✭ 11. Dezember ✭
Schneeengel
Mit schlürfenden Schritten entfernte ich mich von den vollen Straßen, von all den fröhlichen Gesichtern und strahlenden Kinderaugen.
Die holprige Gasse wurde dunkler, desto weiter ich ging, dem großen Eisentor entgegenkommend.
Mir viel auf, dass ich es noch nie geschlossen gesehen hatte...
Beißende Kälte schnitt mir ins Gesicht, welches wahrscheinlich düsterer aussah, als mancher Nachthimmel im Winter.
Die Luft war heute irgendwie anders, irgendwie feuchter, irgendwie schwerer.
Ich verkroch mich noch ein wenig tiefer in dem grauen Wintermantel, welchen sie mir
vor zwei Jahren geschenkt hatte.
Die ein oder andere Naht hatte sich zwar schon aufgetrennt, aber das war noch lange kein Grund den Mantel zu entsorgen, zu viel bedeutete mir dieses Kleidungsstück.
Manchmal war es nicht der dicke Stoff, der mir die nötige Wärme schenkte sondern die Erinnerungen, die ich mit ihm verband - Erinnerungen an sie...
Vor dem Tor kam ich zum Stehen. Ich atmete tief durch und spürte, wie mich die Dezemberkälte von innen auffraß. Ich ignorierte jedoch das Brennen und zog eine Hand aus der Manteltasche.
Sofort überkam mich eine eklige Gänsehaut, als meine Fingerspitzen die vereiste Türklinke berührten und an ihr zogen.
Ein leises Quietschen durchbrach die Stille der Nacht und signalisierte mir, dass ich anscheinend der einzige Mensch war, der sich zu dieser Tageszeit auf dem Friedhof befand.
Aus unerklärlichen Gründen wurde ich unruhig, berührte immer wieder das Feuerzeug in einer meiner Taschen. Vielleicht war es die Hoffnung, dass sie noch immer hier war, hier bei mir.
Selbst nach drei Jahren ohne sie viel mir das Lächeln noch immer schwer, denn sie war mein Sonnenschein, der mich selbst an den kältesten Tagen warm gehalten hatte.
Sie war es, die mir geholfen hatte zu verstehen, dass man jeden Moment im Leben schätzen sollte. Jede Sekunde mit ihr war ein Geschenk und dann ganz plötzlich war sie weg.
Meine müden Glieder trugen mich fast schon automatisch zu ihrem Grabstein, ein kleiner Marmorstein neben einem Blumenbeet.
Blumen waren zwar keine da, aber dafür stand eine Laterne daneben.
Vorsichtig kniete ich mich zu Boden und griff nach ihr, um die Kerze darin zu entzünden.
Der Docht begann zu glühen und eine kleine Flamme fing an zu tanzen. Ich beobachtete das kleine Feuer, welches trotz der Kälte weiterflackerte.
Ich stellte die Laterne vor den Stein, sodass Buchstaben und Ziffern sichtbar wurden.
Rachel Drew 1992 - 2017
Rachel, mein kleiner Engel...
Wie von alleine wanderte meine Hand zu ihrem Namen, mit dem Zeigefinger fuhr ich sanft über die Einkerbungen.
Der Moment kam mir ewig vor und so bemerkte ich nicht, wie sich eine Träne aus meinem Augenwinkel löste. Meine Hand sank zu Boden und mit einem Mal fühlte ich alles auf einmal.
Der tiefe Schmerz des Verlustes, die Trauer, aber auch Glück. Glück, dass ich Rachel kennenlernen durfte.
Ich würde alles dafür tun, um sie ein aller letztes Mal in den Arm nehmen zu können, mein Gesicht in ihrem Nacken zu vergraben und ihren süßlichen Vanilleduft zu riechen.
Ich schloss meine brennenden Augen. Ich atmete tief durch.
Vor mir sah ich ihr Gesicht, ihre warmen glänzenden Augen, ihre kleine Nase und ihr freches Grinsen, oh wie sehr ich ihr Grinsen vermisste...
Sie war anders als all die anderen. Sie hatte etwas, dass keiner hatte und ich wusste nicht, was es war aber immer, wenn sie bei mir war ging es mir gut. Ich fühlte mich komplett.
Aber genau dann, wenn man gerade über den Wolken schwebt kommt der Moment, an dem man abstürzt und wieder fällt. Zurück in das Loch, aus dem man einst mühsam herausgekrochen ist.
Ach Rachel...
Früher hatte ich Weihnachten geliebt, es war einfach die schönste Zeit im Jahr, kein Zweifel.
Aber das Schicksal hatte sich ausgerechnet für den Dezember entschieden.
Ich vermisse dich jeden Tag, aber immer wenn der erste Schnee des Jahres fällt fühlt es sich so an, als ob du nach Hause kommst.
Allerdings weiß ich, dass dein Zuhause nun woanders ist und ich bin immer noch hier, ohne dich.
Ich habe immer gehofft, dass du mir ein Zeichen schickst, irgendein Signal welches mir zeigt, dass du noch immer bei mir bist, denn geschneit hat es schon lange nicht mehr.
Meine Kehle schnürte sich immer enger, ich schluchzte leise in mich hinein. Weitere Tränen bahnten sich ihren Weg über meine Wangen.
Ich starrte noch immer auf den Stein, welchen ich nur verschwommen erkennen konnte.
Ich verlor mich in dem Moment doch plötzlich wanderten meine Augen zu der kleinen Laterne.
Die kleine Flamme, sie tanzte. Immer noch. Sie flackerte und bewegte sich hin und her, so als würde sie versuchen mit mir zu reden.
Ich wischte mir das Salzwasser aus dem Gesicht und beugte mich zu der Flamme.
Sie zuckte, wurde kleiner und wieder größer.
Und dann, ganz langsam, wurde ihr Licht schwächer bis es letztendlich ganz erlosch.
Dunkelheit erstreckte sich erneut über dem Friedhof.
Ich nahm es als Zeichen zu gehen, ignorierte bewusst den Blick auf die Uhr.
Ich raffte mich auf und schaute aus Routine hoch in den Himmel.
Ich hatte ein sattes Schwarz erwartet, doch stattdessen war der Himmel grau.
Geräuschlos flogen mir kleine weiße Flocken entgegen und bedeckten den Boden langsam mit einer weißen Schicht.
Ich stand einfach nur da, konnte mich nicht mehr rühren und schaute einfach nur nach oben.
Der Kloß in meinem Hals und sämtlicher Schmerz in meinem Körper lösten sich langsam.
Ich versuchte mich zu freuen, denn es schneite.
Rachel, es schneite...
© XstarcatcherX
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