✭ 1. Dezember ✭

Es ist drei Tage vor Heiligabend, also genau acht Jahre seit ich mir die Sporttasche unter den Arm geklemmt und aus meiner WG ausgezogen bin. Manchmal verfluche ich mich noch jetzt dafür, so etwas getan zu haben, aber wenn ich es mir recht überlege, hätte ich es niemals geschafft, dort auch nur ein einziges weiteres Jahr zu überleben.

Im Wetterbericht gestern hatte es gehiessen, der Schneefall würde für kurze Zeit ins Stoppen geraten, Autos bräuchten sich nicht vor erblindeten Autofahrer zu fürchten und Autofahrer nicht vor zugeschneiten Autos, jetzt sei der beste Zeitpunkt um zu den Eltern und Verwandten zu fahren, schliesslich sei die Fahrpiste keine Eisbahn. Entschuldigung, die Fahrbahn ist keine Eispiste. Oder ist auch das falsch? Ich kann mich nicht mehr so genau auf diese alberne Frage konzentrieren, denn jetzt geht die Bustür auf und kalte Luft schwappt herein. Ich verkrieche mich soweit es geht noch weiter in meiner riesigen Jacke und entferne mich ein Stück von der Tür. Da geht sie auch schon zu. Der Bus fährt weiter und die Landschaft fliegt an meinen Augen vorbei, graue Betonklötze und schillernde Glastürme, über den Strassenlampen hängen Lichterketten. Gleich bin ich da. Bei meiner alten WG. Bei Lukas, Renè und Sasha. Ich muss grinsen, auch wenn das albern aussehen muss.

Ein junger Mann in einer viel zu grossen Jacke, der eine Aktentasche umklammert als wäre sie an ihm festgewachsen und der Hut, der einem Zauberer viel besser gestanden hätte (um ehrlich zu sein, weiss ich nicht so ganz, wieso ich ihn überhaupt trage. Vielleicht, weil es Mamas Geschenk war, vielleicht auch weil ich es aus unerklärlichen Gründen liebe, aus der Menge herauszustechen. Und letzteres, sehr geehrte Damen und Herren, kommt einer geistlichen Behinderung gleich. Bloss nicht nachmachen). Und der einfach lächelt.

Die Seniorin mit der grossen Handtasche sieht mich missbilligend an, zieht die Tasche etwas enger an sich und entscheidet sich dann dazu, mir den Rücken zu kehren und der Betonwelt einen Viertel ihrer Aufmerksamkeit zu schenken. Der ganze Rest Aufmerksamkeit gehört wahrscheinlich mir, für den Fall, ich würde sie angreifen.

Der Bus hält weitere acht mal, bis ich endlich aussteigen kann, eine Station vor der Endstation. Der Weg ist von einer dünnen Schicht Schnee bedeckt und ich muss an die Tage und Wochen denken, in denen ich als Vorschulkind durch die schneeweissen Strassen getrippelt war, denn ich wollte den Schnee keinesfalls beschmutzen.

Weder mit Fussabdrücken noch dem bisschen Erde dass immer an meinen Schuhen haftete. Es ist so kalt, dass ich mir den Schal um die Nase wickle, aber wirklich viel macht das nicht aus. Ständig rutscht er runter und ein Stückchen Luft schafft es dann trotzdem, mir die Lunge einzufrieren. Ich laufe an einem Geschäft für Schuhe vorbei, dem Juwelier und sehe den Kiosk auftauchen, gut versteckt zwischen zwei riesigen Eichen.

Ab da an weiß ich, dass ich es etwas langsamer angehen kann, weil in der WG zu verschnaufen ist keine so gute Idee. Sasha zündet zu viele Duftkerzen an und diesen Tick hat er schon seit ich ihn das erste mal gesehen habe. Nur, dass ich es damals noch nicht gewusst habe. Sonst wäre ich ihm aus dem Weg gegangen, so viel steht fest.

Als ich schon fast am Kiosk vorbei bin und meinen Blick geradeaus auf die schicken Neubauten richte, die eigentlich bloss renovierte Häuser aus den neunzigerjahren sind, muss ich erneut Grinsen- diesmal versuche ich es allerdings nicht das kleinste bisschen zu verbergen. Lukas und Sasha stehen da, direkt vor dem Haus das auch früher mein Zuhause gewesen war, wild winkend und Lukas mit einem riesigen Stück Papier in der Hand, auf dem Happy Christmas, Christimas steht. Der grösste Nachteil, wenn man nicht einfach auf den Namen Tim oder Patrick getauft wird. Früher oder später macht sich jeder darüber lustig.

"Heeey", rufe ich ihnen zu und beginne dann zu rennen. Ich habe sie wirklich vermisst. Und das merke ich jetzt mit solcher Wucht, dass ich es sogar in Kauf nehme, in Anwesenheit von Duftkerzen verschnaufen zu müssen. Lachend fallen wir uns in die Arme, klatschen uns ab und laufen dann in gemächlichem Gang Richtung altes-Neubauten-Haus. "Wegen diesem Fetzen da", beginne ich und mache ein äusserst wichtiges Gesicht, "ihr wisst schon, dass wir erst in drei Tagen Weihnachten haben, oder?"

Sasha lacht und sieht Lukas mit einem Blick an, der mich irgendwie an Erdbeermarmelade erinnert.
Nein, nicht an Marmelade. An Spitzbuben. Lukas schüttelt bloss den Kopf und legt dann den Arm um meine Schultern. "Weisst du, Christian", sagt er, streng darauf bedacht genauso zu klingen wie ich vorhin, "wenn es um dich geht, Mausespatz, dann fangen wir mit Weihnachten schon Tage zuvor an. Sonst werden wir es nie schaffen, die Berge an Spitzbuben zu beseitigen, nicht wahr, Sashaschatz?"

Er verdrehte sich fast die Zunge am letzten Wort und muss dann selber darüber lachen, ohne Sasha und mich. Ich bin zu beschäftigt mit der Haustüre, die einen neuen Anstrich bekommen hat. Sieht komisch aus. Grau wie der Rest von der Stadt. Sasha tritt zu mir und schliesst die Tür auf, seinem Gesicht nach zu urteilen findet er die Sache mit dem "Sashaschatz" gar nicht witzig.

Die Treppen in diesem Haus habe ich schon immer gehasst, aber dieses Jahr hasse ich sie gleich zweimal so sehr. Sie winden sich um die eigene Achse, bestehen aus Stahl und riechen auf die gleiche Art metallisch wie Blut.

Dieses Jahr hat sich der Hauswart einen Spass daraus gemacht, das Geländer mit einer Ansammlung aus roten und goldenen Kerzen zu schmücken, zwischen denen sich Engel auf den Tannenzweigen tummeln. Lukas geht vor, Sasha ist hinter mir. Wahrscheinlich für den Fall, dass ich auf die Idee komme mich die Treppe runterzuwerfen.

Ein Sport, den ich vor beinahe sechs Jahren angefangen und erst durch Sashas Auffangkünste vor fünf Jahren beenden konnte. War natürlich ein Desaster, wenn er gerade nicht da war, aber dafür hatte es zu meiner Zeit hier einen kuschelweichen Teppich gehabt auf den Treppen.

Renè steht im Türeingang, grinsend, das rote Haare zerwuschelt und schulterlang, ein neuer Piercing im Gesicht und ein weiterer am Ohr. Wir sagen nichts zueinander, aber die Umarmung, in der ich fast erwürgt werde, sagt mir mehr als Worte es könnten. "Ich dich auch, Piercingweasley", murmle ich in seinen Hoodie und kassiere dafür einen freundschaftlichen Boxer von ihm. "Na los, rein mit euch", ruft er ins Treppenhaus und ich bekomme gerade so noch mit, wie Sasha sich mit Lukas darüber streitet, ob die Engel am Geländer auch als gestohlen gelten wenn man sie vom angestammten Platz wegnimmt und auf der eigenen Türklinke platziert.

René schüttelt fassungslos den Kopf, als er zu mir in die Küche kommt und uns beiden zwei riesige Tassen indischen Chai einschenkt, mit erschreckend viel Zucker und einem Schuss Milch mitdrin. Wieder keine Worte zwischen uns, aber wir sind sowieso immer selber Meinung. Da brauchen wir wirklich keine Worte zu verschwenden, wenn wir diese doch so gut für andere dinge gebrauchen können (für gar nichts zum Beispiel). Wir wissen schliesslich beide, wie unnötig diese Diskussion ist.

Es beginnt just dann zu schneien, als wir uns auf den Balkon setzen, entweder weil wir uns dort gegenseitig zerquetschen wollen oder weil es unser neues Ziel ist, als brandneues Tiefkühlprodukt im Lidl zu enden. Der Abend ist schön. Vielleicht sogar etwas zu perfekt, gekrönt mit den Pralinen, die laut Lukas belgische sind (kann ich ihm genauso wenig abkaufen wie Sasha und René) und der Katze, die neu im Haus ist und sich sofort in mein Herz schleicht. Es duftet nach Weihnachtsbaum und Kaffee, ein bisschen nach Schokolade und Kaminfeuer.
Es ist ein Abend, der sich drei Tage zu früh wie Weihnachten anfühlt, aber das heisst natürlich nicht, dass ich die Fensterscheibe nicht beschreiben darf.

Marry christmas, to all the losers and nerds on earth. You are loved.

© pieceofanapplepie

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