✭ 19. Dezember ✭
Schneeflöckchen, Weißröckchen, wann kommst du geschneit?
Du wohnst in den Wolken, dein Weg ist so weit.
Als kleines Kind habe ich das Lied immer gesungen und gehofft, dass der liebe Gott mich hört und es schneien lässt. Ich habe tatsächlich daran geglaubt, was mir heute echt lächerlich vorkommt. Natürlich hat ein blödes Lied keinen Einfluss auf das Wetter. Das habe ich mit der Zeit auch erkannt, als es wieder und wieder kein weißes Weihnachten gab.
In diesem Moment allerdings fallen draußen weiße Flocken vom Himmel. Nicht allzu viele und auch nicht besonders groß, aber sie sind da. Seit einer gefühlten Ewigkeit schneit es wieder vor Heiligabend. Ich muss zugeben, dass ich den Schnee zu dieser Zeit echt vermisst habe.
Aber so gern ich nun das Haus verlassen würde, muss ich mich auf die Aufschriebe vor mir konzentrieren. Es sind keine fünf Monate mehr, bis ich mein Abitur in Mathe schreiben werde, und allein beim Gedanken daran könnte ich mir schon in die Hose machen. Deswegen habe ich mir vorgenommen, jeden Tag mindestens eine Stunde zu lernen, und bisher funktioniert das sogar ganz gut.
So vertieft in meine Formelsammlung, zucke ich ein klein wenig zusammen, als jemand an meiner Tür klopft. Nachdem ich "Herein" gesagt habe, öffnet sich diese und der Junge, den ich seit einigen Monaten meinen Freund nennen darf, kommt herein.
"Ich habe dir doch geschrieben, dass ich beschäftigt bin", erkläre ich ihm daraufhin, stehe aber dennoch auf und umarme ihn.
"Denkst du wirklich, das hält mich davon ab, zu dir zu kommen?", grinst Finn mich an, nachdem wir uns voneinander gelöst haben, und drückt mir einen kurzen Kuss auf den Mund. "Du hast die ganze letzte Woche damit verbracht zu lernen. Ich finde, du hast dir ein paar Tage Pause verdient. Und deine Mutter ist übrigens derselben Meinung, wie ich eben erfahren habe, als sie mich hereingelassen hat."
Eine Pause klingt in der Tat verlockend, doch ich bin mir trotzdem nicht sicher, ob das eine so gute Idee ist.
"Ella, es sind nur noch fünf Tage bis Weihnachten und du hast noch nicht einmal Plätzchen gebacken und dabei Weihnachtslieder gesungen. Das hast du dir noch nie nehmen lassen", meint der Blondhaarige. Auch wenn wir dieses Jahr das erste Mal zusammen Weihnachten feiern werden, weiß er gefühlt alles über meine Traditionen.
Wenn ich über seine Worte nachdenke, fällt mir auf, dass er recht hat. Aber was noch viel schlimmer ist, ist, dass ich bisher keinen einzigen Weihnachtsfilm gesehen habe. Abends bin ich immer früh ins Bett gegangen, weil ich zu müde war, um noch bis halb elf vor dem Fernseher zu hocken.
"Weißt du was? Ich sollte mir wirklich eine Auszeit nehmen", beschließe ich schließlich. Die Zeit vor und um Weihnachten sollte magisch sein, und nicht vom Schulstress geprägt. Diese Matheaufgaben sollen nicht der Grund dafür sein, dass ich mich nicht meinen Traditionen erfreuen kann. Statt mit ihnen sollte ich die Zeit mit meinen Liebsten und den Dingen verbringen, die mich glücklich machen.
Folglich klappe ich meinen College-Block zusammen und greife nach der Hand, die Finn mir anbietet. Dieser strahlt Zufriedenheit und auch ein bisschen Stolz darüber, dass er mich überreden konnte, aus. Er zieht mich sofort mit sich, sodass ich gerade noch so mein Handy erwische.
"Warum hast du es denn so eilig? Hast du etwas geplant?", lache ich leicht, während ich mir Mühe gebe, mit meinem Freund Schritt zu halten.
"Allerdings", gibt er zurück. "Meine Mutter möchte liebend gern mit dir Plätzchen backen, und du kennst sie. Sie wird kein Nein akzeptieren."
"Muss sie auch nicht. So ein Angebot könnte ich niemals ablehnen", sage ich. Dabei meine ich die Worte hundertprozentig ernst. Finns Mutter ist unglaublich liebenswert. Ich hatte wirklich Angst vor dem ersten Treffen mit seinen Eltern, weil ich mir selbst den Druck gemacht habe, ihnen unbedingt gefallen zu müssen. Sie hat mir letztendlich alle Sorgen genommen.
"Ach ja? Eben hast du dich noch dagegen gesträubt, überhaupt mit dem Lernen aufzuhören", macht der Blondhaarige mir erneut bewusst. Mittlerweile befinden wir uns im Gang des Erdgeschosses und lösen unsere Hände voneinander, um unsere Schuhe anzuziehen.
Ich erlaube mir derweil einen kleinen Scherz und erkläre ihm: "Da war auch noch nicht die Rede von deiner Mutter. Wäre sie nicht dabei und ich müsste den Tag mit dir allein verbringen, würde ich es mir wahrscheinlich anders überlegen." Ein Grinsen kann ich mir nicht verkneifen, und als Finn mich gespielt geschockt anguckt, strecke ich ihm die Zunge heraus.
Als wir beide Schuhe und Jacke angezogen haben, teile ich meiner Mama mit, dass ich mit zu Finn gehe. Daraufhin wünscht sie mir viel Spaß, wofür ich mich bedanke, und wir treten hinaus in die Kälte.
Sofort landen die kleinen, weißen Flocken auf meinen Ärmeln, meinen Haaren und teilweise auch auf meiner Nase. Instinktiv versuche ich, mit meiner Zunge eine Schneeflocke aufzufangen, und fühle mich direkt in meine Kindheit zurückversetzt.
"Ich kann's nicht fassen, dass ich wegen Mathe fast hierauf verzichtet hätte. Ich meine, klar, Vorbereitung ist wichtig, aber die Zeit um Weihnachten sollte die schönste und besinnlichste Zeit des Jahres sein. Irgendwie habe ich das wohl vor lauter Stress vergessen. Deswegen danke, dass du mich aus meinem Zimmer gelockt hast", äußere ich mich. Finn meint daraufhin, dass es der Rede nicht wert sei, doch ich finde, dieses Danke musste ausgesprochen werden.
Als wir nach circa zehn Minuten bei ihm angekommen sind - wir wohnen glücklicherweise im selben Dorf - und wir auch das Haus betreten haben, fällt mir sofort der Weihnachtsbaum auf, der durch die geöffnete Tür zum Wohnzimmer zu sehen ist. Seine Nadeln sind von einem saftigen Grün, an jedem zweiten Zweig hängt entweder eine rote oder eine weiße Kugel und fast überall glitzert das Lametta. Und der Stern an der Spitze muss natürlich ebenfalls erwähnt werden.
"Da bist du ja!", ruft Finns Mutter aus, während sie durch den Türrahmen und auf mich zu läuft. Sie schließt mich auf der Stelle in eine herzliche Umarmung, welche ich freudig erwidere. "Ich habe alles schon zusammengestellt. All die Zutaten und die Ausstecher liegen auf der Arbeitsfläche bereit."
"Super, dann können wir ja gleich loslegen", schlage ich vor und klatsche gleichzeitig in die Hände. Und ohne auf eine Antwort der beiden anderen zu warten, marschiere ich in die Küche ein. Als wir wieder alle beisammen sind, machen wir uns direkt ans Werk.
Sobald sich der Teig im Kühlschrank befindet, holt Finns Mutter eine Weihnachts-CD, legt diese in die Stereoanlage im Wohnzimmer ein und dreht die Lautstärke so weit auf, dass man die Musik bestimmt im ganzen Haus hören kann.
Auch wenn sich Finn anfangs etwas weigert, bringe ich ihn dazu, ebenfalls lauthals mitzusingen, und so geben wir alle Last Christmas zum Besten. Ich muss sagen, dermaßen viel Spaß hatte ich schon seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr.
Nach einer halben Stunde im Kühlschrank holen wir den Teig wieder heraus, legen ihn auf die Arbeitsfläche, auf der wir vorher Mehl verteilt haben, und rollen ihn mit einem Nudelholz glatt. Die Packung mit dem Mehl befindet sich noch geöffnet neben der Spüle, was sich als Nachteil herausstellt, weil mein Freund sich eine Handvoll davon nimmt und mir, als ich nicht aufpasse, mitten ins Gesicht schmiert.
Während er sich vor Lachen kaum halten kann, sehe ich ihn ungläubig an. "Du hast echt Glück, dass dein Vater nicht hier ist. Sonst dürftest du dir jetzt etwas anhören", sagt Finns Mutter zu ihrem Sohn, dem es aber egal zu sein scheint. Und um ehrlich zu sein, höre ich auch nicht wirklich darauf. Im Gegenteil, ich räche mich an ihm, indem ich ihm ein wenig Mehl in seine Haare schütte.
"Das hast du nicht getan!", bringt er dann hervor, woraufhin ich grinsend mit den Schultern zucke. Er ist schon im Begriff, einen weiteren Zug zu machen, doch nun greift seine Mutter ein weiteres Mal ein und letztendlich beenden wir auch die Mehlschlacht.
Als nächstes suchen wir uns die Ausstecher aus. Einen Augenblick später hält Finn einen Ausstecher in Engelsform in der Hand und, als wäre unsere kleine Schlacht nie geschehen, erzählt er mir: "Der steht stellvertretend für dich, denn du bist mein Engel."
Bei diesen Worten beschleunigt sich mein Puls immens, weswegen ich nach einem herzförmigen Ausstecher greife und erwidere: "Und das steht stellvertretend für mein Herz, das du mir gestohlen hast."
Finns Mundwinkel bewegt sich ein klein wenig nach oben, bevor er einen Schritt auf mich zu macht, seine rechte Hand auf meiner linken, noch immer mit Mehl bedeckten Wange platziert und mir einen sanften Kuss auf die Lippen drückt. Der Kuss ist nur von kurzer Dauer, aber er verursacht Schmetterlinge in meinem Bauch.
Finns Mutter verlässt für einen kurzen Moment die Küche, um sich um die Wäsche zu kümmern.
Derweil bestreichen wir die Plätzchen, die wir bereits ausgestochen und auf das Backblech gelegt haben, mit Eigelb und verteilen ein paar Streusel darauf.
"Hey, äh, was hältst du davon, wenn wir Weihnachten zusammen verbringen? Deine Familie und meine Familie?", erkundigt der Blondhaarige sich nun. "Ich weiß, ihr geht normalerweise zu deinen Großeltern. Aber das ist das erste Weihnachten, seitdem wir ein Paar sind, und ich möchte dich da gerne bei mir haben. Natürlich nur, wenn du keine Mathe-Aufgaben erledigen musst."
Es stimmt, für gewöhnlich feiern wir Heiligabend mit meiner Oma und meinem Opa. Allerdings steht am ersten Weihnachtsfeiertag immer das große Familienessen an, sodass wir sie an dem Tag ebenfalls sehen. Daher sollte es nicht schlimm sein, dieses Mal Heiligabend mit Finn und seinen Eltern zu verbringen. Und an Weihnachten als Fest der Liebe möchte ich auch bei meinem Freund sein.
"Geht mir genauso", gebe ich also zu. "Und ich werde mich definitiv nicht um Mathe kümmern. Ich habe mir vorgenommen, mich vor und an den Feiertagen nicht zu stressen, sondern einfach die Zeit zu genießen, mit all meinen Liebsten."
"Super, dann kann dem ja nichts mehr im Wege stehen", merkt Finn lächelnd an. "Das wird sicher das beste Weihnachten überhaupt."
Nachdem ich aus dem Fenster geschaut habe, wo mittlerweile große Schneeflocken in immer geringerem Abstand auf die Erde fallen, ergänze ich, während ich nach draußen zeige: "Ja, und wenn das so weiter geht, wird es endlich wieder weiße Weihnachten geben."
© addictedtor5js
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