen; zuhören, abschreiben, aufzeigen, über schlechte, alte Leute Witze lachen. Lehrer wie am Fließband, Stoff, Stoff, Stoff - „Ihr schreibt bald Abitur." Seit Wochen immer dieselbe Leier; ein Sprung in der Platte, immer gleich, immer gleich, immer gleich.

Dann im überfüllten Schulflur, umgeben vom Lärm der trampelnden, kichernden, kreischenden Menschen wäre sie am liebsten fortgelaufen. Die Masse der gesichtslosen Jugendlichen schubste, drängelte, rempelte, schrie. Sie schwamm mit. Gelenkt, getrieben, genervt.

Und dann lief er für einen kurzen Moment im Gleichschritt neben ihr und machte den Unterschied.

Ohne sie anzusehen, fand sein kleiner Finger den ihren, verhakte sie beide für die Dauer eines Wimpernschlags miteinander. Hauchzarte Wärme für einen winzigen Augenblick. Der ganze Lärm in den Fluren verklang, trat in den Hintergrund, verlor an Bedeutung, obwohl er sie Augenblicke zuvor noch zu überwältigen gedroht hatte. Das einzige Geräusch, dass sie hören konnte, das einzige Geräusch was zählte, war das Flüstern ihrer Finger. Elektrische Impulse, die durch ihren Körper schossen, ihr Herz hüpfen und ihre Haut brennen ließen. Noah. Frieden für ihre Seele.

Zu schnell war der Augenblick vorbei. Kein Lächeln, kein Abschied. Er bog nach links ab, sprintete die Treppen herunter in den zweiten Flur. Als nächstes hatte er Sport, sie musste in den Klassenraum zu einer weiteren Stunde Mathematik, die die Zeit wieder unendlich dehnen würde; die das Einbrechen der Dämmerung am Nachmittag herauszögern würde, bis sie es nicht mehr würde aushalten können. Ob die Mathematiklehrer in ihren beigen Pullundern wussten, welche Macht sie im Klassenraum hatten? Dr Strange würde sicherlich vor Neid erblassen.

Sie zwang sich ihm nicht hinterher zu sehen, nicht zu schmunzeln; konzentrierte sich auf die verblassende, fremde Wärme, die ihren kleinen Finger für diesen unwirklichen Augenblick umfangen gehalten hatte. Das Lächeln bahnte sich ungefragt, unaufhaltsam einen Weg auf ihre Lippen und sie verbarg ihr Gesicht in ihrem dicken, rosafarbenen Schal.

„Analysis macht die Hälfte dessen aus, was ihr für das Abitur wissen müsst." Natürlich, natürlich, sie wussten es mittlerweile. Stoisch gelassen, gelangweilt und müde saß sie die Zeit in Mathematik ab, bis sie endlich - endlich - die alten Mauern, zu dick um gescheites WLAN zu ermöglichen, rissig und verwittert, verlassen durfte.

Angerempelt. „Entschuldige bitte." Ein Ellenbogen in ihren Rippen, eine unachtsam über die Schulter geworfene Tasche rammte ihren Arm. Mehr gemurmelte Entschuldigungen. Verabschiedungen, hastig hingeworfene Erklärungen, warum man unhöflich war. Eile, Hast, der Bus! Der Bus!

Ihr dröhnte der Kopf. Die Geräuschkulisse war unerträglich. Sie schwoll mit dem letzten Klingeln jeden Tag um ein Vielfaches an. Gezügelt, gezähmt bis zu dem Augenblick in dem die Freiheit dröhnend und blechern immer gleich verkündet wurde.

Vor der Schule wartete ungeduldig ihre große Schwester. An der Hand ihre kleine Nichte. Den Buggy neben sich. „Es tut mir leid Maja, ich bin spät dran. Sie hat geschlafen - zu kurz - , gegessen - zu wenig. Alles was du brauchst ist im Rucksack, ich muss los." Ein dicker Schmatzer für das Kind, ein gehauchtes Bussi für ihre kleine Schwester, dann saß sie schon im Auto, winkte, war weg.

Lächelnd ging sie in die Hocke, öffnete ihre Arme und ihre zweijährige Nichte warf sich hinein. Tief atmete sie den einzigartigen Geruch - eine Mischung aus Waschmittel und Träumen - ein und entspannte sich sofort. Die dicken Ärmchen umklammerten ihren Hals und ein feuchter Schmatzer landete zielgenau auf ihrer Wange. „Tante Maja lieb", murmelte die Kurze an ihre Schulter gelehnt. Ihr gelang die Aussprache des Buchstaben J noch nicht, so dass ihr Name aus dem Kindermund wahlweise wie Maka, Masa oder auch Maha klang, aber das störte sie nicht. „Ich hab dich auch lieb, Krümmel."

Sie setzte das Kind ab und verstaute ihre Tasche im Netz des Buggys. „Willst du laufen oder fahren?", fragte sie an die Kurze gewandt, während links und rechts Kinder und Jugendliche an ihnen vorbei strömten, die Köpfe gesenkt, vertieft in ihre Smartphones, ihnen ausweichend, ohne hinzusehen. Kein Blickkontakt. Kein bewusstes Wahrnehmen der anderen. Beinahe rannten sie gegen den Buggy. Hatten die keine Rückenschmerzen vom ewig gebückten Gehen? Dem ständig geneigten Kopf? Realitätsverlust, denn andere nahm man nur noch durch Glas, geschrumpft auf zehn Zentimeter wahr.

„Laufen", flüsterte sie leise und griff nach der vertrauten Hand. Während die Zweijährige mit großen Augen auf die vielen Menschen um sie herum starrte, genoss ihre Tante die kleine Hand in ihrer. So warm. So klein. So ohne Hintergedanken. Meistens. Es sei denn, es ging um Kekse. Dann wurde aus dem unschuldigen Kind ein raffinierter Ganove.

Langsam liefen sie in Richtung des Naturschutzgebietes, in dem Rehe und Wildschweine, Schafe und Ziegen darauf warteten von ihnen bewundert und mit trockenem Brot gefüttert zu werden. Sie passte sich wie selbstverständlich an das gedrosselte Tempo an. Jeden Dienstag brachte ihre Schwester die Kleine zu ihr. Jeden Dienstag gingen sie spazieren oder auf den Spielplatz. Jeder Dienstag war wie ein Kurzurlaub vom immer gleichen Alltag, dem immer gleichen Trott, dem Stress, der Hektik, der Eile, dem Kampf - höher, weiter, besser, schneller, schneller, schneller!

„Wie war es heute im Kindergarten?", fragte sie die Kleine. Seit etwas mehr als zwei Wochen erzählte sie so, dass man das ein oder andere raushören und Nachfragen stellen konnte. Sicherlich war das noch kein klassisches Gespräch, aber sie hatte Freude daran zuzusehen, wie schnell ihre Nichte lernte.

Der Lärm der Autos, die viel zu schnell durch die verkehrsberuhigte Straße rasten, die grelle Melodie aus blechernen Lautsprechern eines Schrottsammlers, das Gebrüll eines streitenden Paares aus dem geöffneten Fenster über ihr ... sie erschwerten ihr zu hören, was zählte.„Valentina, Schere, Nele, weint" heraus. „Hat Valentina dir nicht erlaubt mit der Schere zu spielen?" Ein ernstes Nicken. Wie so oft wünschte sie sich in den Kopf der Kleinen. Wieviel verstand sie wohl schon? „Und deshalb hast du geweint?" Kleine Finger zeigten auf blaue Augen, beinah stach sie sie sich hinein.

Hupen. Ein Mann stieg aus einem weißen Lieferwagen, ein Paket in der Hand. Die Straße blockiert. Das Hupen schwoll an.

„Mit den Augen hast du geweint." Ihre Bemühungen wurden mit einem deutlichen „Ja" belohnt. „Und dann hat Valentina dich getröstet?"
„Ja", begleitet von einem strahlenden Lächeln, bestätigte das Kind auch das. „Valentina lieb hab."

Unkompliziert.

Sie bogen ein letztes Mal ab und betraten den Waldweg, der sie an den Tiergehegen vorbeiführen würde. Sofort entzog die Kurze ihrer Tante die Hand und lief los. Rechts und links des Wegs waren Blätter und Sträucher von einer nahezu unversehrten Schicht Schnee bedeckt. Wann hatte es geschneit? Wieso hatte sie das nicht bemerkt?

Nur wenige Meter von den Gehegen entfernt, hielt sie der Kleinen die geöffnete Tüte hin. „Gibst du den Rehen das Brot? Sie haben sicher Hunger." Mit der Miene eines Chirurgen kurz bevor er in den Körper eines Menschen schnitt, nickte das Kind bestätigend und wählte das Brot aus. Geduldig stand ihre Tante mit der Tüte in der Hand da, bis sie nach dem Brot griff, es skeptisch ansah und es sich schließlich selbst in den Mund steckte.

„Hast du Hunger, kleine Maus?" Sie griff nach dem Rucksack und angelte zwischen sauberen Windeln und Feuchttüchern nach einer Banane.

Ein Fahrradfahrer klingelte. Schimpfte erbost darüber, dass sie im Weg standen. Hinter ihm drein ein Kind. Noch klein. Das Gesicht verbissen, gerötet von der Kälte. Angestrengt. „Mach schon Luis, fahr schneller. Wir haben keine Zeit mehr, ich habe noch einen Call." Der Kleine stemmte sich hoch und trat kräftiger in die Pedale. Weiter, schneller, keine Zeit die Tiere zu füttern.

Sie hob ihre Nichte in den Buggy und gab ihr die geschälte Banane. Setzte sich neben sie auf eine Bank, strich sanft über den Kopf der Kleinen, um ihr die Haare aus dem Gesicht zu nehmen.

Der Spielplatz war nicht weit. Väter, Mütter, Tanten, Onkeln, Babysitter und ihre Schützlinge eilten an ihnen vorbei. Nichts genaues wusste sie über diese Menschen. Sie alle hatten etwas gemein: ihre Aufmerksamkeit war immer geteilt. Geneigte Köpfte. Leuchtende Bildschirme. Ungeduldiger Stechschritt, statt langsames Schlendern. Keine Zeit. Immer effizient. „Mami beantwortet eben eine Mail, Justus. Gib dem Reh schonmal das Brot."

Als die Banane verputzt war, griff ihre Nichte nach der Tüte mit Brot und der Hand ihrer Tante. Gemeinsam gingen sie zum Gehege. Stellten sich zu dem kleinen runden Jungen, der gedankenverloren über das Gestänge leckte, hinter dem schon die Rehe gierig auf die Mitbringsel der Menschen warteten.
Vorsichtig schob sie ihre Hand vor das Metall und verhinderte eine weitere Verköstigung. Freundlich lächelte sie dem Kurzen zu und schüttelte den Kopf. Er grinste zurück und streckte seine Hand nach dem Reh aus, was gierig nach dem Brot in den Kinderhänden leckte.

Die beiden Kleinen teilten das Brot untereinander auf. Reichten es durch den Zaun, kicherten, wenn die grauen, rauen Zungen der Tiere über ihre Haut leckten. Sie hockte daneben. Ausgeschlossen, denn sie verstand die Unterhaltung der beiden nicht, schnappte nur manchmal einzelne Worte auf. Hin und wieder mit einbezogen, wenn zu viele Rehe einander gegen das Gitter drückten, sich gegenseitig vertrieben und die Kinder erschreckten. Dann warf sie eine Handvoll Brot über den Zaun und lenkte die Tiere ab.

Das Lachen der beiden schwoll an. Sie kicherten, kreischten vor Vergnügen. Berührten einander, zeigten hier hin und dort hin. Plapperten.

Als Justus sich auf den Popo fallen ließ, erschöpft vom Lachen, erwachte seine Mutter zum Leben. „Muss das sein? Immer machst du dich dreckig. Ich hab auch so genug zu tun, kann dich nicht fünfmal am Tag umziehen." Der Kurze stand auf, fiel dabei beinah vornüber. Zwei Hände voller Matsch wischten anschließend genüsslich über die gelbe Daunenjacke. Sie hätte schwören können, dass er sie angrinste.

Gemeinsam gingen sie weiter zum Gehege mit Schafen und Ziegen. Die sollten nicht gefüttert werden, aber gegen Streicheleinheiten hatten die runden Geschöpfe nichts. Nur mit dem Zeigefinger fuhr das Kind immer wieder über die dunkle Schnauze des Tieres. Es drängte immer weiter gegen den Zaun, gegen ihre Hand. „Mach ruhig weiter, Mäuschen. Das Schaf braucht heute ganz besonders viel Liebe, wie es scheint." Vermutlich nicht nur heute, aber nur heute konnten sie einen Unterschied machen.
Als das Tier sie verließ, setzten sie sich auf eine Bank und sahen streitenden Ziegen dabei zu, wie sie einander mit ihren Hörnern attackierten. Das Kind lachte, zeigte dann auf eine kletternde Ziege und juchzte vor Freude, als die Ziege hinabsprang. Sofort kletterte sie auf die Bank, griff nach der Hand ihrer Tante und sprang. „Nele springt." Immer wieder wiederholte sich der Vorgang, die Begeisterung nutzte sich nicht ab.

„Muss das sein? Mit den Schuhen auf der Bank." Von oben herab, schnippisch dahingeworfen, das Spiel beendend. „Und das auch noch! Sophia, komm, es schneit. Ich habe keine Kapuze. Meine Haare." Die Frau griff nach dem Arm des Mädchens, deren Hand sich kurz im Gitter des Geheges festhielt. Keine Chance. Unerbittlich fortgerissen.

Entschuldigend lächelte sie ihre Nichte an.

Das Kind lächelte zurück. Streckte die Hand aus und fing eine Flocke, umschloss sie mit der Faust. „Schnee", wisperte sie. Öffnete die Hand und suchte den Eiskristall, der längst geschmolzen war. Ihre Stirn runzelte sich. Sie drehte die Hand, suchte nach der gefangenen Beute. Dann grinste sie, rutschte von der Bank und rannte über die Wiese, Schneeflocken fangend.

© SarKatSyn

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Nehmt euch mal Zeit ein paar Schneeflocken zu fangen, schaut hoch vom Bildschirm, macht euch dreckig. ;)

Ich wünsche euch eine entspannte, entschleunigte, ruhige Vorweihnachtszeit mit Plätzchen und Tee, Familie und Schneeflocken.

Alles Liebe
Kate

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