✭ 16. Dezember ✭
You'll never Walk alone
Lia, das sieht bezaubernd aus!" Maeva zog ihre zarte Nichte stürmisch zu ihr hinunter in ihre Arme. „Kind, du hast wirklich Talent." Sie drückte ihr einen dicken Schmatzer auf die Wange, was Lia mit einem schüchternen Lächeln quittierte. In dem Arrangement steckte ihr ganzes Herzblut, denn sie wusste, dass es das letzte Mal sein könnte.
„Danke, Tante Mae", flüsterte Lia und stellte sich anschließend wieder aufrecht hin. „Bist du wirklich zufrieden? Ich kann es auch noch einmal ändern." Statt einer Antwort tätschelte Maeva ihre Hand und schüttelte den Kopf. Ihr Kopfschütteln galt zum einen dem Umstand, dass der Marktstand für den jährlichen Bauernweihnachtsmarkt im Rahmen der Feierlichkeiten der Vorweihnachtszeit ihres Dorfs keinerlei Änderungen bedurfte, da das liebevolle Arrangement der unterschiedlichen Wollprodukte, die dekorativ verteilten Adventskränze, die letzten Kürbisse aus der diesjährigen Ernte und die wunderschönen, großen Amaryllis einfach perfekt in Szene gesetzt waren. Zum anderen schüttelte sie den Kopf über das fehlende Selbstvertrauen und die mangelnde Selbstsicherheit ihrer Nichte. Wieso konnte oder wollte das Mädchen nicht sehen, dass sie etwas sehr gut gemacht hatte?
Seufzend löste Maeva die Bremsen ihres Rollstuhls und fasste nach den Greifreifen. Flink drehte sie den Stuhl und rollte zurück zu ihrem Mann Elias, der mit dem Bulli wenige Meter weiter auf sie wartete. Nickend grüßte sie Paul und Sabine, die den Stand zu ihrer Linken mit den Erzeugnissen ihrer Bienenvölker dekorierten und winkte Alexander, dem das größte Gehöft im Dorf gehörte, zu, der eine riesige Plüschkuh mit Weihnachtsmütze neben seinen Molkereiprodukte-Stand zerrte.
„Brauchst du noch etwas, Lia?" Während Elias Maeva sanft aus dem Stuhl hob, sie auf seine Arme nahm und zur Beifahrerseite des orangeroten Wagens trug, wo er seine Frau vorsichtig auf den Sitz gleiten ließ, lächelte er Lia freundlich zu. Sie beobachtete ebenfalls lächelnd, wie Elias die Stirn ihrer Tante küsste, bevor er die Tür zuschlug und den Rollstuhl in den Kofferraum hievte. Ihre Eltern gingen nie so miteinander um. Anfangs hatte Lia noch geglaubt, dass es daran lag, dass ihre Mutter zehn Jahre älter war als ihre kleine Schwester und damit irgendwie erwachsener, aber mittlerweile wusste sie es besser. Ihre Tante und ihr Onkel waren einfach gute Menschen und sie liebten einander sehr, obwohl sie es nicht leicht hatten. Sie waren seit der sechsten Klasse zusammen und wussten immer, dass sie zusammen alt werden würden.
Mit Anfang zwanzig erkrankte Maeva dann an Multipler Sklerose und lebte nun seit fünfzehn Jahren mit dieser Krankheit. Sie hatte viele gute Jahre gehabt, aber in letzter Zeit nahmen die Beschwerden immer mehr zu und die Phasen des Stillstands wurden immer kürzer. Dennoch waren sie immer gut gelaunt und liebevoll mit sich und anderen. Es beeindruckte Lia sehr, dass beide nicht mit diesem Schicksal zu hadern schienen, sondern dass es ihnen gelang immer positiv zu sein und alles so zu nehmen, wie es kam. Sie wünschte, dass sie das ebenfalls könnte.
„Ich bin in zwei Stunden zurück, meine Kleine." Elias holte die alte Holzkasse aus dem Wagen und drückte sie Lia in die Hand. „Wenn etwas ist, kannst du mich anrufen oder Alexander hilft dir." Sie nickte. Das hatten sie bereits gefühlte hundert Mal durchgesprochen, seit sie angeboten hatte am Stand auszuhelfen, damit Elias seine Frau zur Therapie ins Krankenhaus bringen konnte. Die Schübe kamen unangekündigt und ungefragt, sie richteten sich leider nicht nach einem Zeitplan und waren dieses Jahr auf das Erntedankfest gefallen, was ihrer Tante das Herz gebrochen hatte, denn sie liebte den Markt und den Trubel darum herum sehr.
„Ich schaffe das schon, Onkel Elias. Fahr du bloß vorsichtig und stresse dich nicht. Der Stand ist fertig, ich kenne alle Preise. Wenn der Markt in einer halben Stunde öffnet, wird der Ansturm nicht so riesig sein, dass ich das nicht bewältigen könnte. Du weißt ja, dass es erst um den späten Nachmittag herum voller wird." Sie hoffte inständig zuversichtlicher zu klingen, als sie es war. Allein der Gedanke daran mit lauter fremden Menschen reden zu müssen, trieb ihr den kalten Schweiß auf die Stirn. Smalltalk gehörte überhaupt nicht zu ihren hervorstechenden Fähigkeiten. „Nun fahrt schon." Schnell winkte sie den beiden zu und ging dann die wenigen Meter zurück zum Stand vor dem Sabine stand und diesen fotografierte.
„Der Stand hat nie schöner ausgesehen", flüsterte sie und wischte eine Träne von ihrer Wange. Lia stellte die Kasse ab und trat neben die beste Freundin ihrer Tante. „Lia, du hast ihr damit eine große Freude bereitet. Es hätte ihr das Herz gebrochen dieses Jahr nicht teilnehmen zu können." Während sie sprach, zog sie Lia in eine Umarmung, die diese nur steif und fast widerwillig erwiderte.
Sabine schüttelte den Kopf über die Nichte ihrer besten Freundin und ließ sie schnell los. Manchmal vergaß sie einfach, dass Lia unfassbar introvertiert war und unangekündigte, körperliche Nähe ihr Schwierigkeiten bereiteten. Entschuldigend lächelte sie der zarten, jungen Frau zu. „Die Schübe kommen immer schneller, ich habe solche Angst um sie." Lia nickte. Multiple Sklerose war ein Arschloch.
Unverbindlich lächelte sie Sabine zu, die schweigend ihren Gedanken nach- und schließlich zurück zu ihrem Stand ging. Lia griff in ihre Daunenjacke und schaltete ihre Lieblingsplaylist ein. Als sie die AirPods in ihre Ohren steckte, dröhnte ihr The Phoenix von Fall Out Boy durch Mark und Bein. Entspannt bückte sie sich, um die kleinen Seifen aus Schafsmilch, die aus dem schräg gestellten Korb gekullert waren, wieder ordentlich zu arrangieren.
In Gedanken darüber versunken, ob sie die dicken, wollenen, braunen und beigen Socken doch besser mit den kleinen, grünen Kürbissen tauschen sollte, damit die Farben besser zur Geltung kamen, erhob sie sich und trat einen Schritt zurück, nur um im nächsten Moment rücksichtslos in den Stand gestoßen zu werden.
Lia sah die Schafsfelle, dicken Wollpullover und kleinen, grünen Kürbisse auf sich zu rasen und griff nach dem erstbesten, was in die Nähe ihrer Hände kam. Leider war das die schwere Holztafel, die den Hofladen ihrer Tante auswies und die nur auf einem einfachen Gestell Platz gefunden hatte.
Gemeinsam mit der Tafel landete sie also in den Produkten, die die rüde Behandlung mit bohrenden Schmerzen abstraften. Verfluchter Mist.
Für einen Augenblick lag sie einfach still in den Wollprodukten, die Schafsmilchseife kullerte auf ihren Kopf, der Käse quoll unter ihr hervor und sie schnappte nach Luft, die ihre Lungen aber nicht füllen wollte. Der rationale Teil ihres Selbst wusste, dass sie mit dem Brustkorb auf die Kante des Tisches gekracht war und das Zwerchfell von der rüden Behandlung des Solarplexus für einen Moment gelähmt war, weshalb sie nicht atmen konnte. Der andere - sehr viel größere - Teil von ihr geriet in Panik. Sie hörte, wie Sabine, Paul und Alexander nach ihr riefen, spürte fremde Hände auf ihrem Körper und schloss die Augen. Zwei persönliche Alpträume vereint in einem: erstickend und hilflos anderen Menschen ausgeliefert zu sein.
Als sie ihre Augen wieder öffnete, hatte sich ihr Zwerchfell entspannt und von zermatschtem Kürbis geschwängerte Luft flutete ihre Lungen. Erleichtert sah sie in das Gesicht einer besorgten Sabine, die unentwegt fragte, ob alles in Ordnung sei. Sofort schossen ihre Augen zum Stand ihrer Tante, den jetzt das pure Chaos zierte. Scheiße.
Ihre Augen schwammen in Tränen und sie schalt sich selbst eine tollpatschige Idiotin. Der Stand war doch fertig gewesen, warum nur hatte sie daran rumhantieren müssen?
Erst als Sabine mit einem Tuch an ihr herumtrieb, vermeintlich um den Schaden zu begrenzen, faktisch den Schmarrn der zerborstenen Kürbisse aber nur auf ihrer Jacke verreibend, nahm Lia die hitzige Auseinandersetzung zwischen Alexander und einem ganz in schwarz gekleideten Motorradfahrer wahr, der noch immer auf seiner Maschine saß. Sie war garnicht gestolpert. Dunkel erinnerte sie sich an einen Tritt oder Schlag in den Rücken. Sie war nicht Schuld. Er war Schuld! Das war alles seine Schuld!
„Das ist alles seine Schuld", kreischte sie auch schon wenige Sekunden später und rappelte sich auf, um auf den Fahrer loszugehen. Dieser drehte sich von Alexander weg und sah sie erst in dem Moment an, in dem Lia sich schon vor ihm aufbaute. Er nahm den Helm ab und musterte sie von oben bis unten.
Als Lia sah, wer sich unter dem Helm verbarg und wer somit für das Schlamassel verantwortlich war, sah sie endgültig rot. Alex war der älteste Sohn Alexanders und der Grund dafür, dass das gesamte Helene-Lange- Gymnasium sie nur Mäuschen, statt bei ihrem richtigen Namen rief. Selbst Lehrkräfte hatten sie Maus genannt. Sie hatte nie den Mund aufgemacht, sich nie beschwert, wenn die Jungs sich einen Spaß daraus machten, dass die Maus Jungfrau oder ungeküsst war und einfach nur gehofft, dass es vorbeigehen würde. Sie würde heute auf keinen Fall wieder in die Rolle der Maus schlüpfen.
„Du gehirnamputierter, arroganter Hans-Guck-in-die-Luft!" Sie wusste nicht woher sie in diesem Moment den Mut nahm so mit Alexanders Sohn zu sprechen, aber die Frustration der letzten Wochen entlud sich einfach über ihm. „Du bist echt das dümmste und rücksichtsloseste, was mir je untergekommen ist. Wie kann man nur so dämlich sein und alles mit Füßen treten, was andere mühsam aufbauen? Du bist so ein nichtsnutziger Mistarsch."
Alexander, Sabine und Paul starrten Lia mit offenen Mündern an, während der junge Alex die Brauen hochzog, so als ob er sagen wollte: „Guck an, die ungeküsste Maus redet." Er schwieg aber, was angesichts von Lias Wut besser für ihn war.
Während sie ihn mit einem Schwall weiterer kreativer Beleidigungen bedachte, stieg Alex von seiner Maschine ab und schob sie hinter den Stand Maevas.
Lia motzte ihn einfach weiter an und bemerkte garnicht, dass sie ihm währenddessen gefolgt war. Die anderen Erwachsenen beobachteten das Geschehen aus sicherer Entfernung.
Erst als Alex sowohl seine Lederjacke, als auch seinen schwarzen Pullover auszog, hielt Lia überrascht inne. „Was zur Hölle machst du da?" Flüchtig glitt ihr Blick über seinen muskulösen Brustkorb, den das schwarze T-Shirt eng umspannte.
„Ich ziehe mich aus." Er zuckte mit den Schultern und grinste sie an, während er den Reißverschluss im Schritt seiner
Motorradhose hinabzog.
Lia drehte sich vor Schreck um. Sie konnte spüren, wie das Blut ihre Wangen färbte und hasste sich einmal mehr für ihre Schüchternheit.
„Entspann dich Maus, ich werde schon nicht über dich herfallen." Als sie den verhassten Spitznamen hörte, zuckte sie zusammen.
„Lia." Sie drehte sie um und funkelte ihn an.
„Mmh?", fragend sah er auf, während er die Motorradkluft von seiner Jeans pellte.
„Mein Name ist Lia."
„Ich weiß." Er zwinkerte ihr zu und nahm seinen Pullover in die Hand.
„Ok, Blödarsch." Sie zuckte mit den Schultern und wandte sich von ihm ab. Der Typ war nicht ihr größtes Problem, sondern der demolierte Stand.
Seufzend sah sie auf die Bescherung hinab, als Alex ihr auf die Schulter tippte. „Ich mache das hier sauber und rette, was zu retten ist. Den Schaden zahle ich natürlich." Er hielt ihr seinen Pulli unter die Nase. Natürlich zahlte dieser Großkotz den Sachschaden aus der Portokasse. Aber was war mit dem Herzenwunsch ihrer Tante, den er zu Matsch zermalmt hatte?
Sein Räuspern unterbrach ihre hässlichen Gedanken. „Vielleicht möchtest du dir den hier überziehen? Er ist getragen, aber sauber."
Lia musterte Alex, wobei sie den Kopf in den Nacken legen musste, denn er überragte sie um mehr als eine Kopflänge. Seine braunen Haare fielen ihm locker in die Stirn und die vollen Lippen umschmeichelte ein feines Lächeln. Sie suchte in seinem Gesicht nach bösartigen Hintergedanken, fand aber nichts. Ein leises Seufzen brach sich Bahn, als er sie mit geneigtem Kopf anlächelte. Er sah viel zu gut aus und wusste das auch. Auffordernd streckte er ihr seinen Hoddie hin.
Dann sah sie an sich herab. Ihre eigene Jacke war völlig versaut, ihre schwarze Jeans vielleicht noch zu retten, wenn sie den Schmock schnell abwusch. Sie haderte mit sich, entschied sich dann aber das Angebot anzunehmen.
Alex trat um den Stand herum und schaufelte mit bloßen Händen den Käsekürbismatsch in einen der großen Eimer, die sein Vater ihm hilfsbereit hingestellt hatte. Lia beobachtete ihn kurz. Alexander Junior konnte sich die Hände schmutzig machen? Sieh mal einer an. Als Alex ihr zuzwinkerte, drehte sie sich ertappt um. Scheißtag. Scheißkerl. Scheißalles.
Schnell streifte sie ihre Jacke ab, wobei sie versuchte den Matsch nicht in ihren Haaren abzuschmieren, die wie durch ein Wunder noch in einem ordentlichen, dicken Zopf ihren Rücken hinabflossen. Ihren Körper überzog eine feine Gänsehaut, als die kühle Winterluft ihre nur von einem engen Kaschmirpullover bedeckte Haut traf. Aufmerksam checkte sie ihren Brustkorb. Der Schlag auf den Solarplexus hatte verdammt weh getan und sie hoffte wirklich, dass ihr Haut sich nicht in allen Farben des Regenbogen färben würde. Vorsichtig tastete sie den entstandenen Schaden ab.
Alex beobachtete Lia, die angestrengt auf ihre Brüste starrte und diese dann auch noch streichelte. „Maus? Falls ich helfen kann... sie sind noch da und sehen super aus." Er grinste, als sie zusammenzuckte und sich schnell seinen Pullover überzog.
Für einen Augenblick empfand er Bedauern, dass sie diesen Körper wieder einpackte, dann erinnerte er sich daran wer sie war. Die ungeküsste Maus, seine Zeit kaum wert. Oder?
Alex richtete den Stand tatsächlich so gut es ging wieder her. Er sah war nicht so schön aus, wie er es zu Beginn sicher getan hatte, war aber passabel.
Das sagte Lia ihm auch.
„Du bist ziemlich undankbar, Mausi", spöttelte er im Gegenzug. Er fand wirklich, dass er sein Bestes gegeben hatte und wollte Lob. Sofort.
„Könntest du richtig Motorrad fahren, müsste ich nicht undankbar sein." Ihre Stimme zitterte zwar, dennoch applaudierte sie sich innerlich dazu Contra gegeben zu haben. Irgendwie jedenfalls.
„Wenn du aufgepasst hättest, hätte ich dich nicht über den Haufen gefahren. Wie konntest du meine Maschine überhaupt überhören? Bist du taub? Oder hast du dich ins Mäuseland geträumt, wo es ganz leise ist, damit ihr eurer gegenseitiges Piepsen hören könnt?" Er lachte über seinen einfallsreichen Scherz und verschränkte die Arme vor der Brust, während er sie aufmerksam musterte.
Lia schloss kurz die Augen. Was hatte sie dem Typ eigentlich getan? „Du kannst jetzt gehen", wisperte sie und zählte mit zittrigen Fingern das Wechselgeld in die Kasse. „Deinen Pullover bringe ich morgen bei Alexander vorbei."
Stur starrte sie in die Kasse und würdigte ihn keines Blickes mehr.
Alex seufzte. Manchmal war sein Mund schneller als sein Verstand und er offenbarte sich als Idiot. Meistens hatte er das gut im Griff, aber heute sollte wohl nicht sein Glückstag sein.
Mit gesenktem Kopf entschuldigte er sich also.
Kurz überlegte sie, ob ihr Kopf inklusive ihres Gehörs bei dem Sturz doch mehr Schaden genommen hatte als gedacht, denn Alex gehörte wirklich nicht zu den Menschen, von denen sie je eine Entschuldigung erwartet hätte. Als ihr Herz dann noch einen kleinen Hüpfer machte, weil er sie mit gesenktem Kopf ansah und - leider - angrinste, hätte sie sich am liebsten möglichst fest gegen die Stirn geschlagen. Vor ein paar Jahren hätte sie ihre Seele verkauft, damit er sie einmal anlächelte. Heute schluckte sie hart und nickte dann, was sie augenblicklich bereute, denn das nun folgende, erleichterte Grinsen ließ sie beinah seufzen, so süß war es.
Schnell drehte sie erneut zur Kasse und begann von vorne mit der Zählung. Nur am Rande nahm sie wahr, dass Alex sich neben sie stellte und beobachtete.
Lia bemühte sich ruhig zu atmen und ihm nicht zu zeigen, wie sehr seine Nähe, seine Körperwärme und sein verdammter Geruch, der sie dank seines Pullovers umhüllte, aus der Bahn warf. Und gefiel. Verdammt, es gefiel ihr, dass er bei ihr war.
„Mausi?"
„Lia", sie hasste diesen dämlichen Spitznamen einfach so sehr.
„Lia", gab er nach, „was machst du hier? Ich dachte du studierst in Maastricht Biomedizin?"
Statt einer Antwort sah sie ihn mit hochgezogenen Brauen an. Woher zur Hölle wusste er das denn?
„Informationen reisen langsamer, als gehässige Gerüchte, aber sie kommen an." Er zwinkerte ihr zu.
Sie nickte. Das hatte sie in ihrem Leben schon oft genug erfahren müssen. Leider funktionierte der Funk nicht in die andere Richtung, weshalb sie fragen musste, um an Informationen zu kommen. „Und was hast du seit dem Abi getrieben?", fragte sie betont lässig.
„Es mit dieser und jener", antwortete er mit einem dreckigen Grinsen. Sie verdrehte die Augen. „Komm schon Mau...", er unterbrach sich, „Lia. Du hast mir die Vorlage geliefert, die konnte ich nicht liegen lassen."
Schnaubend schloss sie die Kasse und fummelte dann an den Gestecken herum.
„Entschuldige, Lia. Nicht dein Humor, oder?"
Als sie nicht reagierte, plapperte er weiter. „Ich studiere BWL. Dad will, dass ich unseren Hof übernehme." Er zuckte mit den Achseln. „Ich will aber nicht, weißt du, ich würde gern eine Weltreise machen. Mit dem Rucksack durch Asien oder so."
Lia musste zugeben, dass sie ihm gern zuhörte. Während sie recht einsilbig auf Fragen antwortete, erzählte er von den Ländern, die er schon erkundet hatte und denjenigen, die er für sein Leben gern besuchen wollen würde. Er war ein guter Erzähler, witzig, mitreißend. Sie wusste genau, warum er so beliebt gewesen war.
Die ersten Kunden kamen und Alex blieb bei ihr. Seine lockere, charmante Art sagte den Besuchern zu und er quatschte fast jedem zweiten Menschen irgendein Produkt auf. Sie musste neidlos anerkennen, dass sie das niemals geschafft hätte.
Als ihr Onkel schließlich aus dem Krankenhaus kam, war er sichtlich irritiert über Alex' Anwesenheit, reagierte jedoch lediglich mit hochgezogenen Brauen. „Er hat mich gerettet, Onkel Elias." „Das sehe ich", schmunzelnd musterte er den Männerpullover, der den Körper seiner Nichte umhüllte. Sie errötete tief.
„Kommst du einen Moment ohne mich aus? Dann würde ich eben nach Hause laufen und mich umziehen." Plötzlich war ihr die Tatsache, dass sie Alex' Pullover trug, unendlich unangenehm.
„Ich fahre dich," rief Alex sofort und ging zu seiner Maschine. Aus dem verborgenen Stauraum holte er einen Ersatzhelm und hielt ihn Lia entgegen.
Erschrocken schüttelte sie den Kopf.
„Komm schon. Es sind locker fünfzehn Minuten bis zu eurem alten Haus - da wohnst du doch sicher, solange du hier bist? Wenn du mit mir fährst, sind wir in den fünfzehn Minuten hin und zurück." Er grinste sie an. Sie nickte, schüttelte den Kopf. „Lia. Komm schon, Kleine. Hast du jemals etwas getan, was nicht völlig durchgeplant und eine Million Prozent sicher war?" Sie schnaubte. „Klar."
Alex grinste. „Dann macht es dir doch nichts aus aufzusteigen und dich von mir nach Hause fahren zu lassen oder?"
So plump seine Provokation war, so erfolgreich war sie. Außerdem dachte sie Daenerys nach, dass ihr erstes Mal auch ihr letztes sein könnte. Hastig griff sie nach dem Helm und stülpte ihn über ihren Kopf. Etwas unsicher stand sie neben dem Motorrad.
Alex saß auf. „Du musst dich hinter mich setzen." Zögerlich schwang sie ihr Bein über den hinteren Teil der Maschine, die Alex leicht schräg hielt, um es ihr einfacher zu machen. „Halt dich an mir fest."
Sie spürte wie das Blut ihre Wangen schon wieder tiefrot färbte und war dankbar, dass er sie nicht sehen konnte. Sacht legte sie ihre Hände auf seine Taille. So weit, so gut. „Du musst dich mit mir bewegen. Vorsichtig, ok?"
Dann startete Alex den Motor und vor Schreck rutschte sie näher an ihn heran, umschlang seinen Bauch - was hatte sie sich dabei gedacht? Ausgerechnet zu dem Kerl auf das Motorrad zu steigen, der sie vor wenigen Stunden noch über den Haufen gefahren hatte?
Als er losfuhr, war es ihr egal, was er von ihr dachte oder was sie gerade noch gedacht hatte. Ihr gingen die Nerven durch und sie presste ihren Körper an seinen Rücken. Angst war gar kein Ausdruck für das, was sie derzeit empfand. Sie kniff die Augen zu und versuchte den Bewegungen Alex' zu folgen.
Nach einer Ewigkeit - sie war sich sicher, dass Ewigkeiten sich so anfühlen würden wie ein Ritt auf dieser Höllenmaschine - schaltete sich das Ungetüm ab.
„Ich merke schon, du bist ein Fan," neckte er sie. Und obwohl sein spöttischer Ton sie zur Weißglut trieb, konnte sie ihren verkrampften Körper einfach nicht dazu bewegen loszulassen.
Als Alex ihre Angst bemerkte, fuhr er sanfter fort. „Lia? Ist alles ok?" Vorsichtig streichelte seine Hand über ihren Arm, der noch immer um seine Taille geschlungen war.
Wie von der Tarantel gestochen kletterte sie ungelenk und so, dass sie sich beinahe auf die Nase legte, von dem Motorrad. Im letzten Moment, bevor ihre Nase Bekanntschaft mit dem Kopfsteinpflaster vor ihrem Elternhaus machen konnte, fasste er sie unter dem Arm. Erneut tiefrot bedankte sie sich flüsternd und hastete ins Haus. Schnell schloss sie die Tür auf und hastete die Treppe hinauf. Je schneller sie sich umzog, desto schneller konnte Alex sie zurückbringen und endlich wieder allein lassen. Sie brauchte das jetzt einfach nicht. Ihn nicht.
Lia hatte nicht bemerkt, dass Alex ihr in ihr Elternhaus gefolgt war und stieß einen spitzen Schrei aus, als sie sich umdrehte und er in der Tür zu ihrem Zimmer stand. „Was machst du hier?", stotterte sie mehr, als dass sie flüssig sprach. Ihre verdammte Schüchternheit nervte sie so sehr. „Dachtest du ich warte draußen? Ehrlich jetzt, dazu bin ich viel zu neugierig." Er grinste sie an und sah sich neugierig im Zimmer um. „Es ist lange her, seit ich zum letzten Mal hier war." Kommentarlos suchte sie eine saubere Jeans und ihre alte Winterjacke. Seufzend trug sie die Hose ins Bad. Sie würde ihm nicht den Gefallen tun und auch nur eine Silbe zu ihrem furchtbar peinlichen Dreizehnten Geburtstag verlieren, an dem ihre Mutter alle Jugendlichen ihrer Klasse zu einer Überraschungsparty eingeladen hatte.
Als sie zurück in ihr Zimmer kam, saß Alex auf ihrem Bett, einen weißen A4 Bogen in der Hand. Dreimal gefalten. Hundertmal zerknüllt. Er sah auf und sie konnte in seinem fassungslosen Gesicht deutlich erkennen, dass er den Brief gelesen hatte. Sie hastete zu ihm, stolperte über ihre eigenen Füße - kein Wunder, wenn das Blut ständig in ihren Kopf schoss und ihre Extremitäten nicht versorgte - und fiel kopfüber auf Alex, der stöhnend auf dem Rücken landete. Seine Arme umfingen sie.
Einen Augenblick blieb Lia auf Alex liegen. Wenn sie nicht aufstand würde sie ihn nicht ansehen müssen, würde sich dem nicht stellen müssen.
„Kleine?", seine Stimme klang ungewohnt unsicher. Sie antwortete nicht. Bewegte sich nicht. „Ist es das, was ich vermute?" sie zwang sich tief Luft zu holen. Nickte kaum merklich. „Das ist scheiße." Wieder nickte sie. „Was sagt deine Tante dazu?"
Lia schluckte. „Nichts", wisperte sie. Niemand wusste von dem Testergebnis. Evozierte Potenziale konnten schon Hinweise auf krankheitstypische Nervenschäden geben, noch bevor sich die Multiple Sklerose mit Symptomen bemerkbar machte. Ihre Zahlen waren bescheiden. Ein Irrtum ausgeschlossen.
„Niemand weiß davon", fügte sie hinzu und kletterte von Alex herunter. „Und das bleibt auch so." Trotzig schob sie ihr Kinn vor. „Warum?"
„Jeder Mensch hat genug am Hals. Alle tragen ihre Päckchen. Ich will niemandem auf die Nerven gehen und keinem zur Last fallen." Sie ging zur Tür.
„Glaubst du denn nicht, dass deine Familie dir beistehen möchte? Dass sie für dich da sein möchten?" Sein sie musternden Augen trieben sie an den Rand des Ertragbaren.
„Komm jetzt, wir müssen zurück." Auffordernd sah sie ihm entgegen. Sah er denn nicht, wie ungern sie darüber sprach? Deshalb hatte sie es keinem erzählt. Sie hatte keine Lust auf Hoffnung, auf pep-talk, auf unnötiges Gerede, was man alles schaffen könnte, wenn man mir wollte. „Komm jetzt, Alex. Bitte." Sie hörte selber, dass sie quengelte. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt.
„Nö." Eine kurze Antwort, die keinen Widerspruch duldete.
Sie stürmte aus dem Zimmer, rannte die Treppen hinab und riss die Haustür auf. Sie stoppte, während sie das sanfte Weiß betrachtete, was sie umherwirbelnd begrüßte. Schnee. Sie liebte Schnee. Wie lange noch würde sie selbstständig über den zugefrorenen See hinter dem Hof ihrer Tante Eislaufen können? Wie lange noch würde sie dem Knirschen der frischen Schneedecke unter den Sohlen ihrer schweren Winterstiefel lauschen können? Wie lange noch würde sie eine Schneeballschlacht beginnen können, bevor man sie gewinnen ließ, weil sie krank war?
Frustriert schrie sie über ihre Schulter ins Haus hinein: „Dann gehe ich allein." Trotz ihrer bekundeten Absicht, bewegte sie sich keinen Zentimeter. Stattdessen betrachtete sie die Schneeflocken, die vor ihrem Gesicht tanzten. Schnee war ihr immer wie Feenstaub vorgekommen. Alles Gute geschah, wenn es schneite.
Sie spürte Alex mehr, als dass sie ihn hörte oder sah.
„Du musst nicht mehr allein gehen, ich gehe ab jetzt mit dir."
© SarKatSyn
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