✭ 6. Dezember ✭

Ihre Hand zittert, als sie nach dem Punsch greift. Ob vor Kälte oder etwas Anderem, vermochte sie selbst nicht zu bestimmen. Besorgt wartet Ailin darauf, dass ihr Sohn weiterspricht und macht sich dabei auf das Schlimmste gefasst.

Der Kloß in seinem Hals zwingt Niall dazu, leise zu sprechen. Vielleicht bildet er es sich aber auch nur ein und seine Stimme wird von seinem pochenden Herzschlag übertönt. „Ich bin schwul."

Der rothaarigen Irin fällt ein Stein vom Herzen. Die Augenblicke, in denen sie nichts erwidert, erscheinen Niall wie die längsten Augenblicke seines Lebens. Er bezweifelt, dass seine Mutter homophob ist. Dennoch weiß er, dass man sich hinsichtlich dieser Einschätzung täuschen kann. In seinem Studium hat er einige Kommilitonen kennengelernt, die laut eigenen Angaben seht tolerant seien, es jedoch offensichtlich nicht sind.
Letzten Endes bringt seine Mutter ein „Okay", hervor.
Ihr Sohn zeigt einen verdutzten Gesichtsausdruck. „Okay?" Er weiß selber nicht, welche Reaktion er erwartet hat. Dass sie bloß mit „Okay" antwortet, hat er jedenfalls nicht gedacht.

„Okay." Die Rothaarige greift über den Tisch hinweg nach Nialls Hand. Sie redet mit ihm, als würden die beiden gerade eine ganz normale Konversation führen. Ist es das nicht eigentlich sogar? „Hattest du Angst, dass ich es nicht akzeptieren würde?", fragt sie. Niall nickt schwach, aber es reicht aus, damit seine Mutter die Geste erkennt. „Niall ich liebe dich. Ich bin stolz auf den Menschen, der du bist und ich werde immer hinter dir stehen. Ich bin glücklich wenn du es bist. Und wenn du dafür einen anderen Mann an deiner Seite brauchst, dann ist das so." Ohne dass Niall es kontrollieren kann, verschwimmt seine Sicht. Wenige Augenblicke später rollt eine Träne der Erleichterung seine Wange herunter.

Seine Mutter läuft um den Tisch herum und zieht ihn eine Umarmung. „Es ist alles okay", murmelt sie. Ihnen ist es in dem Moment egal, dass mehrere Menschen im Weihnachtsmarkt das Szenario beobachten können. Er ist einfach nur erleichtert, dass seine Mutter sein Geständnis gut aufnimmt. Er hat sich in seinem gesamten Leben noch nie so befreit gefühlt wie jetzt.

Mutter und Sohn spazieren einige Zeit später nach Hause. Dabei achtet er besonders darauf, auf die Stellen zu treten, an denen viel Schnee liegt, da ihn das Knistern beim Herunterdrücken des Schnees beruhigt. Viele Menschen würden ihn als kindisch bezeichnen. Sein Freund bezeichnet ihn jedoch als lebhaft.

Ailin nimmt einen Schluck von der heißen roten Flüssigkeit in ihren Händen. „Wie heißt dein Freund?", wiederholt sie die Frage, die sie bereits am Weihnachtsmarkt gestellt hatte.

„W-woher weißt du, dass ich-." Er verstummt, weil seine Mutter dazwischen redet.

„Glaubst du wirklich, ich hätte nicht bemerkt, wie du seit einigen Wochen ständig zu grinsen anfängst, wenn du auf dein Handy schaust? Und ich glaube nicht, dass du dich nachts aus dem Haus schleichst um auf Partys zu gehen, wie du es mir erzählt hattest – ich weiß, dass du nicht gerne feiern gehst."

„Ich weiß wirklich nicht was du-." Die Irin wirft ihrem Sohn ihren typischen du-weißt-genau-was-ich-meine-Blick zu, weshalb er die Ausrede aufgibt.
Er kratzt sich am Hinterkopf. „Ron."

„Na geht doch. Das ist ein schöner Name." Sie lächelt. „Feiert er Weihnachten bei seiner Familie?"

Niall schüttelt den Kopf. „Er bleibt in den Weihnachtsferien hier. Seine Familie ist ziemlich beschäftigt und schafft es dieses Jahr nicht zu feiern."
Seine Mutter runzelt die Stirn, da ihr die Erklärung nicht logisch erscheint – an Feiertragen bekommt man vom Arbeitgeber doch normalerweise frei? Sie geht jedoch nicht weiter darauf ein. „Wieso fragst du ihn dann nicht, ob er heute Abend zu uns kommen möchte? Er kann den Abend mit uns verbringen."

„Ich kann ihn fragen."
Und so ruft er seinen Freund an, der einwilligt und vier Stunden später an der Haustür von Nialls Haus klingelt. Die alleinerziehende Mutter öffnet die Haustür und begrüßt den braunhaarigen Briten. „Guten Abend! Du musst Ron sein?" Als der besagte Junge zustimmt bittet sie ihn herein und stellt sich ihm vor.
„Ich bin Ailin, Nialls Mutter."
Sie umarmt ihn kurz und diese kleine Geste reicht aus, damit Ron seine angespannten Schultern fallen lässt.

Anschließend stellt sie sich ebenfalls vor. „Ron, aber das wissen Sie ja bereits."
„Du kannst mich ruhig duzen", sagt sie lächelnd.

In der Küche trifft Ron auf Niall. Dieser holt gerade die Weihnachtsgans aus dem Backofen, dessen Geruch die gesamte Küche füllt. Nachdem er das Backblech auf dem Herd abgestellt hat, entdeckt er seinen Freund. Mit einem „Hey!" begrüßt er ihn und gibt ihm einen Kuss.
Sein Freund, der ein wenig größer als Niall ist, erwidert die Begrüßung und schlingt seine kräftigen Arme von hinten um ihm. „Wie geht es dir?"

Der Blondschopf lässt sich nach hinten gegen Rons Brust sinken und seufzt entspannt. „Super, weil du endlich da bist."

Ron grinst. „Du bist ein kleiner Schleimer, weißt du das?"
Niall zuckt mit den Schultern. „Ist doch die Wahrheit."
Ein Blitzlicht lässt die beiden zur Seite schauen. Nialls Mutter steht im Türrahmen und hat soeben  ein Foto der beiden geschossen. „Tut mir leid, dass ich euch störe, aber ihr seht so süß aus, da musste ich euch fotografieren", sagt sie und schmunzelt.

„Mom!", stößt ihr Sohn genervt aus und rollt mit den Augen. Ron hingegen lacht bloß.

Anschließend decken sie zu dritt den Esstisch, um dann mit dem Abendmahl zu beginnen. Sie unterhalten sich über Rons Studium und seine Zukunftspläne.

„Wieso bist du während der Ferien denn nicht bei deiner Familie?", fragt Ailin nach einer Weile. Niall schaut nervös zu seinem Freund. Er hatte vergessen seiner Mutter zu sagen, dass sie Ron nicht auf seine Familie ansprechen soll.

„Wir ähm", er kaut auf seine Unterlippe, „Sie haben damals den Kontakt zu mir abgebrochen, weil sie nichts mit Menschen zu tun haben wollen, die auf dasselbe Geschlecht stehen." Von den Beleidigungen, die er damals an den Kopf geworfen bekommen hatte, erzählt er Ailin nicht.

Ailin blickt ihn unglaubwürdig an. „Das tut mir wirklich leid." Sie konnte noch nie verstehen, wieso Eltern den Kontakt zu ihren Kinder, ihrem eigenen Fleisch und Blut, abbrechen, nur weil diese nicht ihren Vorstellungen entsprechen.

„Ist schon gut. Es ist jetzt schon etwas her", antwortet er mit der Schulter zuckend. Genau genommen sind erst zwei Jahre vergangen, seitdem der damals noch 16-jährige aus dem Elternhaus geworfen wurde und in einer vom Jugendamt betreuten Wohnung leben musste. Dass er manchmal noch einige Nächte durch weint, weil ihm seine Familie fehlt, verschweigt er.

Ailin wechselt das Thema, da ihr nicht entgangen ist, dass Rons Stimme ein wenig angeschlagen klingt. „Wie lange seid ihr schon zusammen?"

Niall möchte gerade anfangen zu sprechen, als er von Ron unterbrochen wird: „Seit drei Monaten."

Eindringlich schaut Ailin mit schräggestelltem Kopf zu ihrem Sohn. „Ach so, das ist ja toll", antwortet sie ohne den Blick von ihrem Sohn zu nehmen. Darauf wird sie ihn später definitiv noch einmal ansprechen.

Nach dem Essen sitzen die drei auf dem Sofa und versuchen sich zu einigen, welchen Film sie  schauen möchten.

„Wie wäre es mit ,der Grinch'? Damit machen wir nichts falsch", unterbricht Ron seinen Freund und dessen Mutter, die gerade die altbekannte Diskussion darüber führen, welcher Film geschaut werden soll. Normalerweise brauche die Zwei eine halbe Ewigkeit bis ein Film ausgesucht worden ist.

„Damit wäre ich einverstanden", erwidert Niall und seine Mutter nickt zustimmend. Daraufhin steht Niall auf und legt die DVD in den DVD-Player. Dann setzt er sich neben Ron, der einen Arm um ihn legt und ihn an sich drückt. Sofort spürt Niall seine Körperwärme, die ihn schon viele Nächte zuvor gewärmt hat.

Er weiß nicht wann genau er eingeschlafen ist, doch das letzte was er wahrnimmt sind Rons Arme, die ihn die Treppe hoch tragen und auf seinem Bett ablegen. Er ist unfassbar dankbar dafür, dass er dieses Weihnachten mit seiner Mutter und seinem ersten Freund verbringen darf.

© Roto_Rota

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